Czytaj książkę: «Tatort Märchenwald»
Rona Walter & Kristina Lohfeldt
Alte Märchen kriminalistisch erzählt
Edition Roter Drache
1. Auflage August 2017
Copyright © 2017 by Edition Roter Drache
Edition Roter Drache, Holger Kliemannel, Haufeld 1, 07407 Remda-Teichel.
edition@roterdrache.org; www.roterdrache.org
Titelbild- und Umschlaggestaltung: Milan Retzlaff, man-at-media.de
Satz: Holger Kliemannel
Illustrationen: Coro Line(z), www.cora-linez.de
Lektorat: Isa Theobald
Gesamtherstellung: Jelgvas tipografia
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2018
Alle Rechte vorbehalten.
Kein Teil dieses Buches darf in irgendeiner Form (auch auszugsweise) ohne die schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert, vervielfältigt oder verbreitet werden.
ISBN 978-3-944180-98-4
Cover
Titel
Impressum
Dornröschen Kristina Lohfeldt
Blaue Feen, rote Schuhe und weiße Königinnen
Herz aus Eis Rona Walter
Die siebte Nacht Kristina Lohfeldt
Die Fee in der Telefonzelle Rona Walter
Der letzte Sommer Kristina Lohfeldt
My Darkest Water Rona Walter
Aschenputtel Kristina Lohfeldt
Das tapfere Schneiderlein – Reloaded Rona Walter
Die rote Stunde Kristina Lohfeldt
Des Henkers Notizbuch II: Die blutroten Schuhe Rona Walter
Der letzte Märchenprinz Kristina Lohfeldt
Spieglein, Spieglein meiner Seele Rona Walter
Der Ruf des dunklen Eises Kristina Lohfeldt
Der blutige Bräutigam – The bloody Groom Rona Walter
Schneewittchen Kristina Lohfeldt
I wish, I wish … I wish! Kristina Lohfeldt
Glashaut und Erbsensuppe Kristina Lohfeldt & Rona Walter
Once Upon A Crime Rona Walter
Die Autorinnen
Es war einmal
vor langer Zeit,
ich weiß nicht welchen Landes,
ein Mädchen hohen Standes.
Prinzessin nennt man sowas wohl,
isst immer artig Rosenkohl,
ist selbst ganz appetitlich,
na, kurz gesagt, sehr niedlich.
Hat ihren Namen aber doch
vom Rosenstrauche – immer noch.
Und Eltern hat sie leider auch,
die wollen – wie es damals Brauch –
die Tochter früh vermählen
und können nicht verhehlen,
dass ihr Bestreben darin gründet,
dass nicht geschieht, was einst verkündet:
die böse Frau, die einst verfluchte
das Mägdelein, das gut betuchte.
Die Rachelust war nur entstanden,
weil Diener nur zwölf Teller fanden,
natürlich gülden, ist doch klar,
für Prunk sind Festbankette da.
Und ganz verständlich ist zudem,
dass dreizehn wäre unbequem,
denn Aberglauben schrieb man groß –
wie wurde man Frau Dreizehn los?
So reisten Ehrengäste an,
zwölf weise Frauen mittenmang,
und wünschten Glück dem Elternpaar,
verteilten Gaben wunderbar,
bis – dramaturgisch höchst korrekt –
nach schönster Handlung im Affekt
die Ausgeladene erschien –
das Festgewand nur ausgelieh’n –
doch auch geladen mit viel Wut,
was ihrem Teint nicht wirklich gut
gestanden, aber muss ja nicht,
denn sogleich erlosch das Licht,
denn auch Feuer weiß genau
wozu fähig ist die Frau.
„Kleine Hoheit, sollst einst sehen,
was mir heute hier geschehen.
Sollst dich an der Spindel stechen,
sterben und mich dadurch rächen,
der ein Stich im Herzen sitzt,
weil bei Hof ich abgeblitzt.“
Dieses Schweigen konnt‘ man hören,
darauf möcht‘ ich heut noch schwören!
Alle Gäste stumm erbleichten,
Wachen rasch den Saal erreichten.
Eine weise Frau dagegen
sah man flugs sich zu bewegen
auf die Wiege der Infantin,
machte sie sich zur Mandantin
und sprach dann auch allsogleich
jene Worte, segensreich:
„Kann den Fluch nicht einfach brechen,
doch die Pointe will ich schwächen,
statt zu sterben wird sie dösen,
bis ein Prinz kommt, zu erlösen
und zu freien dieses Kind –
was der Prinzen Jobs heut sind.“
Seit dem Tage, liebe Leute,
weniges das Kind erfreute.
Denn sie wurde streng behütet,
das Geheimnis wohl gehütet.
Spitzes wurde schnell entbehrlich,
da dem Kinde zu gefährlich,
Allergie heißt sowas dann,
wenn man’s nicht erklären kann.
Allzuschnell kam dann der Tag,
der vordem im Dunkel lag.
Neugier trieb das dumme Kind
in den höchsten Turm geschwind.
Doch das Spiel wird Ernst sogleich,
da im ganzen Königreich
ein Insekt sich klug versteckte,
gierig sich den Rüssel leckte,
als Prinzesschen lieblich hold,
Lippen rot und Haar wie Gold,
in die Kammer ging zu gucken,
konnte eilig sich nicht ducken,
denn der Angriff überraschte –
Königsblut die Mücke naschte.
Hatte nur nichts vom Triumph,
denn sogleich fiel steif und stumpf
sie herab und Mädchen drauf,
da den Fluch nun nichts hielt auf.
Hundert Jahre sind vergangen,
Rosen um die Mauern ranken,
als ein Prinz auf lautem Ross,
Outfit Leder und von Boss,
ganz beherzt dem Schlosse naht,
müde von der langen Fahrt.
Parkt die Harley ganz behände
mit gekonnter heißer Wende.
In der Zeit von Harry Potter
sind die Prinzen heute hotter.
Reiseführer in der Linken,
kann er rechts ein Bierchen trinken,
schüttelt Kopf ob dieser Sagen,
keiner da, um nachzufragen.
So spaziert er mutig vor
auf das dornbestrüppte Tor.
Und – o Wunder! – diese Hecken
machen Platz dem jungen Recken.
Dieser wundert sich ein wenig,
dieser Kampf ist arg bequemlich!
Doch er wandert durch die Hallen,
wo – manch Forschern zum Gefallen –
Dutzende Skelette hausen,
fängt den Prinzen an zu grausen.
Tun noch das, was sie einst taten,
lesen, tanzen, spielen Karten,
halten aber die Bewegung –
Tote zeigen selten Regung.
Mit den Tieren ganz dasselbe;
ist vom Ei nicht grad das Gelbe
dieses Totsein, aber gut,
seh’n wir, was das Prinzlein tut.
Neugier treibt, wie einst die Kleine,
ihn zum höchsten Turm; alleine
ist ihm zwar ein wenig bange,
doch bald hält ihn bei der Stange
dieses Bild, das sich ihm bietet –
hätte ihn fast umgenietet.
Schau! Da schlummert unser Röschen,
unterm Kleid ahnt man ihr Möschen,
macht den Prinzen tierisch an,
da er Altes leiden kann.
Klappe! Schluss! Nun wird’s makaber –
als Erklärung sag ich aber:
Viele Märchen grausam sind,
deshalb liebt sie jedes Kind.
Als wir noch klein waren, fürchteten wir uns vor den Teufeln und Alten Weibern in den Märchensammlungen von Hauff, Andersen, Bechstein und den berüchtigten Gebrüdern Grimm. Wir hielten die Prinzessin im Froschkönig für eine Tierquälerin, wenn sie ihren schleimigen Verehrer – zumindest im Originalmärchen – angewidert an die Wand warf, wir glaubten noch, der Böse Wolf in Rotkäppchen wollte ihr nicht wirklich Böses, und wir wussten, würden wir uns tief genug in einen Brunnen hinab beugen, fänden wir uns in einer anderen Welt wieder und tanzten mit verzauberten Prinzen durch die Nacht, welche doch gar keine echten Entführer waren.
Doch was viel wichtiger und uns oftmals gar nicht bewusst ist, dass diese Märchen eigentlich ganz andere Artverwandte haben: die Mythen der alten Griechen und Römer, die nordischen Sagen und die keltischen Legenden aus einer längst vergangenen Zeit, die vor Mord und Totschlag und Erpressung nur so strotzen. Sie und ihre Gräueltaten reichen weiter zurück als alle literarischen Formen. Das Märchen, was von dem mittelhochdeutschen Wort maere, also Bericht oder Kunde, abgeleitet wird, war in seiner Ursprungsform noch ein einfacher Prosatext. Ihre warnende Nachricht, doch tugendhaft zu sein, war für die Bauern und das sogenannte „niedere“ Landvolk unmissverständlich.
Gut und Böse werden im Märchen bis heute strikt getrennt. Helles Haar, goldene Kleidung, Rüstung oder Accessoire stehen für das Gute, eine dunkle, exzentrische Erscheinung für das Böse. Einzige Ausnahmen sind die hell gekleidete und oftmals hellhaarige Kindesentführerin Schneekönigin, und Schneewittchen und ihr rabenschwarzes Haar, obwohl „so schwarz wie Ebenholz“ im Originaltext einst auf die Augenfarbe der Ausnahmeprinzessin hinwies, die Adalbert Ludwig Grimm, ungeliebter Namensvetter der Brüder Grimm, Snäfrid/Shnevit nannte. Einige Urübersetzungen der Version der Gebrüder Grimm, welche auf der Geschichte der Grafentochter Margarete von Waldeck basierten, die ihrer mörderischen leiblichen Mutter ein Dorn im Auge war, bezeichneten Schneewittchen allerdings als „Snow Drop“.
Auch ist den Wenigsten bewusst, dass die heutigen Teufel und Engel, die Hexen und Erscheinungen eine christianisierte Version der Urmärchen sind, angepasst an die Zeit der Romantik. Drachen wurden damals zu Teufeln, Feenwesen transformierten zu ihren schwanengeflügelten Kusinen, den Engeln, das Alte Weib mutierte zur grausigen Hexe und ein Geistwesen wurde kurzerhand zu einer Erscheinung. In der Buchversion von Grimm's Fairy Tales im britischen Calla Verlag sehen wir noch die Illustrationen des bereits verstorbenen Künstlers Arthur Rackham, der noch Hutzelmännchen und Kobolde anstelle von Zwergen zeichnete, und uns den Drachen mit den drei goldenen Haaren, dessen Kopf im Schoß der entführten Jungfrau ruht, anstelle des Teufels mit den drei goldenen Haaren zeigt. Seine Zeichnungen sind inspiriert von den Urmärchen der Gebrüder Grimm. Diese christlicheren Versionen unserer Lieblingsverbrecher trugen allerdings in neueren Zeiten besser zum Verständnis des einfachen Volkes bei und waren auch ein offensichtlicherer Ohrenschmaus für die Amüsiergesellschaft, die sich Märchen über das lasterhafte einfache Volk zur Erheiterung vorlas.
Von den frühesten Ursprüngen des belehrenden Märchens über die japanischen Sagen mit all ihren Drachen, Hutzelweibern, wispernden Geistwesen und verwunschenen Prinzessinnen zu den romantischen, christlicheren Versionen im 19. Jahrhundert bis hin in die Moderne, veränderte das Märchen stetig sein Gesicht: aus dem mündlich überlieferten und anonymen Volksmärchen wurde das Kunstmärchen, dessen Autoren wie Hans Christian Andersen noch heute bekannt sind. Seine Nachricht an uns veränderte sich jedoch nie: sei tugendhaft!
Dem Bösen wird immer seine gerechte Strafe zuteil, und manchmal sogar, um hundertprozentig sicher zu gehen, der Tod. Dies ist auch heute noch in amerikanischen Thrillern und Kriminalromanen eine beliebte, endgültige Lösung für den Bösewicht. Denn stirbt dieser am Ende, löst sich die Gefahr, dass er vor Gericht freigesprochen wird, in beruhigendes Wohlgefallen auf. Die britischen Whodunnit hingegen nehmen ihre Killer gerne auch einfach fest. Doch eines ist meist unmissverständlich: Verbrechen lohnt nicht.
Auch was den geschlechtlichen Aspekt der Rollenverteilungen in den Märchen anbelangt, hat sich viel verändert. So wurde beispielsweise die weise Großmutter, reich an Lebenserfahrung und Einsicht, sehr stark in den Hintergrund gedrängt und war daher keine große Hilfestellung für das modernisierte leichtsinnige Rotkäppchen. Zwar gab es in der Literatur seit vorbabylonischer Zeit das Motiv der femme fatale, der dämonischen Verführerin in Gestalt der Eva, Delila, Helena, Pandora oder Circe, um nur einige zu nennen, aber in unserem Verständnis, geprägt z. B. durch die Bond-Filme, kennt das Urmärchen solcherlei Damen nur als eitle und böse Stiefmutter, die der Protagonistin, dem armen Opfer, das Leben schwer macht. Nur die alte Hexe lockte und war weit davon entfernt, auch körperlich zu verführen. Sie bestach eher mit Versprechungen und täuschenden Halbwahrheiten.
Dafür hat sich das männliche Prinzip im Wolf aka dem gefährlichen Verführer und im Ritter / Prinzen aka dem Helden / Kommissar hartnäckig gehalten. Ob in abstrakten Zeichnungen, Disneyfilmen, modernen Fotoshootings oder Gothic- und Horrorversionen, die Frau transformierte mit der Zeit immer mehr vom Opfer, das auf Rettung wartet, zur heldenhaften Kriminologin:
Schneewittchen kämpft in Neuverfilmungen eigenhändig gegen die Drahtzieherin des Mordes (Böse Königin). Rotkäppchen kämpft in neuen Versionen taff gegen den (Wer)Wolf im bösen Manne. Die zahlreichen Cinderella-Heldinnen nehmen ihr Schicksal – und ihr Happy End mit dem Prinzen – selbst in die Hand und besiegen die Intrigantinnen (Stiefmutter und Stiefschwestern) auf ganzer Linie. Hänsel & Gretel schlagen kräftig und nach bester Selbstjustiz-Manier gegen die Böse Hexe zurück, und erneut befreit die Schöne ihr Biest in zahlreichen Fernsehserien und neuen Verfilmungen scharfsinnig wie eine Detektivin von seinem Fluch.
Der nach Gerechtigkeit strebende Jägersmann wird in modernen Nacherzählungen immer häufiger von einer taffen, aber auch empfindsamen Jägerin ersetzt – eine durchaus spannende Neuinterpretation mit sehr modernem Hintergrund.
Jedoch dürfen wir nicht die vergessen, ohne die auch das spannendste Märchen langweilig wäre: die skrupellosen Schurken. Fabelhaft und nach wie vor modern ist unsere Lieblingsschurkin, die narzisstische und skrupellose Auftraggeberin für einen hinterhältigen Mord, die Böse Königin / Königin der Herzen / Böse Stiefmutter. Im Musical Into the Woods und der dazugehörigen Verfilmung begegnen wir vielen Märchenschurken, meist Grimm-basiert, auf einmal. Intriganten, Mörder, Lügner und Betrüger ziehen die Strippen, und wir lieben sie dafür.
Ob nun klassisch und verträumt aus Tschechien, imposant aus Frankreich oder modern und mit Power aus Hollywood, das Schauerliche, Humorvolle und Grausame hat sich aus dem Lehrreichen von einst gelöst, und zeigt uns immer öfter die wahren Gesichter der kriminellen Tales, die einer Vorabendserie würdig wären. Vom rechten Weg abkommen ist also unbedingt erwünscht.
Heute suchen wir in den archetypischen Situationen nach etwas Artverwandtem in den Krimimärchen. Wir suchen nach dem Bruder der Kriminologie: der Psychologie.
Was genau ruft diese Missetaten denn eigentlich hervor?
Der Ground Zero, Schneewittchen, bietet gleich eine ganze Menge solcher Symbole: den Tod der leiblichen Mutter (Vater/Tochter-Beziehung), eine neue Frau an Vaters Seite und das auch noch ziemlich hurtig (Stiefmutterkomplex), der magische Spiegel der Stiefmutter (Narzissmus), die mit dem Heranwachsen des Kindes ihr eigenes Altern deutlich aufgezeigt bekommt (Angst vor dem Verlust der Jugend), die sogenannte „Schönheit“ der Stieftochter, die allein durch deren Jugend und Frische hervorsticht, in einem Schloss, in dem sie lediglich von verhältnismäßig schmuddeligen Mägden umgeben ist (Neid), bis hin zum Extrem: dem Mordauftrag, der endgültigen Problembeseitigung. Die Nachricht hier ist eindeutig: Du darfst nicht schöner sein als ich (Störung des Selbstwertgefühles). Denn das ist in der Tat überlebenswichtig für die nicht mehr ganz junge, zweite (!) Ehefrau am fremden Hofe, die außer ihrer verblühenden Schönheit nichts mehr hat. Fühlen wir nicht zumindest ein bisschen mit ihr? Und was denken sich überhaupt die ledigen Zwerge beim Anblick des bewusst-/und wehrlosen Schneewittchens? Irgendeinen Grund muss es ja geben für den gläsernen Sarg.
In Rotkäppchen geht es um die klare Warnung vor gewalttätigen Männern und dem sturen Gehorsam: komme nicht vom rechten Weg ab, will heißen, nähere dich nicht dem Wolf / dem fremden Manne / dem Verführer! Im 1695 geschriebenen Urmärchen von Charles Perrault geht tatsächlich die Urangst vor dem damals erst aufgeflammten Werwolf-Mythos voraus, auch durch die Legende der Bestie von Gévaudan im Languedoc, einem Wolfswesen, das im Jahre 1764 etwa 100 Frauen und Mädchen riss.
Handelt es sich bei Schneeweißchen & Rosenrot um Schneewittchen und Rotkäppchen? Die Parallelen liegen tatsächlich in verschiedenen Versionen von dem weder verwandt noch verschwägerten Adalbert Ludwig Grimm, den Gebrüdern Grimm und Bechstein. Daher auch einst die Abwandlung von Schneeweißchen in Schneewittchen. Schizophrenie wäre hier wohl ein wunderbares Motiv, um die körperliche Gewalt und den versuchten Totschlag des Freiers in Bärengestalt zumindest ansatzweise zu rechtfertigen.
Wäre Carlo Collodis Pinocchio auch in unserer heutigen Zeit immer noch gern ein echter Junge? Oder würde der scharfe Blick eines Profilers den notorischen Lügner, der noch immer bei seinem Vater wohnt und sich Grillen hält, glatt wie ein Streichholz zerbrechen?
Die kleine Meerjungfrau fühlt sich hässlich und im falschen Körper geboren und überschreitet jegliche ethische Grenze, um ihrer Identitätskrise zu entkommen. Die Liebe zum Prinzen ist hier ein Mittel zum Zweck für eine sehr junge Frau im überlieferten Alter von gerade einmal 16 Jahren, die ihre eigene Schönheit nicht zu erkennen vermag, obwohl diese doch öffentlich von allen gepriesen wird. Ihre Ursprünge liegen hier jedoch bei der Geschichte um die Wassernymphe Undine oder Melusine. Sie verliebt sich in der antiken Version in einen sterblichen Fischersmann, tötet ihn versehentlich im Meer und wirft sich daraufhin selbst in die Fluten. Sie bittet als Buße darum, ein Fisch zu werden, doch da die See ihre Schönheit zumindest teilweise erhalten möchte, wird sie in eine Meerjungfrau verwandelt. Die kleine Seejungfrau, De lille Havfrue, The little Mermaid, ist zudem eines der sehr wenigen (Kunst)Märchen ohne Happy-End. Fast wie im wahren Leben also.
Der ewige Blutbräutigam Blaubart / Barbe Bleu hingegen gilt als radikaler Rächer für sich selbst, wenn es um das in den alten Märchen von Natur aus als neugierig geltende Frauenzimmer geht. Jede seiner Bräute darf 99 Zimmer in seinem Schloss mit den einhundert Räumen betreten. Öffnet sie jedoch die Tür, zu der ein kleiner, goldener Schlüssel gehört, ist sie sogleich des Todes. Wer, egal ob Mann oder Frau, würde dieser Versuchung widerstehen? Rechtfertigt Ungehorsam den Tod? Ist Blaubarts Mörderspiel mit den Damen fair? Ist das Blut, dass sich auf keinen Fall wieder abwaschen lässt, ein Synonym für eine miese Petze?
Wird das sture Mädchen in den Roten Schuhen nicht zu streng dafür bestraft, dass es unbedingt ein paar wunderschöne Schuhe haben möchte, wo es doch sonst nichts zu besitzen scheint? Auch wenn es deshalb egoistisch das finanzielle Wohl der Familie strapaziert? Und welche Schuld lädt der Richter im Originalmärchen auf sich, der sie – trotz ihrer eigenen Bitte – verstümmelt?
Ist der Magische Spiegel ein Blender oder hetzt er gar die Schönsten gegeneinander auf? Und überhaupt: wer steckt im Magischen Spiegel der Königin? Und wie kam er da hinein? Haben wir es hier mit Entführung zu tun? Oder ist der Magic Mirror einfach nur Magic? Nun, sicherlich war er der Drahtzieher des Ganzen.
Wie weit ist das Schicksal der schizophrenen Schwanenprinzessin in Darren Aronowskys moderner Schwanenseeversion Black Swan wirklich hergeholt? Finden wir etwa auch Parallelen dazu im Märchen Die sieben Schwäne? Hatte die Schwester wirklich sieben Brüder – oder keinen? Und war die Ursache für diese Identitätskrise ein familiäres Verbrechen? Denn Familiäres scheint in den Märchen wenig Positives zu bieten.
Und die Prinzessin auf der Erbse, ist sie tatsächlich eine Dramaqueen? Oder ist ihre Seele einfach nur viel zu zart und kultiviert für unsere egoistische, stets eilige Welt, die mobbt, ausgrenzt, verlacht und Depression für eine Ausrede für Dünnhäutige hält?
Und was sind die Motive für Malefiz, oder im Englischen Maleficent, die Dreizehnte Fee, ein unschuldiges Baby anstelle des unehrlichen Vaters zu verfluchen? Wie unfair ist ihr Racheakt tatsächlich?
Es lohnt sich immer, ein wenig über die alten und neuen Versionen der Märchen nachzudenken. Ob nun in christlichem oder in einem psychologischen Aspekt oder einfach als Leitfaden, bleibt jedem selbst überlassen. Wir alle hoffen und warten im Märchen doch nur auf das ersehnte Happily Ever After, wahre Liebe am besten mit Kuss, skrupellose Bösewichte, ein bisschen Terror und Horror, und dass die Träume der Helden wahr werden. Und natürlich ein ordentliches Verbrechen. Nein? Nun, vielleicht ja nach dieser Lektüre.