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Klaus Reichert

Die Leichtigkeit des Schweren

Lesen. Verstehen. Übersetzen

Literaturverlag Droschl

Vorbemerkung

Sprache ist ja auch eine Kunst, eine Poesie, d. h.

eine Darstellung, und umfassender als alle übrigen Künste. Sie involviert das Ideelle, Abstrakte der Plastik, das Mannigfaltige, Sinnliche der Malerei, das Anregende, Andeutende der Musik.1

1 Zitiert nach Wert und Ehre deutscher Sprache. In Zeugnissen herausgegeben von Hugo von Hofmannsthal, Verlag der Bremer Presse, München 1927, S. 118

(Goethe im Gespräch mit Riemer)

Wer noch das Glück hatte, als Kind Schönheit und Reichtum der deutschen Sprache in Märchen und Liedern zu erfahren, wird diese erste Liebe nie verraten – es war das einzige Paradies, aus dem ich nicht vertrieben werden konnte. Eine Kindheit ohne Radio und Fernsehen, ohne Kino und Schallplatten. Doch es waren Jahre im Krieg, Nächte im Luftschutzkeller, die brennenden Häuser, Leben in Ruinen, untergekommen bei filzigen Bauern, deren maulfaule Sprache ich nicht verstand. Unverloren, aus den Trümmern gerettet, blieb meine Sprache, die bald selbst gelesene und entdeckte, die Sprache der Psalmen Luthers oder der Lieder Paul Gerhardts in einer oberhessischen Dorfkirche nach dem Krieg.

Es kam dann, mit elf, das Gymnasium mit dem Erlernen einer ganz fremden Sprache, deren Satzbau und Wörter mit meiner nichts zu tun hatten und trotzdem zur ›Entstehung‹ der meinen nicht unerheblich beigetragen hatte. Meine Sprache war also nicht vom Himmel gefallen, nicht ›sakrosankt‹, und hatte sich aus dem Kreuzungspunkt verschiedener Handels-, Militär- und Kulturwege hybrid entwickelt. Mit dem Latein begann auch mein lebenslanges Übersetzen und die Einsicht, daß es ›eigentlich‹ nicht ging, weil sich allenfalls der Inhalt schlecht und recht herüberstümpern ließ, nicht aber die jeweilige Kunst der Sprache, Kunst des Schreibens, auf die es aber doch – bei Catull, bei Horaz – einzig ankam.

Das Griechische war noch fremder, aber zugleich formenreicher als das Lateinische. Es kostete Mühe, bis man die Alladinshöhle seiner Literatur betreten konnte, aber was war das dann für ein Leuchten und Funkeln seiner unermeßlichen Schätze. Homer, Sappho, die Tragiker, Platon, Thukydides – sie zu übersetzen war noch weniger möglich als die Römer, aber der stete Reiz war da, es dennoch zu versuchen. Ein nach vielen Anläufen aufgegebenes Chorlied zeigte zweierlei: die unerreichbare Kunst des Dichtens und die vielfältigen Möglichkeiten des Griechischen, die in einer anderen Sprache, meiner, nicht nachzubilden waren. Was ich damals aus fehlender Erfahrung nicht wissen konnte, aber aus Hölderlins Antigonae, die wir als Schüler im Stadttheater Gießen aufführten, hätte lernen können, war, daß die Verluste gutgeschrieben werden konnten durch die Möglichkeiten der eigenen Sprache, wie heikel das von Fall zu Fall auch sein mochte. Ich habe später die Übersetzung des als unübersetzbar geltenden, vielsprachigen Weltepos Finnegans Wake in ›alle‹ Sprachen mit dem Argument verteidigt, erst wenn es um die Möglichkeiten der anderen Sprachen ergänzt sei, sei es wirklich ›zu sich‹ gekommen.

Wie es mit meinem Bildungsgang weiterging, ist in den Vorlesungen dargelegt. Jede neue Sprache bedeutete eine neue Welt, veränderte aber auch den Blick auf die eigene. Warum haben die indoeuropäischen Sprachen ein differenziert ausgebautes Tempusgefüge, andere Sprachen – das Hebräische, das Chinesische – nicht? Warum liegt in ›unseren‹ Sprachen die Zukunft vor uns, die Vergangenheit hinter uns? (»Time hath, my lord, a wallet on his back, / Wherein he puts alms for oblivion.«) Im Hebräischen ist es umgekehrt. Das Vergangene liegt vor uns wie ein aufgeschlagenes Buch, in dem wir ja wieder und wieder lesen; die Zukunft ist das, was wir nicht kennen: sie sitzt uns im Nacken. Es erstaunt, daß sich diese Vorstellung bei Walter Benjamin wiederfindet. Zu einem Bild von Paul Klee, dem Angelus Novus, schreibt er: »Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. (…) Ein Sturm weht vom Paradiese her (…). Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst.«2

2 Walter Benjamin, Geschichtsphilosophische Thesen, IX

Beim Schreiben hatte ich oft die Neigung, mir zu überlegen, wie das wohl in einer anderen Sprache zu formulieren wäre und ob sich das nachbilden ließe. Von solchen Optionen habe ich manchmal profitiert – auch da war Hölderlin eine Fundgrube –, wie überhaupt die Schulung des Übersetzens mein Schreiben mitgeprägt hat. Ich machte dabei auch eine Entdeckung an der deutschen Sprache, die an den anderen Sprachen nicht zu machen war außer am Bibelhebräischen: ihre Konkretheit, ihre Anschaulichkeit, ihre sinnliche Vorstellbarkeit, auch bei Abstracta: Begriff, begreifen, Einbildungskraft, er-innern, Verdrängung, Verschiebung, Übertragung. Freud hat aus anschaulichen deutschen Wörtern eine ganze Wissenschaftssprache gewonnen, die in den Übersetzungen seiner Werke leider verlorenging (etwa Super-Ego für Über-Ich, empathy für Einfühlung, cathexis für Besetzung). In den romanischen Sprachen, auch im Englischen mit seinem normanno-französischen Substrat, und ihren lateinischen Wurzeln ging diese Konkretion verloren. Samuel Beckett las und liebte die deutsche Sprache eben wegen ihrer Anschaulichkeit. Sein gern benutztes Beispiel war das Wort ›Zweifel‹. In doubt, doute, dubbio, duda ist die Zwei versteckt zwar noch da, aber nicht mehr zu hören.

Der Respekt vor der deutschen Sprache und vor denen, die sie meisterhaft handhabten in Dichtung und Wissenschaft (Goethes Fachprosa, die Geschichtsschreibung im 19. Jahrhundert, Georg Simmel, Freud, Blumenberg) führte dazu, daß das eigene Schreiben sehr langsam vonstatten ging. Immer mit der Hand in winziger Schrift, denn nur so konnte ich denken, und ich wußte erst, was ich dachte, wenn ich es aufgeschrieben hatte. Und nie habe ich unterschieden zwischen wichtigen und läßlichen Texten, alles wollte gleichermaßen sorgfältig geschrieben, auch laut gelesen sein auf die Satzmelodie hin, auf die Reihenfolge der Wörter und ob sie saßen wie die Steinchen in einem Mosaik. Mit ›alles‹ meine ich Vorträge und Abhandlungen ebenso wie Briefe und Tagebücher, Essays und Klappentexte, Predigten, Nekrologe und was nicht sonst noch alles. Hinzu kam der Anspruch, gelesen oder gehört werden zu wollen, und das verlangte, daß die Sätze lauten sollten wie von leichter Hand hingeworfen und waren doch das Ergebnis langen Probierens.

Diese Vorlesungen sind – auch im Hinblick auf die anglophone Monokultur selbst in den geisteswissenschaftlichen Fächern unserer Universitäten – der traurige Abschied von einer Welt von Gestern.

Frankfurt am Main, im September 2020

Gelehrsamkeit und Poesie Über das fragende Verstehen

Wann fängt sie an, die Lust an den Wörtern und ihren Verbindungen, die Lust an der Sprache? Wenn die Kindheit nach Jean Paul das Paradies sein soll, aus dem wir nicht vertrieben werden können, so gilt das zumindest für diese Lust. Man erwirbt sie sich nicht im Lauf des Lebens, man hat sie seit der Frühe. »Dichter wird man als Kind«, hat Peter Hamm einmal geschrieben. Die Kindheit ist die Zeit des Staunens und des Entdeckens. Dazu gehört, wohl als erstes, der Bereich der Laute, der gehörten, gesungenen, gesprochenen, anders nachgesprochenen, wie ein eigener, zu eigen gemachter Besitz. Die Laute führen ein Eigenleben, beziehen sich auf nichts als sich selbst, sind beweglich wie das übrige Spielmaterial auch und ebenso strapazierfähig. Man kann sie zertrümmern und anders wieder zusammensetzen, kann mit ihnen etwas anstellen wie Ottos Mops oder etwas benennen, was es vorher nicht gab und mit einem Mal Wirklichkeit wird. Kinder sind geborene Lautdichter. Und irgendwann entdeckt das Kind, daß zusammengesetzte Laute auch etwas bedeuten – das Kind entdeckt die Wörter. Und nach der Zeit des Staunens beginnt die Zeit des Fragens – Was heißt das und warum? –, wobei die Antworten gern zu neuen Fragen führen, zumal bei der Reihung der Wörter im Hintereinander des Satzbaus. Das Kind lernt im Gebrauch, daß das besitzanzeigende Fürwort vor dem Nomen steht – »unser Haus, unser Hof« – und wundert sich, daß das wichtigste Gebet anfängt »Vater unser«. Warum? Oder das Abendgebet, das ich aufsagen mußte: »Müde bin ich, geh zur Ruh, schließe beide Augen zu«. Das »geh« war ja eigentlich eine Aufforderung, ein Befehl, und »Ruh« müßte »Ruhe« heißen, wenn es nicht lautlich auf »zu« bezogen wäre. Das Kind entdeckte also den Reim und Fügungen, die vom normalen Sprachgebrauch abweichen durften, weil sie ein eigenes Gebilde schufen, das vom alltäglichen Sprechen unterschieden war. Das Kind entdeckte die Poesie.

Poesie, das waren für ihn Kinderreime, Weihnachtslieder, Choräle, also Gesungenes. Das war die frühe Prägung, die ihm sein Lebtag erhalten blieb, denn wenn er später Gedichte las, versuchte er sie immer erst zu hören in ihrer Rhythmik und Klangschicht. Bei der später besonders geliebten Dichtung, dem Minnesang und dem Psalter, wußte er, daß etwas Wesentliches verlorengegangen war: die Musik. Nun hatten die Lieder ja aber auch einen Inhalt, erzählten eine Geschichte, die anfangen konnte wie »Vom Himmel hoch da komm ich her« oder »Es ist ein Ros entsprungen«, die mit der Wirklichkeit, die das Kind zu erkunden begann, wenig zu tun hatte. Ebendies aber war das Anziehende: die Bilder, die im Kopf entstanden und nur dort ihren Ort hatten. Noch faszinierender waren die Wörter, die er nicht verstand: »in dulci jubilo« oder »unsres Herzens Wonne leit in praesepio«, ein dreisprachiger Vers, was er freilich nicht wußte, aus Hochdeutsch, Mittelhochdeutsch und Latein, wobei ihm das »leit« für »liegt« aus seinem oberhessischen, von den Marktfrauen gehörten Heimatdialekt vertraut war. Natürlich übersetzte ihm die Mutter die fremden Wörter, aber darum ging es nicht. »Krippe« sagte ihm vermutlich genausowenig wie »praesepio«. Worum es für mich ging, das war der Klang des Fremden, des Unverstandenen und damit auch des Geheimnisvollen, weil es die Produktivkräfte der Phantasie in Gang setzte. Auch hier gibt es eine Kontinuität, denn in meinem Leben als Literat, Übersetzer oder Philologe hat mich vor allem das gereizt, was als inkommensurabel galt, also das Schwierige, das Dunkle, das Überkomplexe, das, was sich gegen ein Übersetztwerden sträubte, das, was ohne Kommentar nicht lesbar war.

Was ich Ihnen hier erzähle, mag Ihnen wunderlich erscheinen. Es kommt aus einer anderen Zeit. 40er Jahre, der Krieg, die Nächte im Keller. Es gab keine Musik außer der, die aus einem Grammophon hätte kommen können, wenn die Abspielnadeln nicht gefehlt hätten; es gab kein Radio außer dem Volksempfänger mit den Heeresberichten; es gab für das Kind kein Kino. Es gab nur die Bücher, wieder und wieder gelesen, nein vorgelesen, später selbst gelesen. Grimms Märchen, Andersen, Bechstein, Hauff, Tausendundeine Nacht, Robinson Crusoe. Es wurde viel gesungen zu Hause und in der Kirche, zumal in der Adventszeit. Und das Kind hatte keine Ablenkungen, es hatte Zeit, viel Zeit, es lebte langsam mit immer denselben Büchern und Liedern, in denen es immer neues entdeckte. Das schärfte den Blick und das Ohr für das Detail, für das vielleicht lange Übersehene, Überhörte, denn es gab – und das hat mit der Langsamkeit zu tun – keinen Unterschied zwischen wichtig und unwichtig. Auch das mag eine Erfahrung für später gewesen sein: im Gedicht ist jede Silbe, jeder Laut wichtig, die betonten wie die unbetonten gleichermaßen.

Mit dem Schreiben hatte ich Mühe. Wenn die Mutter mir den eigenen Namen in Großbuchstaben vorschrieb, schrieb ich ihn in Spiegelschrift ab ohne zu merken, daß es verkehrt herum war. Ich sah es nicht. Der 1944 eingeschulte Linkshänder wurde freilich zwanghaft umerzogen. Das war lange eine Qual. Ich malte die Buchstaben archaisch einzeln statt sie zu verbinden, weshalb mir später das Griechische mit seinen unverbundenen Buchstaben gleich vertraut vorkam. Dabei wollte ich unbedingt schreiben lernen, eigene Sätze auf dem Papier bilden, Gedichte schreiben. Das war wie ein Trieb. Es gibt ein Schlüsselerlebnis für das eigene Schreiben. August 45, wenige Wochen nach dem Krieg. Ich liege auf einer bunten Blumenwiese und über mir steht fast reglos eine blütenweiße dicke Frau Holle-Wolke. Ein Bild der Ruhe, des Friedens und der Schönheit. Sofort ist der Gedanke da: das mußt du aufschreiben. Also gehe ich heim in die kleine Stube, in der meine Mutter und ich nach der Ausbombung bei Bauern untergekommen sind, und schreibe auf, was ich gesehen und empfunden habe. Das geht langsam, sehr langsam, ich merke, daß mir die Wörter fehlen, oder daß die, die ich finde, nicht das treffen, was ich sagen will. Ich versuche es wieder und wieder. Als ich schließlich das mühevoll Geschriebene lese, weiß ich: das ist nicht meine Wiese, nicht meine Wolke. Diese Erfahrung steht am Anfang meines Schreibens: etwas schreiben, es verwerfen, es wieder schreiben mit dem Satz Becketts später im Ohr: »Fail better next time«, und dabei wissen, immer noch nicht genau das gesagt zu haben, was zu sagen war. Also zurück auf Anfang.

In den unmittelbaren Nachkriegsjahren wurde das Ohr geöffnet für fremde Klänge, so daß ich irgendwann nicht mehr wußte, was mit Muttersprache gemeint war. Die Dorfkinder sprachen ihr Oberhessisch, das ich erst wie eine eigene Sprache lernen mußte: »zwei Kinder« hießen »zwa kirn«, aber »zwei Kühe« waren »zwu koi«, und das R konnte im Rachen oder mit der Zungenspitze gesprochen werden. Dann kamen die Flüchtlinge oder Vertriebenen, die wieder eigene Sprachen mitbrachten: Schlesisch, Ostpreußisch, Sudetendeutsch. Am eindrucksvollsten war natürlich das Amerikanisch – oder wie die Dorfkinder sagten: amiganisch –, das die schwarzen Soldaten mitbrachten, das überhaupt nicht zu verstehen war, von dem aber ein paar Ausdrücke in der eigenen Phonetik hängenblieben, etwa »Schwinggum« für chewing gum. Alles zusammen ergab ein tägliches Stimmenbabel (oder Gebabbel), das verhinderte, mich ausschließlich in einer einzigen Sprache einzurichten; die Wörter schwappten über von einer in die andere. Das war gewissermaßen die Elementarstufe des Verfahrens, das Joyce für Finnegans Wake entwickelt hatte.

Die Jugendjahre waren vor allem Zeiten des Lesens und Musizierens. In den Jahren zwischen dem Kriegsende und der Gründung beider deutscher Staaten erschien über ein Dutzend literarischer Zeitschriften in hohen Auflagen, die den Nachholbedarf des zwölf Jahre lang Versäumten zu decken versuchten. Amerikaner, Engländer, Iren, Franzosen, Italiener, Spanier, Portugiesen, Russen, Polen, Tschechen, meist Kurzgeschichten, Gedichte, auch Essays, alles in deutschen Übersetzungen, versteht sich. Mein Vater hatte viele Zeitschriften abonniert, die ich mit dreizehn, vierzehn Heft für Heft durchzustöbern begann. Das war meine erste Universität. Ich las und las. Unersättlich. Vor allem Hemingways oft pointenlos wirkende knappe Stories, bei denen ich den Verdacht hatte, etwas verpaßt zu haben in der Kürze. Aber was? In einem Prosatext eines anderen Autors, der so etwas wie ein Dialog zwischen zwei Wäscherinnen zu sein schien, standen Sätze wie die folgenden: »Auswendig kenn ich die Stellen, die er gerne beschludert, son lausiges Luder! …Welche Neiße der Pleiße, und Gangeräne der Sünde stecken da drina, o yemen, o je! … Aber Zeit zeigt’s zeitig. Wird sich schon zeigen. …Uferzier war im Recht, sein Rival doch sinister.« Und so weiter und weiter über viele Seiten. Ich verstand nichts oder wenig. Da gab es Wörter, die es nicht gab; Wortspiele; Kalauer wie »Uferzier«; Flüsse spielten eine Rolle, unter anderen Wörtern verborgen. Hier war wieder das Gefühl des Nicht-Verstehens da, des Rätselhaften, das mich in seinen Bann zog. Den Namen des Autors wollte ich mir merken. Es war James Joyce, und das Prosastück war die Übersetzung des Anna Livia-Kapitels aus Finnegans Wake von Georg Goyert, die dieser auf Wunsch des Autors 1933 gemacht hatte, die aber nicht mehr erscheinen konnte. Was ich gelesen hatte, war ein Auszug, der 1946 in der Münchner Zeitschrift Die Fähre abgedruckt worden war. Das war meine erste Begegnung mit dem Autor, der mich viele Jahre meines Lebens beschäftigen sollte. Es gibt keinen besseren Autor, um lesen zu lernen. Ich komme darauf zurück.

Die erste Sprache, die ich systematisch erlernte, war Latein. Schon der allererste Satz war verwunderlich: »Rhenus fluvius est.« Andere Wortstellung, Prädikat am Satzende, keine Artikel. Was mich an der Sprache zunächst verwirrte, später faszinierte, war, daß die Leserichtung von links nach rechts nicht mehr stimmte. Die zusammengehörigen Wörter mußten zusammengesucht werden, bis sie paßten wie Puzzleteile. Das verlangte ein ständiges Hin-und-her-Schweifen des Blicks über die Zeilen und Wörter, so daß ein Sich-Festlesen – also auch ein Darüberhinlesen – unmöglich war. Jedes Wort hatte ein eigenes Gewicht und mußte von der grammatischen Endung her in seiner Stellung im Satz zugeordnet werden. Diese Beanspruchung der Aufmerksamkeit von Wort zu Wort war die beste Voraussetzung für die Lektüre von Gedichten später. Hinzu kam, daß beim Sprechen lateinischer Gedichte Wörter entgegen dem Wortakzent zusammengezogen (elidiert) werden mußten, was im Deutschen nicht möglich war. Im Griechischen war es wieder anders: Wort- und Versakzent fielen nicht zusammen oder es konnte, wenn man nicht stur das Metrum skandierte, eine schwebende Betonung hörbar werden. Das hieß für mich auch, der Möglichkeiten und Grenzen der eigenen Sprache gegenüber denen der anderen Sprachen gewahr zu werden. Jede war auf ihre Weise einzig, und das schärfte den Blick für das Unterscheiden, für das Besondere, das Eigene und das Andere. Gerade vom Anderen her ließ sich aus der Differenz das Eigene bestimmen.

Die Grammatik der alten Sprachen war natürlich ein hartes Brot, die Gratifikationen aber lagen auf der Hand: Homer, die Tragiker, Alkaios und Sappho, Ovid, Catull, Horaz, der Vergil der Eklogen. Von der Odyssee ließ sich lernen, daß die Technik der Rückblende im modernen Roman und im Film von Homer erfunden wurde, von Oedipus Rex, daß alles Geschehen der Handlung vorausliegt und das Drama den Prozeß der Wiedererinnerung inszeniert wie bei Ibsen. Die griechischen Strophenformen halfen bei der Lektüre Klopstocks und Hölderlins usw. Was aber schmerzlich fehlte, waren die modernen Sprachen. Englisch war bei mir die dritte, französisch die vierte Sprache. Deren Literaturen – und das hieß für mich vor allem Lyrik – mußten also in Übersetzungen gelesen werden. Von Ezra Pound gab es die Pisaner Gesänge und das Handbuch des Schreibens, ABC des Lesens, in dem Sätze standen wie der, man solle mit dem Ohr, nicht nach dem Metronom komponieren. Es gab auch schon Teile des Anfangs der Cantos auf deutsch, die an die Odyssee anknüpften, vertrautes Gelände für mich. Von T.S. Eliot gab es Das wüste Land in der Übersetzung des Romanisten Ernst Robert Curtius, das ich aber im Original lesen wollte, mit dem Finger Zeile für Zeile und jedes Wort nachschlagend. Mit fünfzehn oder sechzehn hatte ich mein Benn-Erlebnis, so wie andere ihr Kant-Erlebnis hatten. Es war ein Ton, wie ich ihn nie zuvor gehört hatte, es war der Schmelz und der Rausch und zugleich die Illusionslosigkeit und Härte, dazu eine Herkunft aus Mythos und Griechentum, die mir als der Gipfel des in der Lyrik heute Erreichbaren erschienen. In seinem Marburger Vortrag über »Probleme der Lyrik« hatte er alles gesagt, was dazu zu sagen war: das letzte Wort. Als Ermunterung verstand ich, daß Gedichte gemacht, nicht von einer Muse eingegeben würden. Ein Handwerk mit Schere und Kleister. Als Unterprimaner hatte ich das Glück, während eines Schulausflugs nach Berlin die Witwe Gottfried Benns besuchen zu dürfen. Die Atmosphäre in der Bozener Straße 20 mit dem kargen Schreibtisch, der Redouté-Rose an der Wand, dem Blick in den trostlosen Hinterhof habe ich aus der Sicht eines einsamen Ich für die Zeitschrift des Gymnasiums darzustellen versucht. An den zwei Seiten habe ich lange gearbeitet und mir dafür den Spott der Lehrer eingehandelt. (»Ach, Sie wollen wohl Dichter werden.«) Es war kein Schulaufsatz, es war ein Text. Mein erster. Wie schwer das Schreiben ist, wie viel Zeit es braucht, wie jedes Wort mit Bedacht geprüft, verworfen, gewählt werden will, hatte ich im Jahr zuvor, 1956, gelernt. Ich hatte – naiv, stolz und zudringlich – erste Gedichte an Günter Eich geschickt, den leisen, geheimnisvollen, sparsam, geradezu karg die Worte setzenden Lyriker, der sich – anläßlich einer Lesung in meiner Heimatstadt – die Zeit nahm, die Gedichte Wort für Wort, Zeile für Zeile auseinanderzunehmen, so daß nichts von ihnen übrigblieb. »Sie sehen, wie schwer es ist, Gedichte zu schreiben«, mit diesen Worten schloß er die Sitzung, empfahl mir aber Ezra Pound – »der müßte Sie interessieren« –, von dem gerade ein Taschenbuch auf deutsch erschienen war. Im gleichen Ullstein-Taschenbuch hat übrigens auch Heiner Müller Pound kennen- und liebengelernt. 50er Jahre.

Die Kritik Günter Eichs an meinen Versen hatte mir derart eingeleuchtet, daß ich sie auf alles, was ich ›ernsthaft‹ zu schreiben versuchte – also nicht auf die von mir in der Schule erwarteten dämlichen ›Besinnungsaufsätze‹ (so hießen sie wirklich!) – anwandte. Damit hatte ich meine Unschuld verloren, war gehemmt und stand mir selbst im Weg. Kaum hatte ich einen Satz geschrieben, begann ich ihn so lange zu prüfen, bis ich ihn wieder strich, und so von Satz zu Satz. Da bleibt am Ende nicht viel übrig. Ein Schreiben in der Sackgasse, »blind alley« heißt es zutreffender auf Englisch oder auf Französisch »impasse«. Als ich in jungen Jahren, vielleicht schon als Primaner, Freuds Traumdeutung las, stieß ich auf eine Stelle über Schreibblockaden. Freud zitiert aus einem Brief Schillers an seinen Freund Christian Gottfried Körner, der sich über mangelnde Produktivität beklagt hatte: »Der Grund deiner Klage liegt, wie mir scheint, in dem Zwange, den dein Verstand deiner Imagination auflegt. (…) Es scheint nicht gut und dem Schöpfungswerke der Seele nachteilig zu sein, wenn der Verstand die zuströmenden Ideen, gleichsam an den Toren schon, zu scharf mustert. (…) Bei einem schöpferischen Kopfe hingegen, deucht mir, hat der Verstand seine Wache von den Toren zurückgezogen, die Ideen stürzen pêle-mêle herein, und alsdann erst übersieht und mustert er den großen Haufen.«3 Das sind kluge, triftige Sätze, die gewiß aus eigener Erfahrung stammen. Doch mit einem schieren Willensakt läßt sich schwerlich die Selbstzensur ausschalten, die aus Gründen eingebaut wurde, welche sich in der Regel dem grübelnden Nachdenken entziehen. Vielleicht hilft da nur eine Roßkur, wie es bei mir der Fall war.

3 Sigmund Freud, Gesammelte Werke, Bd. II/III, Die Traumdeutung, S. Fischer, Frankfurt a. M., 3. Aufl. 1961, S. 107

In meinen ersten Semestern, auf der Suche nach Verdienstmöglichkeiten, ergab sich die Gelegenheit, für die Tageszeitung meiner Heimatstadt Filmkritiken zu schreiben. Ich mußte in die Nachmittagsvorstellungen gehen, nach dem Film ins Büro des Feuilleton-Redakteurs kommen, mich an die Schreibmaschine setzen und sofort die Kritik herunterhacken, 15 bis 20 Zeilen. Zum Nachdenken blieb da wenig Zeit, zu erlesenen Formulierungen auch nicht; das Artikelchen mußte morgen früh im Blatt stehen. Der Redakteur sah die Zeilen sofort durch und gab mir Tips wie den, nie »ich« zu sagen. Oder in Besprechungen von Vorträgen in der Stadt, zu denen ich auch geschickt wurde, nie die indirekte Rede zu benutzen. Schließlich durfte ich mir auch Bücher zur Rezension aussuchen, die zu kaufen mir das Geld fehlte, und gelangte so an Lyrik von Nelly Sachs und Paul Celan, an Max Frischs Homo Faber oder den Nouveau Roman. Aber ich merkte bald, daß Rezensieren nicht mein Metier war. Die gewählten Bücher waren schwierig, man konnte sie nicht herunterlesen, mußte sich auf die neuen Schreibverfahren Robbe-Grillets oder Butors einlassen, um sie in der Besprechung darstellen und dem Buch gerecht werden zu können. Außerdem wollte ich nicht akademisch schreiben, sondern lesbar und womöglich leicht. Das kostete Zeit, viel Zeit, die ich neben dem Studium nicht hatte. Jahrzehnte später wollte Reich-Ranicki mich als Rezensenten gewinnen. Zweimal ließ er meine Besprechungen, an denen ich über Gebühr lange saß, passieren, beim dritten Mal verlangte er, den Text so umzuschreiben, daß der Leser wisse, ob er das Buch kaufen solle oder nicht. Da ich unter einer Rezension keine Verlagswerbung verstand, ließ ich es also wieder bleiben.

Akademisches Schreiben habe ich mir nicht antrainieren können oder wollen. Ihm stand die Liebe zur Literatur entgegen. Ich wollte lesen, was da geschrieben stand in den Versen oder Prosaperioden, wollte aber nicht in hölzernen Sätzen verordnet bekommen, wie ich das zu verstehen oder was der Dichter damit gemeint hätte, abgesichert polemisch oder zustimmend durch das, womit andere schon Seiten gefüllt hatten: das hieß wissenschaftliches Arbeiten. Mir dagegen schien ein Gedicht einen Anspruch darauf zu haben, auf entsprechendem Niveau untersucht zu werden, anstatt vor ihm erst einmal Berge von Sekundärliteratur aufzutürmen oder durchmüllen zu müssen. Adorno nannte so etwas Sinnhuberei. Ich meine nicht, der Interpret solle statt dessen einen Text noch einmal poetisch nachschaffen, wie es George-Jünger oder Schöngeister sich haben angelegen sein lassen. Unter Niveau verstand ich eine intellektuelle Augenhöhe, die sich aus der Kenntnis ästhetischer Theorien herschrieb, die ich mir aber selbst erst noch erarbeiten mußte, wozu es jedoch in meinen drei Marburger Semestern keine Möglichkeit gab. So aß ich das gesunde Roggenbrot der deutschen und englischen Mediävistik. Da gab es handfeste Dinge zu lernen, Sprachgeschichte, Ablautreihen, Lautverschiebungen, Etymologie, Indogermanistik, Sanskrit, herrliche Lyrik und Epik, lauter Sachen, für die ich bis heute dankbar bin und die leider durch unsinnige Studienreformen jetzigen Studierendengenerationen vorenthalten werden. Es ist ein Betrug an den jungen Menschen, unter dem Stichwort Entrümpelung des Studiums den Reichtum der Tradition zu opfern, weil er Mühe und Ausdauer – mithin: Zeit – bedeutet. Die mittelalterlichen Literaturen sind aber nicht bloß eine Epoche der jeweiligen Nationalliteratur, die es im übrigen noch nicht gab, sie sind Teil der europäischen Literatur. Das ließ sich lernen aus dem monumentalen Werk von Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, das kurz nach dem Zweiten Weltkrieg erschien und die wechselseitige Abhängigkeit der Literaturen unter dem gemeinsamen Nenner des Lateinischen belegte. Es ist ein grundgelehrtes Buch, zeigt aber auch, daß Gelehrsamkeit nicht staubtrocken sein muß. Curtius war ein eleganter Stilist, ein Intellektueller, bekannt geworden in den 20er Jahren durch Darstellungen französischer, spanischer, englischsprachiger Gegenwartsautoren, die er oft auch persönlich kannte, auch übersetzte wie Eliot oder André Gide, bis er sich in den Nazijahren ins Mittelalter zurückzog. Curtius wurde für mich ein Vorbild, weil er der Beweis war, daß Gelehrtheit, die Kenntnis möglichst vieler Sprachen – jede Sprache bedeutet ja eine neue Welt – und die geradezu existentiell bedingte Liebe zur Literatur, zusammengehalten durch den Anspruch, mit Kopf und Herz und nicht mit den Füßen zu schreiben, wie die meisten meiner akademischen Lehrer, durchaus miteinander vereinbar waren, wenn auch mißtrauisch beäugt von solchen, denen die Verbindung suspekt war. Ein zweites Vorbild wurde für mich Erich Auerbach, bzw. zunächst sein Buch Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, 1942 bis 1945 im Exil in Istanbul geschrieben, 1946 in Bern erschienen. Das waren Untersuchungen zur Epik von der Bibel und der Odyssee über die Jahrhunderte bis zu Virginia Woolfs To the Lighthouse. Wie wandelt sich, was unter Wirklichkeit verstanden wird, über die Zeiten? Auerbachs Essaysammlung ist ein riesiges kulturgeschichtliches Panorama des Abendlands unter einer methodologischen Fragestellung, die aber zugleich die unterschiedlichsten Disziplinen einbezieht. Das Buch liest sich wie ein Eco’scher Kriminalroman, was auch damit zusammenhängt, daß es keine Anmerkungen gibt, weil ihm keine Fachbibliothek zur Verfügung stand. Hätte er eine gehabt, schreibt Auerbach, wäre das Buch vermutlich nicht geschrieben worden. Auerbach war ein grundgelehrter Mann, und wenn man seine eleganten, gleichsam essayistischen Sätze aufmerksam las, konnte man merken, von wie viel Wissen sie getragen waren: Er hatte die Tiefe an der Oberfläche versteckt.

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Data wydania na Litres:
26 maja 2021
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9783990590898
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