Czytaj książkę: «Klaus Mann - Das literarische Werk», strona 4

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Am nächsten Morgen besuchte Marion ihre alte Freundin Anna Nikolajewna Rubinstein, die draußen in Montrouge eine Zweizimmerwohnung mit ihrem Gatten und ihrer halberwachsenen Tochter hatte. Die Tochter arbeitete in einem Modesalon; der Mann war in einem großen Verlagshaus angestellt, wo seine Beschäftigung fast ausschließlich darin bestand, Adressen zu schreiben und zu sortieren. Er hatte es während der zehn Jahre, die er in Paris lebte, noch nicht gelernt, fließend und akzentlos Französisch zu sprechen. In Moskau war er der Herausgeber einer gemäßigt-liberalen Revue gewesen. Die Kerenski-Revolution hatte er freudig begrüßt, und einige Wochen nach der Oktoberrevolution war er in die Emigration gegangen, ganz ohne Geld, mit ein paar Krawattennadeln und Ringen als einzigem Besitz. In Berlin hatte er Anna Nikolajewna kennengelernt. Sie war Malerin und dekorierte nun Teetassen, Blumenvasen und Fächer mit bescheidenen Blumenstilleben, bunt gefiederten Vögeln und kleinen Barockengeln. Zuweilen fand sie Käufer für ihre liebliche Ware.

Marion war bei ihrem ersten Pariser Besuch, im Jahre 1928, durch gemeinsame Berliner Freunde mit Madame Rubinstein bekannt geworden. Anna Nikolajewna hatte der jungen Deutschen Paris gezeigt; Marion liebte die russische Dame, und sie hatte immer die Tapferkeit bewundert, mit der die Verwöhnte – denn Anna stammte aus reichem Hause – Not und Erniedrigung des Exils ertrug. Niemals hatte Marion ein Wort der Klage von Anna Nikolajewna gehört. »Man muß zufrieden sein«, pflegte sie mit ihrer weichen, singenden Stimme zu sagen. »Man muß sogar dankbar sein. Wir haben alle zu tun: la petite Germaine, mon pauvre Léon et moi-même …« Marion wußte genau, wie miserabel sie für ihre verschiedenartigen Arbeiten bezahlt wurden. Übrigens hatten alle drei immer Heimweh. Es gelang ihnen nicht, sich einzuleben im fremden Paris. Sie verkehrten beinah nur mit Russen, lasen fast nur russische Zeitungen und Bücher. Sonderbarerweise litt an dieser Heimwehkrankheit sogar die junge Germaine, die doch ein ganz kleines Kind gewesen war, als ihre Mutter Rußland verließ. Sie stammte aus einer ersten Ehe Anna Nikolajewnas; der Vater war im Bürgerkrieg gefallen, auf der Seite der Weißen …

Madame Rubinstein konnte nicht älter als fünfundvierzig Jahre sein; sie sah aus wie eine Sechzigjährige. Ihr Haar war schlohweiß, ihr gescheites sanftes Gesicht von vielen Falten durchzogen. Sie trug sich immer in Schwarz. »Ich muß Trauer um Rußland tragen«, hatte sie einmal mit geheimnisvollem Lächeln zu Marion gesagt, die etwas schaurig davon berührt gewesen war. Manche der Kleidungsstücke, die Anna Nikolajewna besaß, stammten noch aus der Zeit vor dem Kriege – wunderliche Pelzmantillen, Spitzenjabots, kleine runde Muffs, allerlei überraschende Kopfbedeckungen aus Pelz: St. Petersburger Mode aus dem Jahre 1913 …

Marion freute sich darauf, ihre alte Freundin wiederzusehen; aber sie wurde ein sonderbar bedrückendes Gefühl nicht los, als sie – es war zur späten Nachmittagsstunde – die dämmrige Treppe des Mietshauses in Montrouge hinaufstieg. Früher war sie meist mit irgendeinem kleinen Geschenk gekommen, oder sie hatte ein wenig Geld zurückgelassen, wenn sie ging. Madame Rubinstein hatte es sich oft verbeten, aber es doch schließlich dankbar geschehen lassen. Nun war Marion ihrerseits eine Verbannte. Marion und Anna Nikolajewna trafen sich, zum ersten Mal, als Schicksalsgenossinnen.

Die Russin tat zu Anfang des Gespräches, als wüßte sie nichts davon. Sie umarmte und küßte Marion, wie immer, und bemerkte nur: »Auch wieder einmal in Paris, mon enfant!« Sie sah würdevoll und appetitlich aus, in einem altmodischen schwarzen Kleid mit Schleppe und elfenbeinfarbenen Spitzen am Halsausschnitt wie an den Manschetten.

»Es ist immer so schön, in eurer Stube zu sein«, stellte Marion befriedigt fest, als sie sich am kleinen Teetisch gegenübersaßen. »Und all eure komischen kleinen Sachen: ich freue mich immer, wenn ich sie wiedersehe …« – Das Wohnzimmer der Familie Rubinstein, in dem Mademoiselle Germaine nachts auf der Ottomane schlief, war überfüllt mit allerlei seltsamen Gegenständen, die der Hausherr sammelte. »Mon pauvre Léon«, pflegte Anna Nikolajewna etwas mitleidig zu sagen, »es macht ihm plaisir …« Die Kollektion bestand teils aus den Modellen alter Segelschiffe, die auf der Kommode und auf mehreren Regalen placiert waren; teils aus ausgestopften Vögeln und Fischen, deren bizarre Formen alle vier Wände zierten. Zwischen den Schwertfischen, Flundern, Adlern und Papageien gab es, mit roter und grüner Farbe an die Wände gemalt, ein sonderbares System von Linien, Pfeilen und Kreisen; ein mystisch und bedeutungsvoll wirkendes Netz, das »le pauvre Léon« kindisch-emsig angefertigt hatte und von dem niemand, auch Anna Nikolajewna nicht, wußte, ob es einen geheimen, nur seinem Schöpfer bekannten Sinn enthielt, oder nichts als das Resultat von Schrulle und unbeschäftigter Künstlerlaune war. Das enge Zimmer, vollgestopft mit Möbeln, allerlei Nippes-Sachen, kleinen russischen Andenken und mancherlei Reiseerinnerungen, überfüllt mit Photographien und den Spiegeln, Tassen und Blumenvasen, die Madame mit Barockengeln oder Blumen bemalte, bot einen zugleich traulichen und beängstigenden Anblick. Meistens war es auch noch von dickem blauen Rauch erfüllt, da keines der Familienmitglieder auf die Zigaretten mit den langen Pappmundstücken verzichten konnte, und sie alle eine Aversion dagegen hatten, das Fenster zu öffnen.

»Ja, es ist ein gemütlicher Raum«, sagte Anna Nikolajewna, während sie ihrem Gast Kirschenkonfitüre und kleines Gebäck auf den Teller legte. »Aber mein pauvre Léon wird immer trauriger. Er spricht nicht viel, aber ich sehe doch, wie er sich grämt … Und neuerdings macht mir die kleine Germaine Vorwürfe …«

»Worüber macht sie Ihnen denn Vorwürfe?« wollte Marion wissen.

Madame Rubinstein sagte leise: »Daß sie nicht in Rußland sein darf.«

»Aber was für ein Unsinn!« rief Marion aus. »Wie kann sie Ihnen darüber Vorwürfe machen?«

Anna Nikolajewna zuckte die Achsel und lächelte betrübt. Erst nach einer kleinen Pause sagte sie: »Germaine hat mir neulich versichert, daß sie in der Sowjetunion glücklicher sein würde als hier. Sie ist sehr aufgeregt gewesen und hat geweint. Es war ein Irrtum von euch – hat sie mich angeschrien – es war ein Irrtum und auch eine Sünde von euch, die Heimat aufzugeben. Man soll die Heimat nicht aufgeben – hat die kleine Germaine unter Tränen gerufen – man soll sie unter keinen Umständen aufgeben; denn sie ist unersetzlich. Wenn die Heimat leidet, muß man mit ihr leiden – ich wiederhole immer nur Germaines sehr heftig vorgebrachte Worte – man soll weder klüger noch glücklicher sein wollen als die Nation, zu der man gehört. Übrigens – ich zitiere immer noch das weinende neunzehnjährige Kind – übrigens sind die Katastrophen ja kein Dauerzustand. Man gewöhnt sich an alles. Ihr Alten glaubt immer, der Bolschewismus sei die Katastrophe in Permanenz – hielt Germaine mir vor – das ist einer eurer dümmsten Irrtümer. Sicherlich hatte der Bolschewismus einmal katastrophalen Charakter. Inzwischen ist er für Millionen einfach der Alltag, das Selbstverständliche geworden. Und er wäre es auch für mich geworden – während sie dies behauptete, schluchzte meine kleine Tochter noch heftiger – wenn du mich nicht herausgerissen hättest, wenn du mich nicht entwurzelt, nicht heimatlos gemacht hättest. Denn man gewöhnt sich an jeden Zustand und an jede Lebensform – in der Heimat. Aber an die Fremde gewöhnt man sich nie. Ich bin keine Französin, und ich will keine Französin werden! – Sie können sich vorstellen, Marion, wie erschrocken ich gerade über diese Mitteilung und Eröffnung der kleinen Germaine gewesen bin. Sie spricht doch ein so charmantes Pariserisch, und ich dachte wirklich, sie fühle sich ganz als eine kleine citoyenne française. Und nun droht sie mir plötzlich damit, sie wolle nach Moskau zurück; sie müsse das Leben im bolschewistischen Rußland kennenlernen – ›Wahrscheinlich ist es ein sehr interessantes, reiches, aufregendes Leben‹, meinte sie. Nur mit Mühe konnte ich sie davon abhalten, ihre Stellung im Modesalon gleich aufzugeben und zur Sowjetambassade zu laufen. Stellen Sie sich vor, Marion, was mon pauvre Léon gesagt haben würde, wenn unser Kind zu den Leuten gegangen wäre, die er seine Todfeinde nennt!«

Marion war von dem Bericht der Freundin beeindruckt. Sie hatte das Gesicht in die Hand gestützt; ihre Augen verdunkelten sich vor Nachdenklichkeit. »So, so«, sagte sie und schlang die großen, sehnigen Hände mit einer merkwürdig heftigen Gebärde ineinander, so daß die Gelenke knackten – Marion hatte recht locker ineinandergefügte Fingergelenke. »Das ist es also, was deine kleine Germaine unter Tränen geäußert hat: In der Heimat gewöhnt man sich an jeden Zustand und an jede Lebensform; aber an die Fremde gewöhnt man sich nie …«

Anna Nikolajewna, deren kluges, müdes und zartes Antlitz in der Dämmerung vor Marions Augen zu verschwimmen begann – auch ihre Stimme klang nun, als käme sie von sehr weit her – Anna Nikolajewna, leise mit den elfenbeinfarbenen Spitzen raschelnd, die über ihre Handgelenke fielen, sagte: »Seitdem ich diese überraschenden Worte gehört habe – denn Sie werden ja begreifen, mon enfant, daß dies alles für mich überraschend kam – höre ich nicht auf, darüber nachzusinnen, wieviel Wahrheit und wieviel Irrtum sie enthalten. Denn ohne Frage mischen sich Wahrheit und Irrtum in den aufgeregten Reden meiner kleinen Germaine. Am Ende meiner langen und übrigens oft recht bitteren Überlegungen bin ich zu dem Resultat gekommen: Wahrscheinlich habe ich wirklich unrecht getan, als ich das Baby wie ein kleines Paket über die russische Grenze schaffte. Nun hat das Kind Heimweh, ohne die Heimat je gekannt zu haben – und das muß eine besonders schlimme Sorte von Heimweh sein … Sie will zu ihrer Nation zurück … Aber ich kann nicht!!« Dies stieß sie mit einer klagenden, fast jammernden Heftigkeit hervor, wie Marion sie noch niemals von ihr gehört hatte. »Ich werde niemals nach Rußland zurück können. Es ist zuviel Grauenhaftes dort geschehen. Man hat meinen Mann und zwei von meinen Brüdern dort umgebracht, und mein Vater ist im Elend gestorben. Die Erinnerungen sind unerträglich … Die Erinnerungen würden mich sicherlich töten …« Dabei fuhr sie sich mit einer sonderbar fliegenden, huschenden, angstvollen Bewegung über die Stirn, als müßte sie etwas Böses wegscheuchen, das sich dort niedergelassen hätte. Nach einer Pause sagte sie noch: »Aber freilich – die kleine Germaine hat ja keine Erinnerungen …«

Marion wurde etwas schaurig zumute in diesem Raum, wo sie sich immer so wohl gefühlt hatte. Anna Nikolajewna, die niemals klagte – nun überwand sie ihren Stolz und ließ Jammertöne hören. Wieviel mußte sie ausgestanden haben, daß es soweit kam! Was für lange Prüfungen waren ihr zugemutet worden!

›Werde ich auch einmal sein wie diese?‹ fragte sich Marion. ›So resigniert? So unendlich traurig und müde?‹ Und sie tröstete sich: ›Aber bei mir liegt alles ganz anders. Unser Fall liegt anders. Diese russischen Aristokraten und Intellektuellen haben sich gegen die Zukunft gestellt. Wir sind in die Verbannung gegangen, weil wir für das Zukünftige sind, gegen den Rückschritt. Unser Exil kann kein Dauerzustand sein. Diese Russen haben das Exil als Dauerzustand auf sich genommen. – Oder irre ich mich? Täuschen wir uns alle? Sind auch wir in unvernünftiger Opposition gegen etwas, was Zukunft hat, oder doch zukunftsträchtige Elemente …?‹ Diese Zweifel taten sehr weh.

Anna Nikolajewna schien ihren stummen Monolog belauscht zu haben; denn sie sagte: »Auch ich habe von Rückkehr geträumt. Wer hätte nicht von Rückkehr geträumt. Aber man kehrt nicht zurück. Wer sich von der Heimat löst, hat es für immer getan. Für immer, Marion: verstehst du mich?« Ihr Blick wurde plötzlich fast drohend. »Die Entwicklung in der Heimat geht weiter; wir haben keinen Anteil mehr an ihr. Wir sind Fremde geworden. Wir können nicht mehr heim, weil wir keine Heimat mehr haben.« Sie saß sehr aufrecht da, die Hände, über die vergilbte Spitzen fielen, strenge im Schoß gefaltet. »Schauen Sie mich an!« rief sie und zeigte das Gesicht einer Greisin – plötzlich nackt, als hätte sie sich einen schonenden Schleier von den Zügen gerissen. »Regardez-moi, Marion!« Und sie hob mit einer theatralisch klagenden Gebärde die hageren Hände. »Me voilà, une vieille femme … une femme fatiguée … Fatiguée …« wiederholte sie und ließ den Kopf nach hinten sinken. Sie saß ein paar Sekunden lang regungslos, feierlich erstarrt in ihrer tragischen Pose.

Marion aber schwor sich: ›So will ich nicht werden. So nicht. Vielleicht warten furchtbare Dinge auf mich; sehr wohl möglich, daß sich Schlimmes für mich vorbereitet. Aber ich will keinesfalls als alte Frau in einem engen Pariser Zimmer die Hände recken zu einer Gebärde des Jammers, die nicht einmal mehr die Kraft hat, eine Gebärde der Anklage zu sein. Ich will mir auch nicht von meinem Kinde sagen lassen, daß ich ihm die Heimat gestohlen habe. Im Gegenteil: was ich hören möchte von meinem Kinde, das sind Worte des Dankes dafür, daß wir ihm jetzt eine bessere Heimat erkämpfen …‹

Während Marion solches dachte und sich im Herzen gelobte, hatte Anna Nikolajewna sich gefaßt. Ihre Haltung war nun wieder damenhaft zusammengenommen. »Mein liebes Kind«, sagte sie und hatte noch einmal die nervös wischende Geste, mit der sie sich über die Stirne fuhr, »entschuldigen Sie: das war unmanierlich. Übrigens sind Sie selber ein wenig schuld daran, daß ich heute so sentimental und unbeherrscht bin. – Ja, ja«, behauptete sie mit neckischem Nachdruck und hob scherzhaft streng den Zeigefinger, als wäre sie ihrem Gast hinter eine harmlos drollige kleine Verfehlung gekommen, »ja, ja, mon enfant, ich habe mich doch ein wenig aufgeregt, als ich erfuhr, daß auch Sie … wie soll ich mich ausdrücken? – nun, daß Sie diesmal nicht ganz freiwillig nach Paris gefahren sind …«

»Ich hätte genausogut nach London reisen können«, bemerkte Marion, nicht besonders freundlich. Daraufhin Madame Rubinstein, immer noch neckisch und insistent: »Aber Sie hätten nicht genausogut in Berlin bleiben können. Oder irre ich mich?«

»Nein«, sagte Marion. »Weil ich dort erstickt wäre.«

Anna Nikolajewna zuckte müde die Achseln. »Das haben wir alle einmal geglaubt – daß wir zu Hause ersticken müßten, wenn dort Leute regieren, die uns nicht gefallen.« Und nach einer Pause, die ziemlich lange dauerte, fragte sie sanft: »Haben Sie auch wohl bedacht, was das bedeutet – das Exil?«

»Mir scheint, daß ich es wohl bedacht habe«, versetzte Marion trotzig und knackte mit den lockeren Gelenken ihrer langen Finger.

Die Russin sprach aus der Dämmerung, mit melodisch gedämpfter Stimme, als erzählte sie ein Märchen für die lieben Kleinen: »Es ist hart, das Exil, mon pauvre enfant. Es werden Stunden kommen, da Sie sich der Worte erinnern, die ich Ihnen jetzt sage. Das Exil ist hart. Man ist als Emigrant nicht viel wert. Man ist gar nicht sehr angesehen. Die Leute wollen uns nicht – es macht kaum einen Unterschied, ob man politisch mit uns sympathisiert; ob man die Gründe, die uns zur Emigration bewegt haben, ablehnt, oder ob man sie billigt. Man verachtet uns, weil wir nichts hinter uns haben. In dieser kollektivistischen Zeit muß der Einzelne etwas hinter sich haben, damit er achtenswert scheint. Für uns gibt es nicht einmal ein Konsulat oder eine Gesandtschaft, an die wir uns wenden könnten. Wir haben gar nichts. Deshalb verachtet man uns – und ganz besonders wenig schätzt man uns hier in Paris, dieser klassischen Emigrantenstadt, die unser müde ist, weil sie uns zu gut kennt. Hier treffen sich ja alle, schon seit Jahrzehnten: die entthronten Könige und die Arbeiterführer; die Ungarn und die Russen; die italienischen Exilierten und die spanischen; die Armenier, die Jugoslawen, die Griechen, Türken, Bulgaren, Südamerikaner – und nun also auch noch die Deutschen. Unterhalten Sie sich einmal mit einem dieser Heimatlosen, die seit zehn oder fünfzehn Jahren in Paris herumsitzen! Fragen Sie einmal irgendeinen von diesen, was er hier erlebt und ausgestanden hat! Es wird interessant für Sie sein, liebes Kind …«

»Ich habe gerade gestern nacht einen beobachtet«, sagte Marion. »Diesen ungarischen Grafen, der einmal Ministerpräsident war und alle seine Güter weggeschenkt hat. Er saß neben uns im ›Café Select‹ und spielte Schach mit sich selber.«

»Sie hätten ihn anreden sollen. Manchmal ist er gesprächig, und dann erzählt er von kleinen und von großen Enttäuschungen; von allerlei Erniedrigungen, die er tragen mußte – und früher war er ein so großer Herr! Es wäre ungeheuer aufschlußreich für Sie gewesen. Denn Sie sind ja noch eine Anfängerin.«

Da Marion schwieg und nur fragend schaute, erklärte Anna Nikolajewna ausführlicher, was sie meinte: »Sie sind noch eine Anfängerin in diesem harten, quälenden Geschäft – wenn ich einen so tragischen Lebenszustand wie das Exil als ein ›Geschäft‹ bezeichnen darf. Ihr seid noch ahnungslose Dilettanten!« rief die Russin hochmütig. »Es gibt tausend kleine Erfahrungen, die sich kaum beschreiben lassen, unzählige Qualen der verschiedensten Art, viele Schmerzen, immer betrogene Hoffnungen – Monotonie und Ruhelosigkeit des unbehausten Lebens – ein Heimweh, das niemals aufhört – ach, meine arme Marion, all dies zusammen und noch manches, was ich jetzt gar nicht andeuten kann, das macht das Exil aus. – Es ist keine Bagatelle«, sagte sie, abschließend, wieder in ihrem lockeren, damenhaften Konversationston. »Durchaus keine Bagatelle.« Dabei schüttelte sie die Manschetten graziös über ihren Händen. Dann goß sie Tee ein.

Später erschienen Herr Rubinstein und die kleine Germaine. Man speiste zu Abend, es gab Schinken und Eier, dazu wieder Tee und für jeden ein Gläschen Wodka. Herr Rubinstein aß viel und schweigsam. Er war ein weichlicher Koloß mit sehr gutmütigen Augen – Hundeaugen, wie Marion fand – und einer grauen, auffallend porösen Gesichtshaut. Die kleine Germaine war sehr hübsch und ernst. Sie rührte beinah nichts von der Mahlzeit an, was ihre Mutter besorgt tadelte. »Ich habe keinen Hunger«, sagte die kleine Germaine. Nachdem der Tisch abgeräumt war, begann Herr Rubinstein, beinah ohne Übergang, von alten russischen Tagen zu erzählen. Anna Nikolajewna versuchte, das Gespräch auf aktuelle Pariser Ereignisse zu bringen; etwas krampfhaft plauderte sie über einen Ministersturz, eine Opernpremière. Léon aber fand Mittel und Wege, immer wieder auf seine Moskauer Reminiszenzen zu kommen. »Heute habe ich den alten Petrow im Klub getroffen«, berichtete er. »Mein Gott, wenn ich mich erinnere …«

Die kleine Germaine verabschiedete sich ziemlich bald. »Ich habe eine Verabredung«, erklärte sie kurz auf die unruhige Frage der Mutter. Herr und Frau Rubinstein wechselten einen betrübten, ratlosen Blick. Die Tochter, in grausamer Wortlosigkeit, setzte sich vorm Spiegel ihr schickes schwarzes Hütchen auf. Der Rahmen des Spiegels war mit dicken, drolligen Engeln verziert: eine der niedlichen Arbeiten Anna Nikolajewnas, die sich als unverkäuflich erwiesen hatte.

Martin war den ganzen Tag unruhig. ›Auf was warte ich‹, dachte er. Paris interessierte ihn nicht. Er hatte keine Lust auszugehen. Er versuchte zu schreiben. Das Papier vor ihm blieb leer. Auch das Buch, das er zu lesen angefangen hatte, langweilte ihn. Er wußte, worauf er wartete.

Der Geruch von Staub und einem süßlichen Jasminparfüm, der sein enges Hotelzimmer füllte, war ihm ekelhaft. Trotzdem brachte er bis gegen Abend die Energie nicht auf, auszugehen. Er klopfte mehrfach bei Marion an, die im selben Stockwerk wohnte wie er; aber sie schien den ganzen Tag unterwegs zu sein. Es gab auch noch ein paar andere Bekannte im Hotel »National«; Martin hatte keine Lust, sich mit ihnen zu unterhalten. Er schaute auf die Straße hinaus und beobachtete die Leute, die gegenüber im kleinen Bistro ihren Kaffee oder Apéritif tranken. Einige kauften sich Zigaretten und Briefmarken. Martin konnte ihre Gespräche und Gelächter hören. Plötzlich ertappte er sich dabei, daß er an Berlin dachte.

Als er abends das Hotel verlassen wollte, begegnete er Kikjou vor der Loge des Concierge. »Ich suche Sie«, sagte Kikjou, als ob das eine Selbstverständlichkeit wäre. ›Haben wir denn ein Rendezvous für heute abend gemacht?‹ überlegte Martin einen Augenblick lang. Er war aber vorsichtig genug, seine Zweifel nicht auszusprechen. Vielmehr sagte er nur: »Das ist nett. Wohin gehen wir essen?«

Kikjou wußte ein kleines Restaurant in der Rue de Seine. »Es ist eigentlich gar kein Lokal«, sagte er, »nur eine enge Stube, wo gerade zwei Tische Platz haben. Die Patronne kocht selber, und das Fräulein Tochter bedient. Aber man ißt dort ausgezeichnet und gar nicht teuer.«

Die Unterhaltung, abwechselnd deutsch und französisch geführt, blieb erst bei literarischen Gegenständen. Martin sagte, wie sehr er Rimbaud liebe, Kikjou gestand seine Bewunderung für Hölderlin und Novalis. Er kannte sich gut aus in den Schönheiten deutscher Dichtung. Später erzählte er von seiner Kindheit und von seiner Familie. Martin bekam Einblicke in ziemlich wirre häusliche Verhältnisse. Kikjous Verwandte lebten teils in Rio de Janeiro, teils in Lausanne und auf dem Lande in Belgien. Der Vater, in Brasilien ansässig, war Chef einer großen Firma und wollte den Sohn dazu zwingen, ins Geschäft einzutreten. Da Kikjou darauf bestand, in Paris zu sein und Gedichte zu machen, statt sich vernünftig zu beschäftigen, grollte der Vater und schickte kein Geld. »Oft ist die Kasse leer«, sagte Kikjou und lächelte betrübt. Manchmal reiste er zu einem Onkel nach Belgien. Der bewohnte ein altes Haus auf dem Lande; Martin bekam den Eindruck, daß es sich um einen etwas wunderlichen alten Herrn handelte; aber Kikjou fand ihn bedeutend. »Onkel Benjamin ist ein gläubiger Katholik«, erklärte er und strahlte Martin aus den vielfarbig schimmernden Augen an. Der Onkel umgab sich mit Heiligenbildern, Reliquien, geweihten Kerzen und lateinischen Büchern. »Er hat seine eigene kleine Kapelle«, berichtete Kikjou stolz. »Ich fühle mich wohl bei ihm; wenn ich nicht fürchten müßte, ihn zu stören, wäre ich immer dort.« Sein Blick schien benommen; es war vielleicht nur die Wirkung des Weines, vielleicht hing es aber auch mit dem Gedanken an Weihrauchduft und mildes Halbdunkel in Onkel Benjamins Kapelle zusammen. »Manchmal hat er auch Visionen«, sagte der Neffe noch, und in seinen Augen war der Glanz beunruhigend. »Engel suchen ihn auf. Er erzählt, daß es immer so ein metallisch klirrendes Geräusch gibt, wenn sie in seine Stube treten. Das kommt von ihren Flügeln, die beständig in Bewegung sind; es ist wie ein nervöser Tick, sagt Onkel Benjamin, aber dabei sehr großartig. Sie müssen immer ihre großen Flügel regen, als kämen sie sonst aus der Übung und würden das Fliegen verlernen; es verhält sich wohl so ähnlich wie bei Rekordschwimmern oder Radfahrern, die auch gleich aus der Form kämen, wenn sie nicht immer trainierten. Ich hätte so gerne einmal einen Engel gesehen. Aber sie zeigen sich nur, wenn niemand im Haus ist außer Onkel Benjamin und der alten Magd. Sogar ich, obwohl ich doch an sie glaube, scheine sie zu vertreiben. Das ist auch der eigentliche Grund, warum ich nie lange beim Onkel bleibe. Er müßte das Gefühl bekommen, daß ich ihm die liebsten Gäste verscheuche. Das wäre mir natürlich sehr unangenehm. Außerdem kränkt mich das Verhalten der Engel ein wenig; ich finde es gar zu spröde.« Nachdem er dies alles geäußert hatte, legte er ruhig seine Serviette zusammen und schlug vor: »Unseren Kaffee trinken wir besser woanders. Er ist hier nicht besonders gut.«

Sie saßen im Café »Flore« am Boulevard St.-Germain. Nun sprachen sie auch über Politik. »Sie sind vor den Nazis geflohen?« fragte Kikjou. »Ich mag sie auch nicht. Neulich habe ich lange mit meinem frommen Onkel über sie gesprochen – er ist ein so kluger Mann. Der deutsche Führer, sagt er, ist vom Teufel geschickt; der leibhaftige Antichrist. In so großer Gefahr wie jetzt, sagt Onkel Benjamin, ist die Christenheit seit ihrem Bestehen noch nicht gewesen. Das Rassendogma bedroht die Grundlagen unseres Glaubens, die Germanen kommen aus den Urwäldern, um die christliche Kultur zu zerstören, und sind fürchterlicher, als die Hunnen und Türken es waren …«

Sie redeten lange. Aber zwischen ihnen waren die Worte nicht mehr das Entscheidende. Ihre Blicke führten eine andere Sprache.

Der kleine Helmut Kündinger kam vorbei und schaute sie traurig an. »Gefällt es Ihnen in Paris?« erkundigte er sich bei Martin auf seine korrekte und schüchterne Art. »Es ist eine herrliche Stadt. Ich bin den ganzen Tag spazierengegangen und war auch lange im Louvre. Aber ich mußte immer an meinen Freund denken, der dies alles so genossen hätte …« Da man ihn nicht dazu aufforderte, sich an den Tisch zu setzen, wünschte er schmerzlich einen guten Abend und ging langsam weiter.

Gegen Mitternacht sagte Martin: »Wir könnten noch ein bißchen in mein Hotel gehen. Es ist zwei Minuten von hier. Mir scheint, ich habe sogar noch ein bißchen Whisky …«

Auf der Treppe, im Hotel »National«, begegnete ihnen Marion.

»Weißt du schon das Neueste?« sagte sie zu Martin. »Meine Mama und Tilly sind heute in Zürich angekommen.«

»Nein, so was!« sagte Martin. »Wie muß es in Deutschland aussehen, wenn sogar Frau von Kammer es nicht mehr erträgt? – Willst du noch einen Schnaps mit uns trinken, Marion?«

»Danke«, sagte Marion. »Ich falle um vor Müdigkeit. Unterhaltet euch gut! Viel Vergnügen!«

Frau Geheimrat Marie-Luise von Kammer hatte mit ihren beiden jüngeren Töchtern, Tilly und Susanne, am 16. April 1933 die deutsche Heimat verlassen: kaum zwei Wochen nachdem ihr ältestes Kind, Marion, nach Paris in die Emigration gegangen war. Frau von Kammer – plötzlich vor die Wahl gestellt, in welchem Lande sie am liebsten wohnen wolle – entschied sich, nach nur kurzem Schwanken, für die Schweiz, wo sie mit ihrem Gatten beinah jedes Jahr die Ferienwochen zugebracht hatte. In der Schweiz wiederum kamen vor allem das Tessin, das Engadin oder Zürich in Frage. Frau von Kammer behauptete, daß sie persönlich einen stillen, ländlichen Platz, etwa Ascona oder Sils Maria, vorziehen würde, »denn ich habe genug von der Welt«, sagte sie in ihrer sonderbar konventionellen, starren Manier, die selbst noch der aufrichtigsten, spontansten Äußerung einen floskelhaft rhetorischen Charakter gab. »Aus Rücksicht auf ihre Töchter« entschloß sich die Geheimratswitwe dazu, vorläufig in der größeren Stadt, in Zürich, Wohnung zu nehmen. »Ich will, daß meine Mädels von der Gesellschaft empfangen werden«, sagte sie – und es klang, als gäbe es in Zürich einen Kaiserlichen Hof, dessen Zierde die jungen Damen von Kammer nun ausmachen sollten.

Wenn sie, in solchem Zusammenhang, von »meinen Mädels« sprach, machte sie sich einer Übertreibung schuldig, denn wirklich konnte es sich nur um Tilly, die Neunzehnjährige, handeln. Susanne war erst dreizehn Jahre alt und sollte in einem Schweizer Pensionat »für junge Mädchen aus ersten Familien« untergebracht werden. Das Institut war entschieden zu teuer für die finanziellen Verhältnisse der Geheimrätin. »Aber es muß eben reichen!« erklärte die Mutter, fanatisch in ihrer Zärtlichkeit zu dem hochaufgeschossenen, etwas mürrischen Backfisch wie in ihrem unbedingten Entschluß, sich sozial nicht degradieren zu lassen.

Marion blieb in Paris. Einige Tage nach ihrer Ankunft in Zürich hatte die Mutter, »mit Voranmeldung für Mademoiselle von Kammer«, das Hotel »National«, Paris, Rue Jacob, angerufen. »Ich bin froh, deine Stimme zu hören, mein Kind!« sagte sie, und der Klang ihrer Worte war wärmer und belebter als meistens. – »Wie geht es dir denn, Mama?« fragte Marion, glücklich über die ungewohnt einfache, herzliche Art der Mutter. – »Danke, mein Kind: leidlich gut.« Nun hatte sie schon wieder jene damenhafte Verbindlichkeit, unter der Marion heftiger litt als andere Töchter unter den Wutausbrüchen ihrer Mütter. – »Du weißt ja: das Züricher Klima ist eine Wohltat für meine Nerven – natürlich nur, solange es keinen Föhn gibt …« Sie redete, als wäre sie soeben in Baden-Baden oder Bad Gastein eingetroffen und berichtete nun einer entfernten Bekannten über die ersten Erfolge der Kur. Es war der Ehrgeiz der Frau von Kammer, Haltung zu bewahren, auch der Tochter gegenüber – Haltung um jeden Preis, den Verhältnissen zum Trotz, malgré tout, geschehe, was auch immer.

Das Telefongespräch zwischen Paris und Zürich dauerte nicht sehr lange. Mama berichtete noch, daß sie, mit Tilly und der kleinen Susanne, vorläufig in einem sehr hübschen Hotel am See abgestiegen sei. »Sehr soigniert«, sagte sie anerkennend. »Die Bedienung – tipptopp! Aber es ist natürlich nur provisorisch. Auf die Dauer könnte man sich das nicht leisten.«

»Es ist schrecklich traurig«, sagte Marion, nachdem sie eingehängt hatte, zu Martin Korella, der gerade bei ihr im Zimmer war. »Sie kann es einfach nicht zeigen, wie nett sie ist. Hinter ihrer blöden ›feinen‹ Art versteckt sich ihre ganze große Nettigkeit.« Marion sah bekümmert aus. Mit ihren schönen und langen Fingern – den kraftvoll trainierten Fingern einer Pianistin, mußte Martin denken; oder, nein: eigentlich einer Bildhauerin – zerdrückte sie im Aschenbecher eine Zigarette, die sie gerade erst angeraucht hatte. Dabei stieß sie den Aschenbecher – es war eine jener häßlichen, weißen kleinen Schalen, mit dem Reklameaufdruck der »Galeries Lafayette« – vom Tisch; mit zornig verfinsterten Augen schaute sie auf Zigarettenstummel und Asche, die nun den Teppich verunzierten. »Dabei ist sie nämlich wirklich ganz besonders nett«, behauptete sie mit einer tiefen, grollenden Stimme und schüttelte – einer gereizten Löwin ähnlich – die lockige Fülle ihres rotbraunen, purpurn schimmernden Haares. »Zum Beispiel war es doch ganz großartig von ihr, wie sie sich während dieser letzten Wochen benommen hat«, sagte Marion noch, trotzig und aufgebracht, als hätte jemand ihr widersprochen – während Martin doch nur liebenswürdig und etwas schläfrig lächelte. »Längst nicht jede alte Dame bringt es fertig, sich so prima zu halten; die meisten hängen viel zu sehr an ihrer Tischwäsche oder an einer bestimmten Friseuse, um die freiwillige Emigration auch nur zu erwägen. Und für die geborene von Seydewitz sollte es im Nationalsozialismus eigentlich verschiedene Elemente geben, die ihr gar nicht übel gefallen: stramme Haltung, nationales Gefühl und all so’n Zeug … Aber nein: die geborene von Seydewitz überlegt sich’s erst gar nicht lange. In ihrer ulkigen Ausdrucksweise konstatiert sie: Die Nazis sind schlechte Klasse – womit sie freilich auf eine etwas andere Art recht hat, als sie selber meint. Damit ist für sie alles erledigt. Ihr Instinkt hat gespürt: Was jetzt in Deutschland regiert, das ist Dreck. Und sie packt ihre Siebensachen …«

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