Czytaj książkę: «Küstengold»

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Kurt Geisler

Küstengold

Kriminalroman

Zum Buch

Zwischen den Meeren August. Wie jeden Sommer hat sich Helge Stuhr in St. Peter-Ording erholt. Er lernt dort in vergnüglicher Runde Leute kennen, die im Energiehandel tätig sind und es mit der Wahrheit nicht so genau nehmen. Kommissar Hansen bittet seinen Freund Stuhr nach Rendsburg, um ihm den Tatort zu zeigen, an dem ein Abteilungsleiter der dortigen Stadtwerke von einem Windrad erschlagen wurde. Allerdings bekommt auch die Presse Wind von dem Mord. Schnell wird klar, dass der Tathergang nach dem gleichen Muster verlief wie zwei vorherige Morde an Mitarbeitern von Stadtwerken in Eckernförde und Kiel. Es stellt sich schnell heraus, dass der nächste Tatort die Neumünsteraner Stadtwerke sein könnten. Der windige Direktor der Stadtwerke hat aber ganz andere Sorgen, denn er will Gespräche mit einer russischen Energiefirma wegen der Übernahme führen. Stuhr findet eine heiße Spur, die in das Atomkraftwerk Brokdorf führt …

Kurt Geisler, geboren 1952 in Kiel, ist eingefleischter Schleswig-Holsteiner. Nach seinem Studium der englischen, dänischen und deutschen Sprache arbeitet er lange Zeit als Lehrer, bis er ins Bildungsministerium berufen wurde. Er lebt in der Landeshauptstadt. In seiner Freizeit fotografiert er gerne. Seine Bilder waren bereits in verschiedenen Ausstellungen zu sehen und haben seinen Blickwinkel für das literarische Schaffen geschärft. »Küstengold« ist sein dritter Kriminalroman um das ungewöhnliche Ermittlertrio.

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Friesenschnee (2011)

Bädersterben (2010)

Impressum

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Alle Rechte vorbehalten

3. Auflage 2017

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von Kurt Geisler

ISBN 978-3-8392-3938-4

Die Stunde Null

Genüsslich stemmte Stuhr sein Weizenbier zum Beginn seines Urlaubs gegen die Sonne. Endlich, er hatte es geschafft, dem geschäftigen Trubel in Kiel zu entkommen. Wie jeden Sommer hatte er auf gutes Wetter gelauert und sich für eine Woche in St. Peter-Ording an der Nordsee einquartiert. Er liebte an diesem mondänen Badeort die schönen Plätze zum Flanieren, die eleganten Hotels und das grüne, geschichtsträchtige Hinterland.

Auch dieses Jahr hatte er zur Erstbesteigung den Pfahlbau Arche Noah erwählt, um gleich am Ende der Seebrücke mit Blick auf den weitläufigen Strand vor St. Peter-Ording sein Einlaufbier zu genießen.

Seit dem letzten Jahr hatte sich allerdings manches verändert. Die Terrasse war jetzt riesengroß, neue Scheiben erlaubten eine weiträumigere Sicht, und vom Service herrschte nun auch hier das Feeling der berühmtesten Bretterbude der Republik, der Sansibar auf Sylt.

Das manifestierte sich selbst auf dem Bierdeckel mit den gekreuzten Säbeln: Sansibar Arche Noah.

Der erste Schluck in der jodhaltigen Luft der Nordsee war immer der schönste, und er beglückwünschte sich ausgiebig dazu. Schnell trat das wohlige Gefühl des Wegdösens bei ihm ein. Ja, er wollte in dieser Ferienwoche alles von sich fallen lassen und zu seinen inneren Wurzeln zurückkehren. Vielleicht würde er noch einmal ganz von vorn anfangen, nach all dem, was er im letzten Jahr erlebt hatte.

Mit Jenny. Ohne Jenny.

Stuhr lehnte sich entspannt auf seinem bequemen Liegestuhl zurück, um die Sonne in sein Antlitz einzusaugen. Das gelang auch einige Zeit, bis eine gepflegte schlanke weibliche Bedienung seine besinnliche Phase störte, um auf dem verwaisten Tisch neben ihm einen rötlichen Drink abzustellen. Dann öffnete sie eine Zigarettenschachtel Overstolz und zog drei Zigaretten hervor, um sie mit einem Reserviert-Schild abzustellen.

Overstolz, das war der klangvolle Name einer alten Marke. Stuhr konnte sich aus seiner Kindheit noch gut an die Werbung erinnern. Im Geschmack liegt der Genuss.

Nachdenklich widmete sich Stuhr wieder seinem Sonnenbad, bis ihn ein irritierendes Flackern störte. War ihm seine Erholung nicht vergönnt?

Stuhr blinzelte in die Sonne, aber erkennen konnte er nichts. Verärgert stand er auf, um die Lage besser einschätzen zu können. Nun verfolgte er, wie ein kleines brummendes Sportflugzeug unterhalb der Sonne ansetzte, um auf dem Sand vor dem Pfahlbau zu landen. Das würde kein leichtes Unterfangen sein, denn der Pilot konnte dazu nur den kleinen Sandstreifen nutzen, der nicht verschlammt, aber auch noch nicht ausgetrocknet war. Verboten war es vermutlich auch.

Die Badegäste, die sich auf diesem schmalen Streifen befanden, stoben in Panik schreiend auseinander, und dann ließ bereits das Dröhnen der wie eine lahme Ente absackenden Maschine die Windschutzscheiben der Terrasse erzittern.

Die blonde Bedienung schien ebenfalls Interesse an der Vorstellung gefunden zu haben. Gebannt verfolgte sie das Schauspiel.

Das Ende des Fluges gestaltete sich spektakulär. Beim Auslaufen geriet der Vogel in eine quer stehende Wasserrinne und steckte prompt die Nase in den Strand, wodurch der Propeller heftig den sandigen Untergrund aufwühlte, bis sich ein abgebrochener Luftschraubenflügel mit unerwarteter Wucht durch die aufschreienden Strandgänger in Richtung Nordsee verabschiedete. Schließlich blieb die Maschine mit hochgerecktem Heckflügel wie eine tauchende Ente im Untergrund stecken.

Lame Duck Approach, so würde das sicherlich sein ehemaliger Kollege Oberamtsrat Dreesen in seinem angeeigneten Fliegerlatein betiteln. Einige Strandgänger stöpselten sich die Finger in die Ohren, weil sie eine gewaltige Explosion befürchteten.

Die trat auch ein. Allerdings nur in der Form, dass ein groß gewachsener Mann die rechte Seitentür öffnete und leichtfüßig aus dem verunglückten Fluggerät sprang. Der Schaden schien ihn nicht weiter zu stören, denn er strebte hurtig auf den Pfahlbau zu.

Jetzt kraxelte auch der Bruchpilot auf der anderen Seite der verunglückten Maschine aus dem Cockpit und begann kopfschüttelnd den Zustand seines Fluggerätes zu inspizieren. Ein Blick auf den malträtierten Propeller verdeutlichte ihm, dass ein neuerlicher Start ausgeschlossen war.

Selbst schuld, sagte sich Stuhr und flößte sich genüsslich einen zweiten Schluck von seinem köstlichen Getränk ein.

Die Kellnerin seufzte und drehte sich weg, um sich wieder ihrem Tagesgeschäft zu widmen. Sie war eine bemerkenswert schöne Frau im mittleren Alter, die sich grazil durch die vollbesetzten Stuhl- und Tischreihen schlängelte. Ihre tiefe Bräune verdankte sie sicherlich ihrem Freiluftjob. Obwohl ihrem kurzen Rock und den gelben Lederstiefeln alle verstohlenen Blicke der männlichen Kundschaft auf der Sonnenterrasse galten, war zu vermuten, dass diese aufreizende Person nicht immer nur Glück im Leben mit den Männern hatte. Warum sollte sie sonst hier kellnern?

Stuhr schloss die Augen und genoss, dass die Sonne ihre bräunende Kraft endlich wieder auf seiner Haut entfalten konnte. So musste Urlaub schmecken.

Nur wenig später irritierte ihn ein Raunen, das über die Terrasse des Pfahlbaus wogte. Er öffnete die Augen. Der groß gewachsene Mann aus dem Flieger setzte sich am Nachbartisch nieder. Wie selbstverständlich langte er zu dem von der Bedienung zuvor servierten Drink und prostete Stuhr unerwartet zu.

»Gestatten. Mein Name ist Schneider. Elmar Schneider. Ich möchte Sie nicht weiter stören, aber nach so einer Bruchlandung muss man zunächst mal Dampf ablassen.«

Dann stürzte Schneider sein Getränk mit einem einzigen Zug herunter, bevor er sich auf die Overstolz-Packung stürzte. Er fingerte eine der filterlosen Zigaretten heraus und schob sie sich zwischen die Lippen. Anschließend hob er lässig seine Hand. Verlangte er nach Feuer für seine Zigarette?

Stuhr bezweifelte, dass in einer emanzipierten Gesellschaft wie auf der Arche Noah irgendein Mensch für eine Nachbestellung dieser Art in Bereitschaft stand.

Falsch vermutet, denn wenig später senkte die grazile Hand der Bedienung ein neues Getränk auf den Tisch seines Nachbarn. Anschließend wurde ihm sogar das verlangte Feuer gereicht. Dann entfernte die Kellnerin dezent das geleerte Glas.

Schneider unternahm einen neuen Anlauf.

»Verstehen Sie mich bitte nicht verkehrt, aber ich bin die ganze Woche in irgendwelchen Fliegern unterwegs. Ich bin Geschäftsmann und jette ständig zwischen Hongkong, New York, Rio und Tokio hin und her. Ich schaffe jeden Deal. Mein Spitzname ist V2.«

Schneider stürzte auch den zweiten Drink hinunter. Als er Stuhrs verdutzten Blick bemerkte, beeilte er sich, eine Erklärung hinterher zu schieben. »Nein, nicht die Vergeltungswaffe. Die Stunde Null. Sie wissen, der Song von Bowie.«

David Bowie? Klar, V2 Schneider, die Rückseite von ›Heroes‹. Stuhr hatte sich immer gefragt, was dieser Song bedeuten sollte. Jetzt saß diese Raketeninkarnation direkt neben ihm. Stuhr konnte sich seine Nachfrage nicht verkneifen.

»Und was treibt Sie an diesem beschaulichen Nachmittag auf den Sand vor St. Peter-Ording?«

Schneider inhalierte tief den Rauch seiner Overstolz, bevor er antwortete.

»Gute Frage. Natürlich ist es nicht die Ruhe, die mich hertreibt. Sie müssen wissen, durch meine Taschen fließt viel Geld, und ich investiere gern in vielversprechende Projekte. Selbst in dieser Region, und nicht nur in sichere Sachen. Ich bringe die richtigen Partner zusammen, das weiß man in St. Peter-Ording zu schätzen, und deswegen genieße ich einige Privilegien. Sie verstehen?«

Stuhr verstand natürlich nicht und überlegte, ob er nicht besser den Platz wechseln sollte. In diesem Moment wurde die Aufmerksamkeit aller Sonnenhungrigen auf der Terrasse des Pfahlbaus von der Sirene eines mit hoher Geschwindigkeit durch die Strandgänger kurvenden heraneilenden Polizeiwagens abgelenkt, der unweit der Arche Noah direkt beim Flugzeug stoppte.

Von seiner hohen Warte aus konnte Stuhr gut mitverfolgen, wie zwei Polizisten zum Bruchpiloten eilten, um ihn zur Rede zu stellen. Mithören konnte er aus der Distanz nicht, und so richtete er seine Frage an sein Gegenüber: »Geht es Ihnen jetzt an den Kragen? Oder wurde Ihnen auch dieses Privileg eingeräumt?«

Schneider grinste. »Sie meinen das Landen mit einem Fluggerät auf einem öffentlichen Strand? Nein, das ist seit den frühen 1970ern von den Behörden untersagt worden, und dieses Privileg konnte ich mir leider bisher vor Ort noch nicht erkaufen. Im Übrigen war es eine Notlandung wegen Problemen mit dem Höhenruder. So wird es jedenfalls im Flugbuch stehen. Mit dieser Ausrede können Sie allerdings auch die Golden Gate Bridge unterfliegen. Allerdings hat dieser Trottel von Pilot unterschätzt, wie weich der Sand in den Pfützen ist. Na ja, ich bin nicht umsonst gut versichert.«

Schneider war vor lauter Erzählen die Zigarettenglut erloschen. Er hob seine Zigarette in die Luft und ließ sich wiederum genüsslich von der Bedienung Feuer geben, bevor er auf Stuhrs erstaunten Gesichtsausdruck reagierte.

»Wundern Sie sich bitte nicht, dass mich die Kellnerin so freundlich bedient. Sie zeigt nur ihre Dankbarkeit. Ich habe sie erst am letzten Wochenende wieder vernascht, und es scheint ihr gefallen zu haben. Ein ordentliches Mädel, allerdings war es anfänglich ziemlich anstrengend mit ihr.«

Stuhrs Stirn kräuselte sich. Schneider schien das zu bemerken.

»Verstehen Sie mich bitte nicht verkehrt. Wissen Sie, ich komme gestresst mit praller Brieftasche und dicker Hose am Wochenende in Sankt Peter an, während die Bedienung jeden Tag auf der Terrasse wie auf einem Catwalk zwischen den Neureichen herumtingelt. Soll ich nach meiner anstrengenden Arbeitswoche auch noch nachts bei ihr den Supermann spielen? Nein, einen solchen Stress kann und will ich mir nicht erlauben. Ich habe ihr gesagt, wenn sie wirklich etwas von mir will, dann muss sie sich schon ein wenig anstrengen und ihren Unterkörper in Wallung bringen. Das hat sie auch irgendwann begriffen.«

So genau wollte Stuhr das eigentlich nicht wissen, aber Schneider setzte noch einen drauf.

»Aber es ist schon okay mit ihr. Sie ist ein geradliniges Mädchen, die Verena. Sie zog zwar ihr eigenes Ding durch, aber immerhin habe ich die Dame mehrfach zum Zappeln bekommen. Ist also kein Wunder, dass Verena mich heute so zuvorkommend bedient.«

Stuhr war fassungslos und drehte sich ungläubig weg. Einen solchen Chauvinisten hatte er schon seit zwei Jahrzehnten nicht mehr erlebt. Schneider musste einer von diesen Überfliegern sein, die wie Raketen hochschießen, von denen man aber nach dem Verglühen nicht einmal mehr die Aschenreste findet.

Diese Zeitgenossen verabscheute Stuhr. Aus welchem Grund sollte er sich Schneider länger antun?

Ein neues Getränk senkte sich auf Schneiders Tisch. Lustvoll ergriff er es und rückte mitsamt Stuhl näher.

»Sie sind ebenfalls ein attraktiver Mann. Den Stoßverkehr mit Damen dieser Preisklasse müssen Sie doch auch kennen. Oder etwa nicht?«

Stuhr zuckte desinteressiert mit den Schultern. Er liebte ja seine Jenny Muschelfang, wenngleich sie momentan seit langen Monaten nicht mehr zusammen waren. Das ging Schneider aber nichts an.

Der ließ aber nicht locker. »Verstehen sie mich bitte nicht verkehrt, aber die Damen fliegen nun einmal auf erfolgreiche Geschäftsleute wie mich. Ich habe mehr als ausreichend Kohle, zwei Porsche und einen eigenen Flieger.«

Stuhr konnte sich das gut vorstellen. Jede Nacht an einem anderen Hintern zu liegen, das mochte für viele männliche Geschlechtsgenossen von Schneider ein hehres Ziel sein. Stuhr dagegen sehnte sich nach einer Frau, mit der er es einfach gut aushalten konnte. Wie mit Jenny im letzten Sommer. Jetzt war sie weg.

Schneider musste Stuhrs Stimmungslage erfasst haben, weil er jetzt von seiner Euphorie herunterkam und auf ihn einging. »Sie machen einen traurigen Eindruck, als wenn sie verlassen worden sind. Aber was soll es? Es gibt genug andere. Die Frauen, die ich knacke, die haben alle ihre Reize. Aber kann einen das auf Dauer glücklich machen?« Er stürzte den nächsten Drink hinunter.

Die Antwort trieb Stuhr in Ratlosigkeit. Glück? Was ist schon Glück? Stuhr blickte tief in sein Weizenbier, um aus dem Schaumkranz eine Antwort herauszulesen. Es gelang ihm nicht.

Stuhr zuckte mit den Schultern. Dieser Schneider war ein imposanter Kerl und verströmte eine gewisse Geradlinigkeit, wenngleich ihm die Geschmacksrichtung nicht ganz passte. Immerhin war er fast so groß wie Stuhr, aber Schneiders Schultern wirkten noch ein wenig breiter. Sein gebräunter Teint war ausgesprochen gepflegt, und seine Kleidung von lässiger Eleganz. Stuhr schätzte ihn auf knapp 50, aber zehn Jahre mehr oder weniger würden seine Ausstrahlung kaum verändern. Er musste mehr als wohlhabend sein. Schon verständlich, dass sich attraktive Frauen wie die Bedienung von ihm angezogen fühlten.

Die Bedienung, die offenbar Verena hieß, stellte den nächsten Drink ab.

Schneider zog lustvoll an seiner Zigarette. »Ein guter Freund, der nicht enttäuscht.«

Stuhr verstand das nicht. »Sie spielen auf die Bedienung an?«

»Nein, auf meine Overstolz. Das ist ein alter Werbespruch der Kölner Unternehmerfamilie Overstolzen, stammt noch von vor dem Krieg. Das ist meine Zigarettenmarke und wird sie auch bleiben, solange ich nach Luft schnappen kann.«

Vorsichtig wagte Stuhr einen Einschub: »Die Bedienung. Ich meine Ihre Verena. Sie sind noch zusammen?«

Schneider nahm einen tiefen Zug, bevor er selbstgefällig räsonierte. »Mit Verena? Nein. Nur weil man ab und zu mal ein Glas Milch trinken möchte, muss man nicht gleich eine ganze Kuh kaufen. Schauen sie sich auf der Terrasse um. Es gibt viele schöne Frauen in Sankt Peter. Deswegen fliege ich hierher und nicht nach Holzkirchen oder Hammerfest.«

Vorsichtig fragte Stuhr nach. »Hat denn Ihre Verena kein Problem damit?«

Schneider sah ihn ungläubig an. »Verena? Warum, die lebt doch von Menschen wie mir. Was meinen Sie, warum sie mich so freundlich umgarnt? Die weiß genau, was sie will. Und was nicht.«

Schneider prostete ihm augenzwinkernd zu.

Stuhr musste aufpassen, dass er sich nicht verschluckte.

Mahlzeit

Dienstlich zu tun gab es in der Staatskanzlei heute nichts mehr. Selbstgefällig ordnete Oberamtsrat Dreesen seine Schreibutensilien entlang der oberen Schreibtischkante. Noch eine halbe Stunde, dann würde er an diesem sonnigen Freitagnachmittag ausstempeln. Er freute sich mächtig auf das Wochenende, denn am Sonntag würde er endlich wieder einmal in weiblicher Begleitung an der See entspannen.

Das Telefon schreckte ihn hoch. Wer wagte es, ihn am heiligen Freitagnachmittag noch anzurufen? Im Display erkannte er, dass ihn sein Kollege Brodersen aus dem Wirtschaftsministerium anrief. Erfreut nahm Dreesen den Hörer ab, denn ein kurzes Schwätzchen würde ihm die Wartezeit bis zum Ausstempeln verkürzen.

»Moin, Dreesen. Ist die Langeweile bei euch noch auszuhalten?«

Sofort brauste Dreesen auf: »Was soll das denn heißen? Ich habe eine stramme Woche hinter mir. Euren ganzen Mist wegen dieser unterirdischen Kohlendioxid-Lagerstätte habe ich abgeeselt. Vor so viel Verwaltungskunst müsste eure gesamte Abteilung auf Knien vor mir herumrutschen. Einschließlich eurem Obersack von Abteilungsleiter.«

Brodersen konnte in der Tat manchmal ein wenig querulatorisch sein, dann musste man ihn schnell mit einem harten Spruch zur Räson bringen. Aber ungerade war sein Kollege nicht. Natürlich hatte er den Nagel irgendwie auf den Kopf getroffen, denn den gesamten Wochenanfang war Dreesen von morgens bis abends auf seinem Bürosessel hin- und hergerutscht, um sich zu überlegen, wie er seinen sorgfältig geplanten Sonntagsausflug mit Jeanette Muschelfang sauber unter Dach und Fach bringen konnte. Er wollte ihr endlich das Du anbieten. Jenny. Das klang schon viel vertrauter als Jeanette und Sie.

Brodersen zeigte sich ausgesprochen milde. »Komm ’runter, Dreesen, so war das nicht gemeint. Mein Chef hat mir sogar zwei Gehirnschrauben in die Hand gedrückt. Soll ich als Dank für deine Verwaltungskunst mit dir zischen. Er musste leider schon weg. Wann haust du denn ab?«

»Halbig vier«, antwortete Dreesen unwirsch, denn er wusste genau, wohin Brodersens Abteilungsleiter entschwunden war. Er vergriff sich seit einiger Zeit an Dreesens ureigenstem Fleisch und Blut, an der Kollegin Schlenderhahn. Letzten Herbst hatte Dreesen noch den Finger an ihr gehabt, aber dann hatte Brodersens Abteilungsleiter unerwartet dazwischen gestochen. Jus primae noctis, hatte ihm Brodersen einmal augenzwinkernd beim Vorübergehen zugezischt. Das Recht der ersten Nacht. Sein anderer Spruch schmerzte ihn mehr: Ober sticht Unter. Nicht die Wortwahl tat weh, sondern die Machtlosigkeit gegen Brodersens Abteilungsleiter.

Brodersen weckte ihn aus den Gedanken. »Weißt du was? Ich komme schnell noch einmal in dein Büro zur offiziellen Dankesbekundung.«

Das kam Dreesen durchaus entgegen. Er willigte ein, denn ein neutraler Augenzeuge wie Brodersen wäre genau der Richtige, um seine Gegenantwort zu ›Ober sticht Unter‹ in Form von Jeanette Muschelfang in die Welt zu pusten.

Nur wenig später stand Brodersen mit zwei Piepern vor ihm, wie man im Norden die kleinen Miniatur-Schnapsflaschen nennt. »Küstennebel, Dreesen. Ist gut, den kann man nicht riechen. Mohltied.«

Dreesen konnte sich das Grinsen über den Trinkspruch nicht verkneifen, als wenn Brodersen einen Gruß zur Mahlzeit entbieten würde. Dreesen entgegnete mit seinem Klassiker: »Prostata.« Dann kippte er den Schnaps herunter. »Keine Angst, Brodersen, aus dir mache ich noch einen richtigen Verwaltungsbeamten.«

Sein Kollege aus dem Wirtschaftsministerium freute sich. »Eigentlich bin ich eher friedlich gesinnt, das sind ja nun wahrlich nicht alle bei uns in der Landesverwaltung. Aber ich bin von Geburt Kriegsjahrgang. Da hat man gelernt zu überleben.«

Auf den skeptischen Blick von Dreesen hin beeilte sich Brodersen, eine Ergänzung hinzuzufügen. »Baujahr 1953, Endzüge Koreakrieg.«

Dreesen musste lächeln. Brodersen war ein feiner Kollege, mit dem man viele Attacken gegen die Landesverwaltung ins Leere laufen lassen konnte. »Schon gut. Am Mittwoch habt ihr aber mit diesem Antrag zur Kohlendioxidlagerung im Meeresgrund der Nordsee einen Haufen stinkenden Unrat auf meinem Schreibtisch platziert. Wie kamt ihr auf die Idee, dass ausgerechnet ich diese hochkomplexe Antragsmaschinerie der Energiewirtschaft verwaltungstechnisch zum Stillstand bekommen würde?«

Brodersen zeigte sich ungeniert. »Wenn nicht du, Dreesen, wer denn sonst?«

Das Lob gab Dreesen umgehend zurück. »Das hättest du auch gekonnt. Da bin ich mir sicher.«

Brodersen wiegelte ab. »Früher musste ich immer die Schuhe von meinem großen Bruder tragen. Seitdem hatte ich nie mehr Lust, in den Schuhen eines anderen Mannes zu laufen. Ich bin meinen eigenen Weg gegangen und als Amtsrat bin ich nicht unzufrieden. Aber ich weiß, wie es ist, wenn einem Schuhe zu groß sind. Nein, das war schon Spitzenklasse, wie du diesen Vorgang abgewürgt hast.«

Zufrieden leerte Dreesen den Pieper.

Brodersen hakte nach. »Sag mal, warum hast du uns eigentlich geholfen? Du warst doch die ganze Zeit für eine Beteiligung am Projekt, und für meinen Chef wirst du aus bekannten Gründen wenig übrig haben.«

»Wegen Hesselbein«, zischte Dreesen voller Verachtung. »Der Karrieretyp, den sie mir nach dem Regierungswechsel vor die Nase gesetzt haben.«

»Hesselbein? Was hat der dir denn getan?« Brodersen wurde neugierig.

»Nun, ich habe das ganze letzte Jahr hart daran gearbeitet, dass ich an einem Projekt zur Errichtung einer unterirdischen CO2-Lagerstätte unter dem Watt mitarbeiten kann. Ich war deswegen mehrfach zu Vorbereitungstreffen in Berlin. Diese Sitzungen in dieser Bund-Länder-Arbeitsgruppe, die haben richtig was gebracht. Ganz anders als sonst.«

»Etwas gebracht? Die Mitarbeit in einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe? Das kann nicht dein Ernst sein, Dreesen.«

»Doch, doch. Du weißt, wie knapp ich nach der Scheidung von meiner Frau bin. Reisen kann ich mir seitdem ausschließlich dienstlich leisten. Mit den Kollegen in der Arbeitsgruppe habe ich deswegen endlos viele Aktivitäten in ganz Europa geplant. Da kann man mit dem erhöhten Auslandstagegeld richtig gut Urlaub machen.«

Brodersen wiegelte ab. »Und das hätte deine Hausspitze mitgemacht?«

Dreesen war sich sicher. »Klar, für den Ministerpräsidenten wären schließlich ebenfalls schöne Reisen abgefallen, weltweit übrigens. Man muss als Regierungschef gelegentlich dem Mief vor der Haustür entfliehen, um globalere Sichten entwickeln zu können.«

Große Worte von Dreesen, und deswegen setzte Brodersen interessiert nach. »Wo wart ihr denn überall auf dem Globus?«

Die Frage behagte Dreesen nicht, und so antwortete er unwirsch. »Nirgends.«

Auf den erstaunten Blick von Brodersen legte er nach. »Sie haben mir den Hesselbein vor die Nase gesetzt. Einer dieser jungen Überflieger mit dem richtigen Parteibuch. Dabei zeigt der Name doch schon, dass er bei uns nichts zu suchen hat.«

Dreesen war die Verachtung für Hesselbein deutlich anzumerken.

Brodersen konnte nicht folgen. »Was hat der Hesselbein damit zu tun?«

»Hesselbein hat ungetrübt von jeglicher Fachkenntnis angeordnet, dass in allen länderübergreifenden Gremien zukünftig nur noch Vertreter des Höheren Dienstes teilnehmen sollen. Damit das Land angemessen repräsentiert wird, hat er gesagt. Da war ich natürlich außen vor.«

»Und das hast du dir von einem Traubenlutscher aus Hessen gefallen lassen?« Jetzt wollte Brodersen die ganze Geschichte hören.

»Natürlich nicht«, entgegnete Dreesen. »So geht man mit einem norddeutschen Oberamtsrat nicht um. Ich musste notgedrungen Abwehrmaßnahmen ergreifen. So bin ich auf meine Art in den Landtag gezogen.« Dreesen grinste mit einer Selbstzufriedenheit, die nur gestandene Oberamtsräte empfinden können.

Brodersen konnte seine Neugier kaum zügeln. »Du hast mit den Landespolitikern geredet? Das wird dir aber schaden. Nun lass mich nicht so zappeln.«

»Nein. Ich bin zum Essen in die Kantine vom Landtag gegangen und habe mich immer an Tische gesetzt, an denen Abgeordnete in der Nähe saßen. Dann habe ich vor meinen Kollegen mit lauter Stimme beklagt, dass ich in meiner Bund-Länder-Arbeitsgruppe verlässlich erfahren habe, dass der Bund den ganzen Kohlendioxid-Dreck im Meeresgrund der Nordsee in Schleswig-Holstein lagern will. Alles bei uns.«

Brodersen verstand das nicht. »Und?«

Jetzt triumphierte Dreesen. »Da haben alle lange Ohren bekommen. Schließlich haben sich inzwischen überall an der Nordsee Bürgerinitiativen gegen die Kohlendioxid-Verklappung gebildet, und überall im Watt wehen Protestflaggen.«

Brodersen klappte die Kinnlade herunter. Nachdenklich fragte er nach: »Aber wenn der Hesselbein jetzt zur Bund-Länder-Arbeitsgruppe gehört, bekommt der doch mit, was du angezettelt hast.«

Dreesen schüttelte den Kopf. »Nö. Der Bund-Länder-Arbeitsgruppe habe ich einfach ohne Begründung schriftlich abgesagt.«

Brodersen schaute ihn fassungslos an.

Dreesen fuhr ungerührt fort. »Ich habe anschließend meine Kollegen in Berlin angerufen und Ihnen von den vielen Bürgerprotesten an der Westküste berichtet. Und dass unsere Politiker das Ziel haben, alle weiteren Aktivitäten der Arbeitsgruppe zu verhindern. Keine Reisen und so. Das haben die sofort begriffen. Schleswig-Holstein behält sich vor, selbst zu entscheiden, wann sie wieder an der Arbeitsgruppe teilnehmen wollen, haben sie vermerkt. Erstmal keine Einladungen mehr nach Schleswig-Holstein versenden, heißt das in der Verwaltungspraxis.«

Brodersen war die Sorge um Dreesen deutlich anzumerken. »Hesselbein wird vermutlich früher oder später über die Akten stolpern.«

Oberamtsrat Dreesen lächelte überlegen. »Nein, die Akten sind absolut sicher verwahrt. An einem Ort, wo sie niemand suchen oder finden wird. Rate mal.«

Brodersen fiel nichts ein.

Dreesen erlöste ihn. »In der Zentralregistratur, wo sie hingehören. Ein Labyrinth.«

Brodersen konnte seine Bewunderung nicht mehr zurückhalten. »Mensch, Dreesen. Du bist ein Ass. Du gehörst zu denen, die wirklich etwas im Land bewegen.«

»Wenn nicht ich, Brodersen, wer denn sonst?« Dreesen nickte selbstgefällig. Die Beerdigung der Bund-Länder-Arbeitsgruppe war ihm staubfrei gelungen. Es wäre ja auch noch schöner, wenn sich Hesselbein in sein gemachtes Nest gesetzt hätte.

Dreesens Gedanken schweiften wieder zu Jeanette ab. Gut, sie siezten sich noch. Seit fast einem Jahr. Stuhr hatte letzten Sommer einfach im falschen Moment dazwischengefunkt. Aber der war seit einiger Zeit glücklicherweise abgemeldet. Dreesen würde den nächsten Schritt zu einer engen Beziehung mit Jenny jetzt angehen. Ob es auf Dauer gut gehen würde?

Nachdenklich sah er seinen Kollegen an. »Sag mal, Brodersen. Bist du eigentlich glücklich?«

Sein Amtskollege war von dieser unerwarteten Anfrage überrascht, denn er wand sich wie ein Aal. »Mensch, Dreesen. Du kannst aber anspruchsvolle Fragen stellen. Kennst du einen einzigen Mann mit Frau und Kindern, der glücklich ist?«

»Nein, ich meine etwas anderes. Ich bin an einer faszinierenden Frau dran. Hamburger Geldadel, ausgesprochen gut aussehend. Sonntag geht es mit ihr gemeinsam an die Nordsee.«

Brodersen wiegelte ab, bevor er die Frage mit einer wegwerfenden Handbewegung abtat. »Na, erst einmal müsst ihr euch richtig kennen lernen. Nach zehn Jahren ist es dann egal, mit wem man zusammen ist. Das musst du doch noch von der Ehe mit deiner Olsch wissen.«

Dreesen hielt dagegen. »Du kannst Jeanette nicht einfach so mit meiner Alten vergleichen. Das ist eine ganz andere Preisklasse. Zudem verehre ich sie.«

»Deine Exfrau nicht?«

»Bist du verrückt, Brodersen? Meine Olsch hat mir nach der Scheidung finanziell dermaßen die Hosen ausgezogen, dass ich am Stock gehe. Nun kommt endlich wieder ein wenig Licht in mein Leben, und du machst mir das mies. Ein feiner Kumpel bist du. Hast du noch einen Pieper?«

Den hatte Brodersen. »Auf einem Bein kann man bekanntlich schlecht stehen, Dreesen.« Er griff in die Hosentasche, und dann wiederholte sich die Trinkzeremonie. Brodersen war neugierig. »Hast du ein Foto von dieser Jeanette?«

Tänzelnd holte Dreesen beschwingt den Fotoaufsteller von seinem Schreibtisch und übergab ihn seinem Kollegen. Das Foto zeigte Jeanette und ihn. Sie standen zwar noch getrennt auf beiden Seiten eines Dienstfahrzeugs, aber solche Beweise zählten in einer Behörde: Ehepartner, Geliebte, Scheidungen und Kinderglück, all dies ließ sich aus den Fotoaufstellern ablesen.

»Nicht schlecht«, brummelte Brodersen. »Die würde ich auch nicht von der Bettkante stoßen.«

Dreesen lachte laut auf. »Tut mir leid, aber bei Jeanette hättest du keine Chance.«

Brodersen ging darauf nicht ein. »Meine Frau ist schon in Ordnung. Sie kann gut kochen, ist reinlich. Als Beamter kann man sich eine Scheidung nicht leisten.«

Das Glucksen konnte sich Dreesen nicht verkneifen. »Ja, das weiß ich doch am besten. Aber ein wenig Abwechselung kann nicht schaden. Vielleicht habe ich auch etwas für dich. 30, 50, 80. Ist das nichts?«

Ungläubig musterte ihn Brodersen. »Ein Model für mich, oder wie meinst du das?«

Dreesen grinste. »Nein, kein Model, sondern eine gute Gelegenheit für dich. Ich meine das neue Teilzeitangebot, was die Landesregierung gerade ausheckt. Du musst 30 Dienstjahre auf dem Buckel haben und mindestens 50 Jahre alt sein. Dann bekommst du 80 Prozent der letzten Bezüge als Ruhegehalt.«

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