Czytaj książkę: «Die schönsten Wochen des Jahres»

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Für Marion. fly me to the moon

Zu diesem Buch

Horst Ter ist Schaffner bei der Bundesbahn und fährt seit vielen Jahren auf der Strecke Hamburg-Altona – Westerland. Als eines Tages dänische Freischärler die Bahnstrecke über den Hindenburgdamm sabotieren, um Sylt ins Königreich zurück zu holen, beginnt für den gehörnten deutschen Bundesbahner ein wahnwitziger Roadtrip an den bulgarischen »Ballermann«, um seine untreue Gattin mit möglichst vielen anderen Frauen zu betrügen - wenn Ordnung auf Chaos trifft. »Die schönsten Wochen des Jahres« ist eine ziemlich durchgeknallte Verwechslungskomödie, in der Schaffner Horst mit Mafioso Igor und Professor Bojidar gegen dänische Separatisten wie holländische Hotelmagnaten und für die Freundschaft kämpft. Gleichzeitig ist der Roman ein Aufruf an alle Zweifler, ihre Träume mutig Wirklichkeit werden zu lassen.

Zum Autor

Lars Bessel ist freiberuflicher Journalist und arbeitet als sogenannter cross-over Redakteur für Print, Radio, TV und Online. »Die schönsten Wochen des Jahres« ist sein viertes Buch nach einer Biografie über einen deutschen Holocaust-Überlebenden und dessen spektakuläre Flucht nach Schweden (»Der Bratschist«, 2013), den Alltag eines deutschen Amtsgerichtes (»Vom alltäglichen Scheitern« - mit Gerichtszeichnungen von Marion von Oppeln, 2017) sowie dem Künstlerbuch »No food for a lazy man«, einem Reisebericht aus Sierra Leone mit Aquarellen seiner Ehefrau Marion (2018). Lars Bessel ist zweifacher Vater und lebt im beschaulichen Itzehoe in Schleswig-Holstein. Der 1970 geborene Redakteur hat bereits für Radio und Fernsehen über die Balkan-Kriege sowie als landes- und bundespolitischer Korrespondent aus Kiel, Bonn und Berlin berichtet, seit einigen Jahren ist er vermehrt in Westafrika unterwegs. Sein größtes Hobby ist das Reisen.

Titelillustration: Marion von Oppeln

REISEN

Wenn Fähren fahren,

bahnen Bahnen Bahnen.

Ein Zug zieht dich fort aus dem Hier,

ein Schiff schafft dich weg aus dem Jetzt.

Raum und Zeit verschwinden in den Wellen,

alltägliche Sorgen verblassen auf dem Weg.

Reisen reißt – ein Loch in die Wirklichkeit.

Fahre mit und bahne dir deinen Weg.

Und wenn du mich liebst,

fahre ich mit.

Lars Bessel

Zug I

Zug I | Waggon 1

Der Regionalexpress 11002 von Hamburg nach Sylt sieht heute aus wie – Horst fehlen die Worte. »Das ist kein Zug, das ist eine Leichenschau«, flucht er leise vor sich hin, damit die Reisenden auf dem Bahnsteig neben ihm ihn nicht hören können. Lauter uralte Waggons, kreuz und quer durcheinandergewürfelt, die meisten von ihnen mit Graffiti beschmiert. Fast wäre Horst wieder nach Hause gegangen, hätte sich krank gemeldet, als »sein« Zug gegen viertel nach fünf Uhr auf Gleis sechs bereitgestellt wird und langsam an ihm vorbeirollt – aber »blau machen« kam für Horst noch nie in Frage, das gehört sich nicht. Es ist bereits hell. Jenseits der Bahnsteigüberdachung fallen Regentropfen ins Gleisbett. Nachdem die wenigen Passagiere, die meisten in T-Shirts und Shorts, eingestiegen sind, lässt Horst pünktlich um 5.29 Uhr abfahren.

»Sehr verehrte Fahrgäste der Regionalbahn Schleswig-Holstein, wir begrüßen Sie auf unserer Fahrt von Hamburg-Altona nach Westerland!« Horst klingt über die Zuglautsprecher wie immer, verzichtet auf einen Hinweis bezüglich der alten Waggons. Die unzählbaren Aufkleber an den Scheiben sprechen für sich. Mit launigen Sprüchen bittet die Marketingabteilung darauf um Verständnis für die »eingesetzten Fahrzeuge, die nicht dem gewohnten Standard entsprechen«.

Schnell hat Horst seinen ersten Kontrollgang erledigt, bis er am Ende des Zuges ein junges übernächtigtes Mädchen antrifft, das sich augenscheinlich deshalb so tief in seinen Sitz verkrochen hat, um übersehen zu werden.

»Die Fahrkarte, bitte«, sagt Horst.

»Ich habe keine«, antwortet die Kleine flüsternd.

»Wo wollen Sie hin?«, fragt Horst in strengem Ton nach.

»Nach Hause«, lautet die weinerliche Antwort.

»Und wo ist das?« Horst muss sich zusammenreißen. Wenn er etwas hasst, dann sind es Schwarzfahrer.

»Mein Freund hat mich betrogen!«, erklärt die Jugendliche nun unter Tränen ihre Situation. »Ich wollte ihn überraschen und bin gestern von Lunden nach Hamburg gefahren. Als ich bei ihm war, hat er mit einer anderen rumgemacht.«

»Also wollen Sie nach Lunden zurück«, fasst Horst die Situation zusammen. »Das macht 25,80 Euro! Oder haben Sie eine BahnCard?«

»Ich habe meinem Ex meine ganze Handtasche an den Kopf geknallt und bin weggerannt – und in der Handtasche war auch mein Portemonnaie«, schluchzt das Mädchen und zieht die Nase hoch. An die Scheiben des Abteils prasseln Regentropfen.

»Können Sie sich ausweisen?, fragt Horst unbeeindruckt nach. »Ansonsten muss ich Sie in Elmshorn der Bahnpolizei übergeben.«

Horst ist 43 Jahre alt, verheiratet und ein freundlicher Mann. Aber er hat seine Prinzipien. »Ohne Regeln würde das ganze Land im Chaos versinken«, hatte sein Großvater ihm schon als Kind eingeschärft.

Nachdem die Beamten der Bundespolizei die junge Frau von Horst übernommen haben, winkt der Lokführer kopfschüttelnd Horst heran. Der muss mit seinen 1,69 Meter deutlich nach oben gucken, um seinen Kollegen anschauen zu können.

»Musste das schon wieder sein?«, will der wissen.

»So sind nun einmal die Vorschriften!«, antwortet Horst knapp vom Bahnsteig aus, als verstünde er das Unverständnis seines Kollegen nicht. Es nieselt noch immer.

»Ich verstehe etwas ganz anderes nicht«, wechselt Horst kurzerhand das Thema. »Sind die ,da oben’ eigentlich völlig bescheuert? Ich kann so jedenfalls nicht arbeiten! Das ist Schrott, den du da hinter dir herziehst – und ich stehe mittendrin. Jede zweite Toilette funktioniert nicht, die Polster sind zum Teil zerfleddert, und dreckig ist das rollende Altmetall auch noch.«

»Ach, Horst, reg’ dich ab«, lautet die nun wenig emotionale Antwort aus dem Führerstand, »Hauptsache Geld sparen – das kennst du doch!«

Horst schaut auf seine Armbanduhr, nimmt seine Schaffnerkelle in die Hand, zeigt seinem Kollegen in der E-Lok neben ihm die grüne Seite und pustet einmal kräftig in seine Trillerpfeife. »Mann, Horst, was soll der Mist?«, will der von ihm wissen, und schüttelt sich den schrillen Pfeifton aus dem Mittelohr. Natürlich hätte Horst auch einfach sagen können, »dann gib mal wieder Gas«, aber Vorschrift ist Vorschrift. Langsam rollt der Zug an, Horst steigt in den ersten Waggon und durchstreift wieder sein Revier. »Noch jemand in Elmshorn zugestiegen? Die Fahrkarten, bitte!«

»Dieser Tag geht schief!« Das war das erste, was Horst heute morgen nach dem Aufwachen in den Sinn gekommen war, warum, wusste er nicht. Aber: »Dieser Tag geht schief!« Dabei ist es sein letzter Arbeitstag vor dem Sommerurlaub – zwei Wochen im Ferienhaus auf der dänischen Insel Rømø, zusammen mit Frau und Freunden. Sonne, Strand, Meer … Nicht, dass Horst sich sonderlich auf diese Art Urlaub freuen würde, aber er wurde nicht gefragt.

Wie jeden Morgen ist Horst heute pünktlich um vier Uhr aufgestanden, nachdem ihn der Wecker seines Mobiltelefons mit dem lauten Zischen einer Dampflokomotive geweckt hatte. Seine Ehefrau Gaby störte das nicht. Horst übernachtet seit zehn Jahren im Gästezimmer, »weil Horst schnarcht und immer so früh raus muss«, wie sie sagt. Anschließend hat er geduscht, sich die Zähne geputzt und mit Zahnseide die Zahnzwischenräume gereinigt. Danach hat er seine Uniform angezogen: Die sorgfältig aufgehängte dunkelblaue Stoffhose mit korrekter Bügelfalte und die auf Hochglanz polierten schwarzen Schuhe, dazu ein frisches hellblaues Hemd mit der leuchtend roten Krawatte und schließlich das dunkelblaue Jackett mit den drei roten Ärmelstreifen. Als er vor seinem großen »IKEA«-Spiegel die Krawatte zurechtrückte, huschte ein melancholisches Lächeln über sein Gesicht. »Das macht schon etwas her!«, hatte Gaby früher in diesem Moment gern gesagt.

Wie immer trank Horst noch ein Glas Milch mit Erdbeergeschmack, schmierte sich zwei Stullen Schwarzbrot, eine mit Wilstermarsch-Käse, eine mit Salami. Zusammen mit einer PET-Flasche Mineralwasser und einem Apfel aus dem »Alten Land« landete alles in seinem dunkelblauen DB-Rucksack. Bevor Horst sein Haus verließ, stellte er seiner Frau aber noch ein Frühstücksgedeck auf den Küchentisch und räumte sein schmutziges Geschirr in die Spülmaschine. Das Milchglas spülte er kurz aus, bevor er es in den oberen Schub stellte. Der kleine Teller kommt unten nach hinten links, das Messer in den Besteckkorb – und zwar vorne rechts – während der Milchlöffel vorne links seinen Platz hat. Dort stand wieder eine Gabel von Gaby, obwohl die Gabeln hinter die Messer auf die rechte Seite gehören … Horst nahm die Gabel und beförderte sie kopfschüttelnd an ihren korrekten Platz in der Spülmaschine.

Mit dem jahrelang geübten Griff nahm er seine Schaffnermütze von der Hutablage der Garderobe ohne hinzuschauen, setzte sie auf den Kopf mit den kurzen leicht ergrauten Haaren, schloss die Haustür auf und danach zweifach wieder zu. Mit dem alten Damenfahrrad seiner Frau ging es dann wie jeden Morgen aus der Reihenhaussiedlung in Schenefeld nach Altona zum Bahnhof. Trotz dieser ganzjährigen Bewegung spannte die neue Uniform schon wieder über dem unaufhaltsam wachsenden Bäuchlein, und die dunkelblaue Kunststoffbrille von »Fielmann« rutschte Horst wegen der kleinen Schweißtropfen langsam die schmale Nase herab.

Eineinhalb Stunden später. Es ist zwanzig Minuten nach sechs, als der Regionalexpress 11002 in den Bahnhof von Itzehoe einfährt. Neun Minuten zu spät! Die Übergabe der Schwarzfahrerin an die Bundespolizei hat Horst nicht nur endgültig die Laune verdorben, sondern auch seinen Zeitplan durcheinandergebracht. Mit etwas Glück können sie hier allerdings ein paar Minuten gut machen, da in Itzehoe planmäßig die Lokomotiven getauscht werden müssen. Ab hier gibt es nämlich keinen Strom mehr. Die Züge fahren wie früher zwar nicht mit Dampf, aber mit Diesel.

Während Horst sich auf dem tristen Bahnsteig die Beine vertritt, versucht er nach wie vor herauszufinden, warum ihn immer noch dieses merkwürdige Gefühl beschleicht, dass heute irgendetwas gründlich schief gehen wird. Alles ist wie immer, wie seit 13 Jahren, als er erstmals als Schaffner eingesetzt worden war. Selbst das Wetter ist wie immer im Sommer: mittelwarmer Nieselregen. Auch Schwarzfahrer bescheren ihm keine Magenschmerzen. Aber Horst hat Magenschmerzen. »Dieser Tag geht schief!«, wieso, weiß Horst nicht. Er weiß es instinktiv.

Der Zug rollt weiter, unaufhaltsam. Vielleicht sind auch wegen der trüben Aussichten, die erneut mit 120 Stundenkilometern an ihm vorbeiziehen, so wenige Menschen in seinem Zug, denkt Horst. Als es über den Nord-Ostsee-Kanal geht, kann er vor lauter Regengrau kaum ein Schiff ausmachen, und nun liegt schon Heide hinter ihnen. Da dort kein Fahrgast zugestiegen ist, braucht Horst keine Fahrkarten zu kontrollieren und legt stattdessen im abgetrennten Führerstand des rückwärtigen Triebwagens bis zum nächsten Halt in zehn Minuten die Füße hoch. Horst schließt die Augen und schläft sofort ein, das erste Mal in seiner inzwischen 24-jährigen Dienstzeit.

Zug I | Waggon 2

Es ist ein lauter Dreiklang, der im Zug ertönt, wenn der Lokführer etwas von seinem Zugbegleiter möchte. Dieser Klang riss Horst aus seinen Träumen. Er griff zum Hörer der Bordsprechanlage und fragte seinen Kollegen, warum er störe. Was der ihm zu sagen hatte, verschlug Horst die Sprache:

»Heute ist in Lunden Feierabend!«

Vor diesem Augenblick hatte sich Horst seit 13 Jahren gefürchtet – ein Totalausfall. Und dann fiel ihm wieder dieser Gedanke vom Morgen ein - »dieser Tag geht schief«. Jetzt hatte er die Bestätigung, wobei »schiefgehen« definitiv untertrieben war. Ausgerechnet im Bahnhof von Lunden sollte er stranden, wobei Horst das Wort Bahnsteig viel treffender findet. Lunden ist für ihn ein Kuh-Kaff mit drei Häusern und vier Spitzbuben. Horst hat keinen blassen Schimmer, warum sein Zug hier regelmäßig halten muss.

»Meine sehr verehrten Fahrgäste«, fing Horst mit zitternder Stimme an in sein Mikrofon zu sprechen, »aufgrund einer Störung auf dem Hindenburgdamm können wir unsere Fahrt nach Westerland leider auf unbestimmte Zeit nicht fortsetzen. Ich darf Sie daher alle bitten, den Zug an unserer nächsten Haltestelle in Lunden zu verlassen. Ein Busersatzverkehr wird derzeit für Sie eingerichtet. Ob die Fahrgäste, die bis nach Sylt möchten, heute tatsächlich noch auf die Insel gelangen können, kann ich Ihnen nicht sagen. Ein Kriseninterventionsteam der Deutschen Bahn ist bereits auf dem Weg nach Lunden und wird Ihnen vor Ort für all Ihre Fragen zur Verfügung stehen. Die Kollegen kümmern sich dann auch um gegebenenfalls notwendige Nachtquartiere, bis Sie Ihre Reise fortsetzen können. Ich bitte im Namen der Deutschen Bahn um Ihr Verständnis.«

Vom Lokführer wusste Horst nur, dass der Damm für Stunden gesperrt sein würde, den Rest seiner Ansage hatte er aus aus dem Kapitel »Notfälle« seines Bordhandbuches vorgetragen. Als der Regionalexpress 11002 in den Bahnhof einfuhr, musste die Lokomotive hinter dem Bahnsteigende halten, damit die Reisenden aus dem letzten Waggon gerade noch aussteigen konnten. Horst wartete einige Minuten, bis er durch den nahezu leeren Zug ging, um sich das Gemecker der Fahrgäste so gut es ging zu ersparen.

»Was ist denn los?«, wollte ein älteres Ehepaar verunsichert wissen.

»Ich kann es Ihnen im Moment leider noch nicht sagen«, antwortete Horst so freundlich es ihm möglich war, »bitte steigen Sie aus, alles Weitere erfahren Sie so schnell wie möglich. Immerhin hat es aufgehört zu regnen ...«

»Ey, Meister, wat ist dat denn schon wieder fürn Scheiß hier mit der Bahn?«, pöbelte ein junger Mann einen Waggon weiter. Horst ignorierte ihn. Nur zu gern hätte auch er gewußt, was los war.

Nachdem er die letzten Passagiere samt Gepäck auf den schmalen Bahnsteig geschickt hatte, ging er zurück in den rückwärtigen Führerstand und rief seinen zuständigen Fahrdienstleister vom Mobiltelefon aus an.

»Tatsache ist«, so der Fahrdienstleiter, »Ihr könnt nicht weiterfahren. Entweder ist irgendwas mit dem Gleisbett oder den Gleisen selbst. Bis morgen früh fährt mir keiner von Euch über den Damm. Punkt.«

Über die Hintergründe gab es bislang offenbar noch keine Fakten, aber genug Anlass für Spekulationen. So wußte Horsts Vorgesetzter zu berichten, dass Bahnmitarbeiter schon seit einigen Wochen immer wieder verdächtige Spuren entlang des Damms entdeckt hatten, von Fahrrädern und Bollerwagen zumeist. In der vergangenen Woche dann der Fund einer beschädigten Metallsäge und eines abgebrochenen Vorschlaghammers nahe des Gleisbettes. Satellitenaufnahmen der NASA und durch die Bundespolizei im Zuge ihrer grenznahen Schleierfahndung erstellten Wärmebildaufnahmen belegten zudem eine intensive Wanderbewegung zwischen dem dänischen Tønder und dem Damm. Die Antwort des Innenministeriums auf eine Kleine Anfrage der schleswig-holsteinischen FDP-Landtagsfraktion bezüglich staatsgefährdender Kontakte zwischen der AfD in Flensburg und dänischen Separatisten in Tønder stünde derweil noch aus.

Horst erinnerte sich plötzlich an einen Fernsehbericht von N24, wonach die »Dänische Volkspartei« die Rückgabe Sylts an Dänemark gefordert hatte, dafür jedoch auf deutscher Seite nur milde belächelt worden war. Tatsächlich war Sylt einst dänisch, gilt seit langem aber als ur-preußisch und wurde vor knapp 100 Jahren mit dem Hindenburgdamm ans Festland angeschlossen. Für alle teutonischen A-, B- und C-Promis, RTL II sowie Strandbudenbesitzer mit gekreuzten Schwertern und Fischbudenmagnaten ist eine Rückgabe an das nördliche Königreich deshalb ein völlig verwegener Gedanke. Bis heute.

Horst schaute auf sein Smartphone, strich den Startbildschirm nach rechts, um die »News« zu sehen, und wurde bombardiert – von »BILD« und »Focus«, »Spiegel online« und dem »Flensburger Tageblatt«:

»Dänische Separatisten sprengen Hindenburgdamm«

»Späte Rache am Reichskanzler«

»Bahnverkehr nach Sylt eingestellt«

»Berufspendlern droht teure Nacht unter Promis«

Und nun? Der Gegenzug aus Husum würde ihn wieder mit nach Hamburg nehmen, soviel war klar. Doch es war gerade erst halb acht. Weder hatte er eines seiner beiden Brote gegessen, noch den Apfel. Er würde viel zu früh wieder zuhause sein, ganz außerhalb des Fahrplanes.

Eine SMS seines Fahrdienstleisters gab ihm die nötige Struktur zurück: »Bitte zügig Erstattungsanträge an die Fahrgäste verteilen. Viel Glück!«

Als Horst den in zaghaftes Sonnenlicht getunkten Bahnsteig betrat, wurde er gelöchert mit Fragen:

»Wann geht es weiter?«

»Was ist passiert?«

»Wer zahlt mir meinen Verdienstausfall?«

Das war Horsts Stichwort.

»Meine sehr verehrten Damen und Herren«, versuchte er sich Gehör zu verschaffen, »selbstverständlich kommt die Deutsche Bahn für alle Unannehmlichkeiten auf. Bitte füllen Sie dazu einen Erstattungsantrag aus. Sofern meine Exemplare nicht ausreichen sollten, erhalten Sie weitere am Schalter im Bahnhofsgebäude.«

Die Antwort der Reisenden ging unter im Quietschen der Räder des aus Husum einlaufenden Gegenzuges. Horst war völlig verschwitzt und mit seinen Nerven am Ende. Ein Albtraum.

Zug I | Waggon 3

Noch nie hatte Horst so viele Menschen und Züge gleichzeitig in Lunden gesehen. Es herrschte das reinste Chaos. Als der Zug aus Husum einrollte, wäre es beinahe zur nächsten Katastrophe gekommen, weil sich ein Übertragungswagen des NDR kurzfristig auf dem Bahnübergang festgefahren hatte. Mit vereinten Kräften der zusehends aufgebrachten Fahrgäste gelang es jedoch, den LKW in einen Vorgarten zu schieben, wo die zehn Radio- und Fernsehredakteure, Kameraleute, Cutter, Tontechniker und Assistenten umgehend mit Kaffee und Kuchen der Anwohner versorgt wurden. Über der gespenstisch dunstigen Szenerie kreiste ein Hubschrauber von n-tv, der von einem weiteren der Polizei über dem Hindenburgdamm vertrieben worden war.

Unterdessen hatte der Dorfpolizist von Lunden alle Hände voll zu tun. Zwei Dutzend Autos standen kreuz und quer vor dem Bahnhof und erhielten nun vorschriftsmäßig Strafzettel für falsches Parken. Ein örtliches Abschleppunternehmen, das im Auftrag des ADAC tätig war, kam ihm zur Hilfe, um für einen Rettungswagen des Deutschen Roten Kreuzes Platz zu machen. Die Sanitäter wollten offensichtlich zu dem älteren Ehepaar, das Horst im Zug angesprochen hatte. Der Mann saß auf einem weißen Campingstuhl, der zu einem gerade öffnenden Imbisswagen gehörte, und fasste sich mit der rechten Hand an die Brust. Zusammen mit dem örtlichen Pastor traf auch ein Leichenwagen ein – sicher ist sicher.

Während Horst noch nach der Feuerwehr und dem Technischen Hilfswerk Ausschau hielt, hörte er zufällig das Gespräch zweier junger Männer mit an, der eine mit einem Fotoapparat ausgestattet, auf dem ein Aufkleber »dpa« klebte, der andere mit einer kleinen Videokamera, auf dessen Rücken schlicht »Presse« stand. Letzterer wusste offenbar mehr als alle anderen und berichtete von einem »Terror-Camp« der dänischen Separatisten auf Rømø.

»Ich war letzte Woche oben und habe sensationelle Aufnahmen gemacht«, erklärte der drahtige Mittzwanziger großspurig. »Die trainieren da fast direkt neben der Hauptstraße zum Strand richtigen Partisanenkampf, so mit Durch-den-Schlamm-Robben, Schützengräben ausheben und so weiter. Sogar einen der alten deutschen Bunker haben die reaktiviert. Der Anführer von denen nennt sich Snorre, und mit dem ist bestimmt nicht zu spaßen ...«

Horst hatte genug gehört. »Was für ein Blödsinn«, dachte er auf dem Weg zurück zum Bahnsteig. Er wusste ganz genau, von welcher Ecke der Möchte-gern-Investigator sprach. Immerhin verbrachte Horst zusammen mit Gaby und dem Nachbar-Pärchen schon seit zehn Jahren auf der Nordseeinsel den gemeinsamen Sommerurlaub. Rømø liegt nur 50 Kilometer hinter der deutsch-dänischen Grenze und direkt nördlich von Sylt. Vom Ferienhaus aus konnte Horst immer bestens auf die Heidelandschaft und die Dünen schauen. Auch die deutschen Bunker waren ihm wohl bekannt – aber Partisanen hatte er nie gesehen.

Nachdem er sich eines aufdringlichen Reporters von »Hallo Deutschland« nur mittels eines Regenschirmes hatte entziehen können (indem er ihn einfach aufspannte), saß er endlich wieder in gewohnter Umgebung – im hinteren Triebwagen der Regionalbahn auf dem Weg nach Süden. Außer Horst hatten auch einige seiner bisherigen Fahrgäste sich entschieden, in den Gegenzug aus Husum einzusteigen, um zurück nach Hamburg zu gelangen. Allerdings hatte Horst schon wieder Pech – statt in einem Zug der Deutschen Bahn, saß er in einem vom Konkurrenzunternehmen »Nord-Ostsee-Bahn« mitsamt eines sehr jungen wie gesprächigen Kollegen.

»Moin, ich heiße Lukas, ich fahre das erste Mal hier auf der Strecke, eigentlich wollte ich gern nach Sylt, da war ich noch nie, aber dann haben ja diese verdammten Terroristen den ganzen Damm in die Luft gejagt, weisst du wie viele Tote es gab, ich habe gehört, es hat einen ganzen Zug mit in die Nordsee geriss...«

»Lukas«, warf sich Horst dem Wortschwall entgegen, »ich habe gerade meinen Zug zurücklassen müssen – weisst du, was das für mich bedeutet? Vermutlich nicht, also halte einfach den Mund.«

Bis Itzehoe hielt der Schock an. Aber mit dem Wechsel von Diesel- auf E-Lok versuchte Lukas erneut, ein Gespräch zu beginnen:

»Wie heißt du eigentlich?«

»Horst.«

»Und wie alt bist du?«

»Ich bin 43.«

»Bist du verheiratet?«

»Ja.«

»Hast du Kinder?«

»Nein.«

»Wohnst du in Hamburg?«

»Nein.«

»Wie lange bist du schon bei unserem Verein?«

Nun wurde Horst hellhörig. »Ach, bist du auch bei den Modelleisenbahnern in Schenefeld Mitglied? Das ist ja toll, erst recht, wo du noch so jung bist! Ich habe dich noch nie bei einer Börse gesehen oder bei einem der Vereinsabende.« Horst war in seinem Element. Seine Augen strahlten plötzlich, und die herabhängenden Mundwinkel nahmen langsam, aber sicher die Form eines richtig freundlichen Lächelns an. »Also ich bin schon seit 20 Jahren dabei – und du? Ich habe eine riesige H0-Bahn im Keller, sechs Lokomotiven, davon zwei richtig wertvolle, und ...«

Diesmal war es Lukas, der sich dem Wortschwall von Horst entgegenwarf. »Ich glaube, du hast da ‘was falsch verstanden, Horst«, erklärte der junge Blonde mit fast angewidertem Gesichtsausdruck. »Ich spiele ganz bestimmt nicht mit einer Spielzeugeisenbahn! Ich mach’ Kickboxen. - Und jetzt sollte ich dringend noch einmal durch den Zug gehen, bevor alle schwarz nach Hamburg fahren«, lachte und war weg.

Horst fühlte sich etwas düpiert, aber er genoss die wieder eingekehrte Ruhe trotzdem. Es war mittlerweile zehn Uhr. Horst packte seine beiden Brote und den Apfel aus, dazu die PET-Flasche Wasser und zelebrierte sein ausserplanmäßiges Frühstück. Und obwohl alle Umstände dagegen sprachen, freute er sich auf Gaby, seine Ehefrau.

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ISBN:
9783748599180
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