Czytaj książkę: «Auferstehung und Vollendung»
Kurt Anglet
Auferstehung und Vollendung
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© 2014 Echter Verlag GmbH
Umschlag: Peter Hellmund
ISBN 978-3-429-03683-6 (Print)
978-3-429-04746-7 (PDF)
978-3-429-06160-9 (e-Pub)
Inhalt
Vorwort: Geschichte und Vollendung im Licht der Offenbarung
Glaube und Kerygma
Geist und Glauben
Kreuz und Auferstehungswirklichkeit
Christusglaube und Offenbarung
Auferstehung Jesu Christi im Lichte der Prophetie
Vollendung im prophetischen Geist
Offenbarung und Vollendung
Gott – der ist und der war und der kommt
Literaturverzeichnis
Vorwort: Geschichte und Vollendung im Licht der Offenbarung
Die derzeitige Krise des christlichen Glaubens in der westlichen Welt ist weitgehend hausgemacht. Seine Erosion dürfte in zweiter Linie auf äußere gesellschaftliche Einflüsse zurückgehen; auf jenen Prozess, den man gemeinhin mit dem Stichwort »Säkularisierung« verbindet. Längst bevor jener Prozess das kirchliche Leben erfasste, ist ihm von namhaften Persönlichkeiten zumal der historischen Theologie der Boden bereitet worden. So attackierte etwa der als »Papst der Dogmengeschichte« gepriesene Adolf von Harnack den jungen Karl Barth nach einem Vortrag in Aarau im Jahre 1920, »dass dieser Vortrag einen Rückfall von der heutigen Forschung darstelle. Alles, was man heute so schön überwunden habe, worüber man in fortschrittlicher Ehrlichkeit hinausgekommen sei, werde hier wieder aufs Tapet gebracht: die christologischen Dogmen und sogar ›die Auferstehung des Fleisches‹! Solchen Traditionalismus müsse er, von Harnack, sich doch sehr verbitten.« [Wir kommen im Verlauf unserer Abhandlung auf die betreffende Episode zurück.]
Was unter »fortschrittlicher Ehrlichkeit« gemeint ist, erscheint nicht erst aus heutiger Sicht so obsolet wie nur noch was: Es handelt sich um nicht weniger als um das Weltbild des Historismus des neunzehnten Jahrhunderts, inklusive der Anschauungen der damaligen Naturwissenschaft; um ein Weltbild, das bereits damals – wir schreiben immerhin das zweite Jahr nach dem Ersten Weltkrieg – in Trümmern lag, um nur wenige Jahrzehnte später endgültig begraben zu werden, obwohl es nach wie vor durch eine sich als »fortschrittlich« gerierende zeitgenössische Theologie geistert, die von ihrer »Höhe« aus nicht allein auf die Auferstehung des Fleisches, sondern auf das Sühnopfer Christi, das Jüngste Gericht und manches mehr herabschaut. Dass »der Einstand von Moderne und Apokalypse« (Walter Benjamin) einen Wesenszug nicht allein der ästhetischen Moderne ausmacht, ist niemals in jene ihrer Zeit – dem Geist ihrer Zeit – verhafteten Gehirne eingedrungen, selbst wenn sich bereits im Jahre 1908 ein Karl Kraus in »Apokalypse (Offener Brief an das Publikum)« nicht zuletzt an ein Publikum wandte, dem selbst zehn Jahre später die Apokalypse als ein Buch mit sieben Siegeln erschien. Anstatt die Geschichte im Licht der »Offenbarung Jesu Christi« (vgl. Offb 1,1) – so der eigentliche Titel der sog. Johannesoffenbarung – zu deuten, erscheint die Offenbarung als Abfallprodukt einer vergangenen Epoche, das es – so die heutige Sprachregelung – zu »entsorgen« gilt, obwohl die eigene ihrem Untergang entgegenblickt: »Wir Kulturvölker, wir wissen jetzt, daß wir sterblich sind.« So beginnt ein so profan gesonnener Kopf wie Paul Valéry »Die Krise des Geistes. Essay« (hrsg. von H. Steiner, Wiesbaden o. J. [1956]); Anfang 1919 für die englische Zeitschrift ›The Athenaeum‹ geschrieben).
Doch unabhängig von der Einsicht in die Konstellation von Apokalypse und Moderne fällt auch in philologischer Hinsicht die Missachtung der überlieferten biblischen Texte auf, die den Zusammenhang von Auferstehung Christi und Vollendung sowie den Zusammenhang – wie auch den Unterschied – von alt- und neutestamentlicher Prophetie zur Geltung bringen. Der Verkennung ihrer messianischen und eschatologischen Ausrichtung entspricht die Verkennung ihrer pneumatologischen Fundierung durch den Geist der Prophetie, insofern sie nicht bloße historische oder literarische Dokumente (»Geschichten«) darstellen. Vielmehr leuchtet über alle Untergänge der Geschichte, ja über die Apokalypse hinweg das Licht der Erlösung auf, von dem zumal die neutestamentlichen Texte zeugen. Denn als lebendige Zeugnisse wollen sie gelesen werden, nicht als tote Dokumente einer fernen Vergangenheit. Philologie und Theologie der Texte müssen einander durchdringen, bilden Komplemente, anstatt einander abzulösen. Das ist das Anliegen dieser Abhandlung, der die Treue zum Text wichtiger ist als dessen historische Evaluation, die den Interpreten über den überlieferten Text stellt. Denn mag in unserem Zeitalter die Freiheit des Interpreten wichtiger erscheinen denn je, so steht sie nicht höher als das Zeugnis des Textes; oder nach einem Wort Alfred Delps: »am wichtigsten ist die ungebrochene Treue und die unverratene Anbetung.«
Ganz aus dem Geist solch »ungebrochener Treue« hat Erik Peterson, dem wir die Wiederentdeckung der eschatologischen Dimension des Neuen Testaments verdanken, einen radikalen Schnitt zwischen dem Historischen und Eschatologischen ziehen wollen. So heißt es in einem Tagebuch-Fragment vom Oktober 1954: »Wir müssen als Christen so leben, als ob das Historische nicht mehr da ist. Das war das Leben der Christenheit in der Vergangenheit. So leben, als ob die Geschichte der Welt schon vergangen ist, führt zum Hass dieser Welt. Das muss die Aufgabe der christlichen Verkündigung sein. Daher die Seligpreisung der Armen als eschatologischer Begriff, während doch nur die Reichen die ›Geschichte‹ machen« (AS 9/2, 424). Gewiss, aus der Perspektive der Erlösung lohnt es sich nicht, der Vergangenheit, der »Geschichte«, nachzutrauern. Gleichwohl überrascht an der Auffassung Petersons, von Haus aus immerhin habilitierter Religionshistoriker, der noch gegen Ende seines Lebens einschlägige historische Studien zu »Frühkirche, Judentum und Gnosis« (Freiburg i. Br. 1959) verfasste, nicht allein die Abkehr vom Historischen, das der Vergangenheit überantwortet wird (»So leben, als ob die Geschichte schon vergangen ist …«). Vielmehr hätte zumal ein eschatologisch gesonnener Denker, dem die Wiederkunft Christi am Herzen liegt, die Zeichen der Zeit zu deuten, wie ja Christus selbst seine Zeitgenossen herausfordert, es nicht bei Prognosen von bloßen Naturphänomenen zu belassen, sondern gewissermaßen das Messianische zu avisieren, das sich in den »Zeichen dieser Zeit« abzeichnet: »Ihr Heuchler! Das Aussehen der Erde und des Himmels könnt ihr deuten. Warum könnt ihr dann die Zeichen dieser Zeit nicht deuten?« (Lk 12,56). Die Konstellation von historischer und messianischer bzw. eschatologischer Zeit, von Jetztzeit und Endzeit zu bestimmen – das ist die Aufgabe von Theologie und Verkündigung; daher scheint sich nicht weniger an den heutigen Zeitgenossen die anschließende Frage Jesu zu richten: »Warum findet ihr nicht schon von selbst das rechte Urteil?« (Lk 12,57).
Denn selbst wenn die Geschichte im Sinne Hegels ganz zur Vergangenheit würde: »Alles wird zur Vergangenheit; wie eine Sandwüste erscheint das Leben; sie ist das Bewusstsein der Freiheit und Wahrheit« (vgl. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Bd. 3, 61) – so spielte sich das Leben der Christen nicht gleichsam in einem geschichtlich luftleeren Raum ab, wie auch der Messias unter der Herrschaft eines Augustus geboren wurde und unter Pontius Pilatus starb. Von einer Zeitenwende könnte keine Rede sein, wäre nicht der Einbruch der messianischen Zeit ins Historische auf dem Schauplatz der Geschichte erfolgt, auf dem sich die Ablösung der Mächte des alten Äons durch den neuen Äon in Christus, die Auflösung des Historischen ins Eschatologische vollzieht. Daher die Proklamation Jesu vor dem Hohen Rat auf die beschwörende Frage des Hohenpriesters hin, ob er der Messias, der Sohn Gottes sei: »Du hast es gesagt. Doch ich erkläre euch: Von jetzt an werdet ihr den Menschensohn zur Rechten der Macht sitzen und auf den Wolken des Himmels kommen sehen« (Mt 26,64; par Mk 14,62). Von jetzt an, also im Hinblick auf das Kreuz Christi, zeichnet sich die Konstellation von Jetztzeit und Endzeit, von Historischem und Messianischem ab. Weder fällt die Geschichte, wie man es seit Oscar Cullmann und Karl Löwith gerne hätte, gleich einer Nussschale in zwei Hälften: in Weltgeschichte und Heilsgeschichte bzw. Weltgeschichte und Heilsgeschehen auseinander, noch geschieht die »Offenbarung Jesu Christi« (vgl. Offb 1,1) jenseits von Kosmos und Weltgeschehen als vielmehr durch Kosmos (»auf den Wolken des Himmels«) und Geschichte hindurch. Mögen wir auch vor der Geschichte die Augen verschließen, uns einreden, sie wäre schon gewesen – zumal das letzte Buch der Bibel wie die anderen apokalyptischen Passagen des Neuen Testaments verweisen darauf, was uns bevorsteht. Die Geschichte im Lichte der Offenbarung deuten besagt nicht weniger, als sie im Zeichen des Kommenden – im Zeichen des im Kommen begriffenen Gottes zu begreifen.
Nun findet sich Petersons oben zitierte Schlussfolgerung am Ende einer Reflexion seiner »Fragmente« in den »Marginalien zur Theologie« aus dem Jahre 1956 wieder, wobei hier anstelle des Wortes »Geschichte« die »Reichen« apostrophiert ist (vgl. AS 2,145), auf die sich ja schließlich der »Hass dieser Welt« gegen Christus nicht beschränkt. Peterson stellt das eschatologische Opfer Jesu dem Verrat und Selbstmord des Judas gegenüber: »Das eschatologische Opfer Jesu auf Golgatha, das alle anderen Opfer ablöst, wird historisch durch zwei Tatsachen illustriert: durch die Vertreibung der Händler aus dem Tempel und durch die dreißig Silberlinge des Verrates des Judas. Das besagt, daß eine konkrete historische Dialektik, die von Geld und Opferblut, hinter dem Opfer von Golgatha steht. Daß die Hohenpriester das Opfer des Sohnes zu verhindern trachteten, war begreiflich. Brachten sie doch die blutigen Opfer im Tempel dar und glaubten sie, den Tempel vor dem retten zu können, welcher den Tempel zu zerstören drohte. Im Tempel aber befand sich das Geld. Von diesem Gelde gaben sie dreißig Silberlinge dem Verräter, der von dem Geheimnis Jesu wußte, er werde das eschatologische Opfer vollbringen, durch das die blutigen Opfer im Tempel und dieser selber überflüssig würden. Der Selbstmord des Judas ist durch die Angst vor dem Eschatologischen in Jesus bedingt. Vor die Wahl gestellt, entweder das Eschaton oder das Historische zu ergreifen, findet er nach dem Verrat keinen anderen Ausweg als den Selbstmord, von der Dialektik des Historischen und des Eschatologischen, des Geldes und des eschatologischen Blutopfers, zerrieben. Der Selbstmord des Judas war die äußerste Form des privaten Sich-Opferns gegenüber dem öffentlichen Opfer, das von Christus im Himmel dargebracht wurde« (AS 2,144).
Es fällt an diesen Zeilen die Gewaltsamkeit der Textauslegung Petersons, eines ansonsten äußerst subtilen Exegeten, auf. So wird das Opfer Jesu nicht im Himmel oder im Tempel, sondern auf Golgota – nach Cyrill von Jerusalem († 386) der Mittelpunkt der Erde – dargebracht, insofern er »außerhalb des Tores gelitten« hat (vgl. Hebr 13,13); erst durch dieses Opfer »ist er ein für allemal in das Heiligtum hineingegangen, nicht mit dem Blut von Böcken und Stieren, sondern mit seinem eigenen Blut, und so hat er eine ewige Erlösung bewirkt« (Hebr 9,12). Bezeichnenderweise reißt im Augenblick seines Todes »der Vorhang des Tempels von oben bis unten entzwei« (vgl. Mt 27,51; par Mk 15,38; Lk 23,45). – Zudem suchten die Hohenpriester sein Opfer ja nicht zu verhindern, sondern haben es geradezu forciert, gemäß dem Wort des Hohenpriesters Kajaphas, dass es besser sei, wenn ein einziger Mensch für das Volk sterbe, als wenn das ganze Volk zugrunde gehe: »Das sagte er nicht aus sich selbst; sondern weil er der Hohepriester jenes Jahres war, sagte er aus prophetischer Eingebung, dass Jesus für das Volk sterben werde« (Joh 11,51). Und wie Johannes hinzufügt: »Aber er sollte nicht nur für das Volk sterben, sondern auch um die versprengten Kinder Gottes wieder zu sammeln« (Joh 11,52). Ist doch der Logos dem Wortsinn nach der »Sammler«. – Außerdem stellte sich dem Judas nach seinem Verrat schwerlich eine Wahl zwischen dem Eschaton und dem Historischen, insofern er zuvor seine »Wahl« getroffen hat, mit der das Verhängnis seinen Lauf nimmt gemäß dem Worte Jesu über den Verräter: »Der Menschensohn muss zwar seinen Weg gehen, wie die Schrift über ihn sagt. Doch weh dem Menschen, durch den der Menschensohn verraten wird. Für ihn wäre es besser, wenn er nie geboren wäre« (Mt 26,24). Denn trotz der Reue, die Judas empfindet, da er »sah, dass Jesus zum Tod verurteilt war« (vgl. Mt 27,3), erkennt er nach seiner Zurückweisung durch die Hohenpriester und Ältesten keinen Weg der Umkehr: »Da warf er die Silberstücke in den Tempel; dann ging er weg und erhängte sich« (Mt 27,5). Nicht »durch die Angst vor dem Eschatologischen« in Jesus ist sein Selbstmord bedingt, sondern durch dessen Verkennung, die ihn zum Verrat trieb, um nicht das Schicksal Jesu zu teilen – und am Ende seine Vereinzelung, eine absolute menschliche Vereinzelung, konstatieren zu müssen: vor dem Tod und der Auferstehung Jesu Christi. Darin liegt die Ausweglosigkeit eines Lebens beschlossen, das um keine Erlösung durch das Kreuz, durch das eschatologische Opfer Christi weiß, sondern mit der Auslieferung eines »unschuldigen Menschen« (vgl. Mt 27,4) zugleich sich selbst der Gleichgültigkeit der historischen Mächte ausgeliefert sieht (vgl. ebd.: »Was geht uns das an? Das ist deine Sache«). Niemand kennt die Zahl der Verräter und Täter, der Denunzianten und Henker, die nach vollbrachter Tat im Laufe der Geschichte von den Mächtigen samt ihrer Schuld sich selbst überlassen wurden: Darin liegt die Dialektik des Historischen, der Selbstwiderspruch der Geschichte beschlossen, deren Machthaber ihre Helfershelfer mit Geld oder leeren Versprechungen abfinden, um sie am Ende an sich selbst Hand anlegen zu lassen, insofern sie nicht die Gleichgültigkeit ihrer Herren gegenüber den Opfern teilen.
Dass in Jesus Christus der Erlöser, der Menschensohn und Messias, selbst zum Opfer, ja zum Opferlamm geworden ist, ist alles andere als ein Zufall: Keine historische Zielsetzung, kein Weltfriedensreich, kein Reich der Freiheit oder Gerechtigkeit, wie man es seit dem Zeitalter der Aufklärung und des Deutschen Idealismus erträumt, führt am Opfer von Golgota vorbei, an das nicht allein das Zeugnis der Märtyrer, sondern jedes Opfer der Geschichte mahnt, mögen diejenigen, die Geschichte machen, auch alles daransetzen, die Blutspuren zu verwischen, die sie in der Geschichte hinterlassen, bis hin zur Liquidation der Henker als missliebige Zeitzeugen oder als potentielle Gefahr für die eigene Herrschaft. So überrascht es nicht, dass seit dem Zeitalter der Französischen Revolution alle Versuche, das Recht des Menschen mit Gewalt zu erkämpfen, in weitaus größeren Gewaltherrschaften endeten, als sie jeweils zuvor bestanden. Und auch die Versuche, auf friedlichem Wege, durch Handel und Wandel, zu einer Welt zu gelangen, die Unrecht und Elend kennt, hat sich nach der zweiten Jahrtausendwende als Illusion herausgestellt: Während die großen Industriestaaten in einem Schuldenmeer zu versinken drohen, kennt keiner die Millionen, wenn nicht Milliarden, die sich mit Not und Mühe buchstäblich über Wasser halten, um den Wohlstand der anderen zu sichern. Kein Vertreter der Theologie, die sich ohnehin seit geraumer Zeit durch eine auffallende Weltfrömmigkeit auszeichnet, vielmehr der Kulturhistoriker Niall Ferguson – laut The Times »der brillanteste Historiker seiner Generation« – hat in seinem monumentalen Werk The West and the Rest (2011) dem Schlusswort eine Betrachtung unter dem Titel vorangestellt: »Naht das Ende aller Tage?«
Nicht Ziel, sondern Ende – ist doch alles Historische schon seinem Begriff nach auf seine Zeit beschränkt, vermag den epochalen Rahmen nicht zu überschreiten, das Saeculum, in dem es steht bzw. in das es fällt. Mag der technologische Fortschritt in ungeahnte Dimensionen voranschreiten; ja mag es eine umfassende Völkerverständigung geben, wie sie die Vergangenheit nicht kannte, so ist der Menschheit nicht die Möglichkeit der Vollendung ihrer Geschichte gegeben, welche Ideale sie auch immer an den Himmel zeichnet. Entbehrt es schon nicht der Ironie, dass ausgerechnet ein Kulturhistoriker in unserer Zeit an die eschatologische Fragestellung mahnt, so nicht weniger, dass ein eher säkular gesonnener philosophischer Denker wie Walter Benjamin (1892–1940), dessen Gedanken bis zuletzt, bis zu seinen Aufzeichnungen »Über den Begriff der Geschichte«, seinem philosophischen Vermächtnis, um das Historische in seinen flüchtigsten Erscheinungen kreisen, zu Beginn seines »Theologisch-politischen Fragments« unmissverständlich konstatiert: »Erst der Messias selbst vollendet alles historische Geschehen, und zwar in dem Sinne, daß er dessen Beziehung auf das Messianische selbst erst erlöst, vollendet, schafft. Darum kann nichts Historisches von sich aus sich auf Messianisches beziehen wollen. Darum ist das Reich Gottes nicht das Telos der historischen Dynamis; es kann nicht zum Ziel gesetzt werden. Historisch gesehen ist es nicht Ziel, sondern Ende« (GS II.1, 203). Darum kann es keine historische Begründung von Erlösung und Vollendung geben. Ebenso wenig überzeugt es, sich – analog zu Kierkegaards »Sprung« – aus dem Historischen ins Eschatologische retten zu wollen, da das Eschatologische die Zeit der Vollendung wie die Vollendung der Zeit darstellt. Denn Ende ist das Messianische bzw. das Eschatologische nicht in dem Sinne, »als ob das Historische nicht mehr da ist« bzw. »als ob die Geschichte dieser Welt schon vergangen ist« – das nominalistische »als ob« bekennt die Fiktion ein. Ein Ende bezeichnet das Kommen des Reiches Gottes vielmehr im Sinne der Vollendung des historischen Geschehens, das ja nicht als bloße »Weltgeschichte« der messianischen bzw. eschatologischen Zeit vorausliegt, sondern über Antike, Mittelalter und Neuzeit, über die Moderne und Gegenwart hinaus bis auf den Jüngsten Tag in den Prozess der Vollendung einbezogen ist.
Klarer als jeder namhafte Theologe seiner Zeit hat das der zu Unrecht vergessene Georg Feuerer (1900–1940) zu »Christus und die Vollendungsordnung« auf den Punkt gebracht: »Die Vollendungsordnung steht nicht neben der Schöpfungs- und Erlösungsordnung, sondern, tiefer gesehen, ist sie nur die tiefste werdende Schicht all dieser bestehenden Ordnungen. In Christus ist ein werdender Prozeß der Vollendung entgegen« (Unsere Kirche im Kommen, 41). Ein Prozess, der mit seiner Vorverurteilung vor dem Hohen Rat (vgl. Mt 26,64; par Mk 14,62) seinen Ausgang nimmt, um in seiner Verurteilung durch den römischen Statthalter Pilatus besiegelt zu werden, durch dessen Urteil das Wort Jesu seine Bestätigung erfahren wird: »Jetzt wird Gericht gehalten über diese Welt; jetzt wird der Herrscher dieser Welt hinausgeworfen werden« (Joh 12,31). Wenn aber der Zusammenhang von Erlösungs- und Vollendungsordnung nicht mehr gesehen wird, dann wird auch die Konstellation von Jetztzeit und Endzeit nicht mehr erkannt, jener Prozess, der mit der Erhöhung Christi am Kreuz einsetzt und mit seiner Wiederkunft zum Abschluss, sprich: zum Urteil gelangt. Und genau an diesem Punkt steht die Theologie zu Beginn des dritten Jahrtausends.
Denn eines muss angesichts der Themenvielfalt der zeitgenössischen Theologie überraschen: Mit dem Jahr 2014 blicken wir hundert Jahre auf den Beginn des Ersten Weltkriegs zurück. Seitdem hat es nicht nur einen weiteren Weltkrieg gegeben, Massenmorde wie nie zuvor in der Geschichte, den Zusammenbruch des Sowjet-Kommunismus, Verwerfungen in der westlichen Welt – kurzum: eine Geschichte, die geradezu einem Auszug aus der Apokalypse entspricht. Und dennoch: Keine eschatologische Deutung der Moderne bis ins ausgehende zwanzigste Jahrhundert, mag die klassische Moderne zwischen 1900 und 1950 inzwischen auch der Vergangenheit angehören. So verwunderlich freilich scheint ihr Ausbleiben bei näherer Betrachtung nicht: Zum einen spielte die Eschatologie immer schon innerhalb der Theologie eine eher marginale Rolle; ein »fusseliges Zeugs« am Ende der Traktate, wie einmal der greise Jesuit und einstige Husserl-Schüler Wilhelm Klein (1889–1996) in einem Gespräch mit dem Verf. vermerkte. Dann hat die Historisierung der Theologie der urchristlichen Eschatologie weithin den Boden entzogen. Um einem Missverständnis vorzubeugen: Es soll hier nicht eine seriöse historische Forschung, zumal im Bereich der Kirchen- und Dogmengeschichte, in Abrede gestellt werden. Wird jedoch hier etwa der Auferstehungsglauben verneint, weil er nicht in das Weltbild des Historismus passt; findet also eine Reduktion der biblischen Überlieferung auf jenes vermeintlich moderne Weltbild statt, dann kann von Vollendung im Hinblick auf unser Zeitgeschehen gar nicht mehr die Rede sein. Mag man noch so viel über Gott oder über »das Wesen des Christentums« reden oder schreiben, von einer Offenbarung Gottes über die sog. Naherwartung der ersten Christen hinaus zu sprechen, entbehrt der Evidenz, wie auch der Gottesbegriff mehr von unserem historisch bedingten Verständnis, letzthin unserem eigenen Selbstverständnis abzuhängen scheint als von dem Gott der Offenbarung. Unmissverständlich hat das der atheistische Philosoph Emile M. Cioran in einem Tagebucheintrag vom 29. November 1959 seiner »Cahiers 1957–1972« zum Ausdruck gebracht: »Die historische Kultur hat alles gefälscht. Man stellt sich keine Fragen mehr nach Gott, sondern nach seinen Erscheinungsformen, nach der religiösen Sensibilität und Erfahrung, aber nicht mehr nach dem Gegenstand, der beide rechtfertigt« (ebd. 23). Mochte Cioran hierbei auch primär an einen rumänischen Jugendfreund, den bekannten Religionswissenschaftler Mircea Eliade, gedacht haben, so hat er mit seiner Einschätzung gleichwohl eine Tendenz unserer Zeit getroffen: aus dem Gott der Rechtfertigung ist ein Gott der Selbstrechtfertigung geworden. Nicht mehr Gottes Wesen und Wirken, gar Gottes Willen ist hinsichtlich der biblischen Überlieferung von Bedeutung, sondern der Wille ihres Interpreten, das Weltbild und der Wissensstand des Historikers, entsprechend der Sichtweise Rudolf Bultmanns [wir kommen auf sie gleich zurück], dass das Kerygma, also der Wahrheitsgehalt christlicher Verkündigung, stets neu wieder gefunden werden müsse.
Doch einmal abgesehen vom harschen Urteil Ciorans, eines Geschichtsverächters und eingefleischten Skeptikers, ist vom Historischen aus das Messianische und Eschatologische, Erlösung und Vollendung gar nicht zu bestimmen. Ablesbar ist das am Werk zweier moderner Denker, deren Gedanken buchstäblich bis zuletzt um den Begriff der Geschichte kreisen: Friedrich Nietzsches und Walter Benjamins. Obwohl sich bei letzterem wie bei keinem zweiten nichtchristlichen Denker Einsichten in zentrale theologische Sachverhalte finden, vermögen sie gewissermaßen nicht zu zünden; gleichen Blitzen, die für einen Augenblick das Wolkendunkel erhellen, um dann der Dunkelheit zu weichen. Denn solange unklar bleibt, wer der Messias ist, will eine eindeutige Differenzierung von Messianischem und Historischem, von historischer und messianischer bzw. eschatologischer Zeit nicht gelingen. So vermerkt Benjamin in einer Aufzeichnung unter ›Neue Thesen K‹ aus dem Umfeld der Thesen »Über den Begriff der Geschichte«: »Die Erlösung ist der limes des Fortschritts« (GS I.1, 1235). M. a. W., die Erlösung verflüchtigt sich zu einer asymptotischen Größe auf der Bahn eines entfesselten Fortschritts; unterliegt ebender historischen Dynamis, deren Ende das Reich Gottes dem »Theologisch-politischen Fragment« zufolge markieren sollte. Dabei ist sich Benjamin der Problematik solchen Fortschritts durchaus bewusst gewesen, wie eine Aufzeichnung zum »Passagen-Werk« verdeutlicht: »Der Glaube an den Fortschritt, an eine unendliche Perfektibilität – eine unendliche Aufgabe in der Moral – und die Vorstellung von der ewigen Wiederkehr sind komplementär. Es sind die unauflöslichen Antinomien, angesichts deren der dialektische Begriff der historischen Zeit zu entwickeln ist. Ihm gegenüber erscheint die Vorstellung von der ewigen Wiederkehr als eben der ›platte Rationalismus‹, als der der Fortschrittsglaube verrufen ist und dieser letztere der mythischen Denkweise ebenso angehörend wie die Vorstellung von der ewigen Wiederkehr« (GS V.1,178). Es sei nur mehr angemerkt, dass ein Rudolf Bultmann, der damals mit seinem Programm der Entmythologisierung Furore machte, nicht die leiseste Ahnung von jener »mythischen Denkweise« besaß, mit der Benjamin abzurechnen sucht. Und doch führt auch »der dialektische Begriff der historischen Zeit« nicht über »die unauflöslichen [!] Antinomien« von Fortschritts- und ewigem Wiederkunftsgedanken hinaus, dessen Aporie Benjamin zwar zu benennen, jedoch nicht aufzulösen vermag, weil genau in der Konstellation von technischem Fortschritt und der Unveränderlichkeit der Welt, ihrer faktischen Unerlöstheit die Dialektik des Historischen, der Selbstwiderspruch der Geschichte beschlossen liegt. Denn solange nicht über ihr das Licht der Offenbarung erstrahlt, bleibt der Weg ihrer Erlösung und Vollendung dunkel. Ja »das Messianische« erscheint nicht mehr als eine bloße Idee, während doch »der Messias selbst« alles historische Geschehen vollenden soll; ja in These VI »Über den Begriff der Geschichte« heißt es ausdrücklich: »Der Messias kommt ja nicht nur als der Erlöser; er kommt als der Überwinder des Antichrist« (GS I.1,695). Ohne seine Offenbarung aber verläuft das Eschatologische, also die Vollendung der Geschichte, im Sande der historischen Zeit, über die bei Benjamin letzthin nichts hinausführt.
Ebenso wenig bei Nietzsche, dem der Rückzug ins tragische Zeitalter der Griechen, hinter das Christentum und die metaphysische Grundlegung der menschlichen Vernunft bei Platon und Aristoteles, verstellt ist, um als »dionysische Wahrheit«, wie »die Mysterienlehre der Tragödie« seiner »Geburt der Tragödie« lautet, »das gesammte Bereich des Mythus als Symbolik ihrer Erkenntnisse« zu übernehmen (vgl. KGA III.1,69), gewissermaßen das Gegenprogramm zu Bultmann. Allerdings übernimmt sich dabei »die heraklesmässige Kraft der Musik« (vgl. ebd.) buchstäblich; muss doch Nietzsche nur wenig später – in einem nachgelassenen Fragment vom Winter 1872–73 – einräumen, dass es sich bei jener »Wahrheit« des tragischen Mythos in Wahrheit um den Eindruck handelte, »den eine Tristanaufführung im Sommer 1872 auf mich hervorbrachte« (KGA III.4,167). M. a. W., er datiert auf ein modernes Kunstprodukt, auf Wagners Musikdrama zurück. Nicht weniger artifiziell erweisen sich alle »Ursprungswahrheiten« unseres Zeitalters, so Heideggers Deutung des Seinsgeschehens aus dem Geist der Vorsokratiker: eine mehr als dürftige Bemäntelung des eigenen Abfalls von dem Einen Gott der Offenbarung, der bekanntlich neben sich keine anderen Götter duldet – auch keine Halbgötter. Heißt es doch in einem Gerichtspsalm (Ps 82,6–7):
»Wohl habe ich gesagt: Ihr seid Götter,
ihr alle seid Söhne des Höchsten.
Doch nun sollt ihr sterben wie Menschen,
sollt stürzen wie jeder der Fürsten.«
Nicht umsonst mahnt der heilige Johannes am Ende seines ersten Briefes: »Meine Kinder, hütet euch vor den Götzen!« (1 Joh 5,21). Denn es gehört zu den fatalsten Missverständnissen einer historistisch gestimmten Moderne, die Götzen allein in der Vorwelt des Mythos zu suchen, als dessen Relikte dann gar die wunderbare Geburt Jesu Christi, seine Auferstehung und Himmelfahrt durchschaut werden. »Es giebt mehr Götzen als Realitäten in der Welt: das ist mein ›böser Blick‹ für diese Welt, das ist auch mein ›böses Ohr‹ «, vermerkt Nietzsche im Vorwort zu seiner »Götzen-Dämmerung« (vgl. KGW VI.3,51). Sie steht neben Wagners Götterdämmerung, zu ihr sollte sich später die »Ergötterung« Heideggers hinzugesellen, der in seinem sog. zweiten Hauptwerk »Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis)« erklärt: »Von den Göttern her das seynsgeschichtliche Denken begreifen ist aber ›das selbe‹ wie der Versuch einer Wesensanzeige dieses Denkens vom Menschen aus« (ebd. 439). Genau diesen Versuch hat Nietzsche vollzogen, wenn er in dem besagten Vorwort vorab konstatiert: »Kein Ding geräth, an dem nicht der Übermuth seinen Theil hat. Das Zuviel von Kraft erst ist der Beweis der Kraft. – Eine Umwerthung aller Werthe, dies Fragezeichen so schwarz, so ungeheuer, dass es Schatten auf Den wirft, der es setzt – ein solches Schicksal von Aufgabe zwingt jeden Augenblick, in die Sonne zu laufen, einen schweren, allzu schwer gewordnen Ernst von sich zu schütteln. Jedes Mittel ist dazu recht, jeder ›Fall‹ ein Glücksfall. Vor Allem der Krieg. Der Krieg war immer die grosse Klugheit aller zu innerlich, zu tief gewordnen Geister; selbst in der Verwundung liegt noch Heilkraft.« In nichts anderem gründet eine Philosophie der Verblendung (»in die Sonne zu laufen«) oder wie Nietzsche abschließend zu verstehen gibt: »Diese kleine Schrift ist eine grosse Kriegserklärung« (vgl. ebd. 52). Und dass es Nietzsche damit durchaus ernst meint, geht aus dem Abschnitt 3 des Kapitels »Was ich den Alten verdanke« hervor: »In den Griechen ›schöne Seelen‹, ›goldene Mitten‹ und andre Vollkommenheiten auszuwittern, etwa an ihnen die Ruhe in der Grösse, die ideale Gesinnung, die hohe Einfalt bewundern – vor dieser ›hohen Einfalt‹, einer niaiserie allemande zuguterletzt, war ich durch den Psychologen behütet, den ich in mir trug. Ich sah ihren stärksten Instinkt, den Willen zur Macht, ich sah sie zittern vor der unbändigen Gewalt dieses Triebs, – ich sah alle ihre Institutionen wachsen aus Schutzmaassregeln, um sich vor einander gegen ihren inwendigen Explosivstoff sicher zu stellen. Die ungeheure Spannung im Innern entlud sich dann in furchtbarer und rücksichtsloser Feindschaft nach Aussen: die Stadtgemeinden zerfleischten sich unter einander, damit die Stadtbürger jeder einzelnen vor sich selber Ruhe fänden. Man hatte es nöthig stark zu sein: die Gefahr war in der Nähe –, sie lauerte überall. Die prachtvolle geschmeidige Leiblichkeit, der verwegene Realismus und Immoralismus, der dem Hellenen eignet, ist eine Noth, nicht eine ›Natur‹ gewesen. Er folgte erst, er war nicht von Anfang an da. Und mit Festen und Künsten wollte man nichts Andres als sich obenauf fühlen, sich obenauf zeigen: es sind Mittel, sich selber zu verherrlichen, unter Umständen vor sich Furcht zu machen … Die Griechen auf deutsche Manier nach ihren Philosophen beurtheilen, etwa die Biedermeierei der sokratischen Schulen zu Aufschlüssen darüber benutzen, was im Grunde hellenisch sei! … Die Philosophen sind ja die décadents des Griechenthums, die Gegenbewegung gegen den alten, den vornehmen Geschmack (– gegen den agonalen Instinkt, gegen die Polis, gegen den Werth der Rasse, gegen die Autorität des Herkommens)« (ebd. 151). Das ist Nietzsches wahres Gesicht – nicht das schönfärberische der gegenwärtigen akademischen Nietzsche-Rezeption: ein Gesicht, hinter dessen Griechenbild sich das Gesicht des Deutschen der wilhelminischen Ära verbirgt, mag Nietzsche selbst buchstäblich bis zuletzt Ressentiments gegen deren Repräsentanten und die Deutschtümelei seiner Zeitgenossen gehegt haben.