Czytaj książkę: «Klaus Mann - Das literarische Werk», strona 27

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Unfaßbar milde und unfaßbar streng empfängt der Blick des Heilands diesen Sterblichen. Geduldig hat es auf ihn gewartet, das Haupt voll Blut und Wunden, das dornengeschmückte. Es neigt sich der Schulter zu, wie beim aufmerksamen Lauschen. Die Lippen stehen ein wenig offen – durstige, trockene, blutig aufgesprungene Lippen: sie werden den Essigschwamm kosten. – ›Ich habe gelitten wie diese‹, sagt der Heiland dem jungen Sterblichen. ›Ich kenne die Schmerzen, deren Zeuge du gewesen bist. Auch du sollst leiden. Gehe hin. Nimm es auf dich. Es ist bitter, ein Mensch zu sein. Ich war des Menschen Sohn, und ich habe noch den bitteren Geschmack davon auf der Zunge und den ausgedörrten Lippen. Weißt du aber nicht, wie sich das Bittere verwandelt? Leidend und liebend verwandelt sich der Mensch. Mein Vater im Himmel verzeiht uns, wenn wir geliebt und gelitten haben. Gehe hin, Knabe! Nimm es auf dich! Sei ein Mensch!‹

Professor Benjamin Abel hatte, einige Wochen nach der Katastrophe mit Herrn Wollfritz im »Huize Mozart«, Amsterdam verlassen. Er war später noch einmal nach Holland gekommen, um Vorträge an der Universität Leiden zu halten. Bei dieser Gelegenheit sah er Stinchen wieder, die irgendwie von seiner Anwesenheit Kenntnis bekam und herbeireiste – »weil ich Sie doch nicht vergessen kann, Mijnheer«, wie sie errötend gestand. Sicherlich wußte die maskuline, eifersüchtige Mama nichts von diesen zärtlichen Ausflügen, die sich im Lauf der nächsten Wochen mehrfach wiederholten. – Auch Fritz Hollmann tauchte wieder auf – ein tapferer Kerl, schlug sich tüchtig durchs Leben – übrigens nicht mehr allein; eine nett aussehende »Genossin« war an seiner Seite, Hollmann stellte sie vor: »Meine Braut!« Der Professor war etwas neidisch. »Ach, diese Jugend! Ihr wißt ja gar nicht, wie gut ihr es habt!« meinte er säuerlich; freute sich aber, ganz im verborgenen, doch schon auf Stinchens nächste Visite.

Als Hollmann mit seinem Mädchen gegangen war, trat Benjamin vor den Spiegel. ›Ich sehe immer noch passabel aus‹, meinte er feststellen zu dürfen. Die Gestalt, die er kritisch musterte, war nicht groß und ein wenig gedrungen, aber aufrecht und fest. Das Gesicht, über einem zu kurzen Hals, wirkte zugleich sinnend und energisch. Seine große, rundliche Fläche ward beherrscht von den Augen, die den Blick einer verhaltenen und gründlichen, fast pedantischen Leidenschaft hatten. Der Mund war merkwürdig klein – fast frauenhaft zart gebildet; ›übrigens bekomme ich ein Doppelkinn‹, dachte der Alternde ziemlich bitter. ›Ein Doppelkinn und eine Glatze – komisch, daß Stinchen mich mag …‹

Die letzten Jahre waren, alles in allem, nicht leicht gewesen; wenig oder nichts sprach dafür, daß die folgenden besser sein würden. Es hatte furchtbare Heimwehkrisen für Benjamin Abel gegeben; qualvoll heimwehkrank war er oft gewesen und hatte gemeint, es nicht mehr aushalten zu können in den fremden Städten. Das war wohl nun überwunden. Er wünschte sich nicht mehr nach Deutschland zurück; seine Beziehungen zur Heimat hatten sich gelöst. Die Mutter in Worms war gestorben. Die alten Freunde ließen nichts mehr von sich hören. Auch von Annette Lehmann kamen keine Briefe mehr. Sie hatte einen Staatsanwalt in Köln geheiratet – »ein prächtiger Kerl!« wie sie in ihrem letzten Schreiben versicherte. »Du würdest ihn sicher mögen. Friedrich ist ein weitherziger, grundgescheiter Mensch; ein überzeugter Nationalsozialist, aber gar nicht fanatisch …« Auf diesen Brief hatte Benjamin keine Antwort; die Korrespondenz hörte auf. – ›Leb wohl, meine Liebe! Zehn Jahre unseres Lebens sind wir beieinander gewesen, vergiß das doch bitte nie! Vergiß, zum Beispiel, bitte nie die so sehr gemütlichen Kammermusikabende in Marienburg! Was wäre denn nun, wenn ich dich geheiratet hätte, damals, als wir beide jung gewesen sind? Sähe dann alles besser aus oder noch komplizierter? – Ach, zu wem spreche ich und wen rufe ich an? Lebt die Annette noch, an die ich mich erinnere? Eine andere, fremde spaziert nun durch die Straßen von Köln, am Arme ihres prächtigen Staatsanwaltes – durch diese Straßen, die unbetretbar für mich geworden sind; ein Abgrund liegt zwischen mir und ihnen – ein Abgrund zwischen mir und Annette – ein Abgrund …‹

Professor Abel – alternd, heimatlos und sehr allein – fand seinen Trost in der Arbeit. Denn arbeiten konnte er wieder. Die Lähmung war gewichen. Er fühlte sich unverbraucht und frisch, bei aller Betrübtheit. ›Schon aus Trotz will ich tätig sein‹, beschloß er grimmig. ›Schon aus Wut und Haß bin ich widerstandsfähig. Glauben diese Barbaren drinnen im Reich, deutscher Geist höre auf zu wirken, weil sie ihn, durch Dekret, verbieten oder verstümmeln? Denen wird man es zeigen! Professor Besenkolb und alle seinesgleichen – zerspringen sollen sie, und schämen sollen sie sich, wenn sie mein neues großes Buch zu Gesicht bekommen!‹

Benjamin – von Natur bescheiden – war selbstbewußter geworden. Er wollte sich behaupten; war entschlossen, nicht unterzugehen. Zweifel am eigenen Wert wäre ein Luxus gewesen, den er sich, bei so harten Lebensumständen, durchaus nicht leisten konnte. Vielmehr zwang er sich, den Kopf hoch zu tragen und Stolzes zu denken. ›Ich bin keiner, der bettelt. Was ich zu bieten habe, ist kostbar. Die Welt soll mich dafür bezahlen.‹ – Die Welt fügte sich seinem Anspruch; sie zahlte – nicht eben üppig, nicht gerade verschwenderisch; aber doch so, daß er halbwegs anständig leben konnte, obwohl die Universität Bonn längst kein Geld mehr schickte. Abel hatte Vorträge in Wien gehalten und eine Gastprofessur in der österreichischen Provinz absolviert. Er war nach England eingeladen worden; er schrieb für die anspruchsvollsten Revuen in der Schweiz und Frankreich. Schließlich kam ein Ruf nach Amerika: es war eine kleine Universität im Mittelwesten der USA, die sich, mit maßvollem, aber akzeptablem Angebot um ihn bemühte. Das war im Frühling 1937. Benjamin hielt sich in Skandinavien auf. Er sprach in dänischen, norwegischen und schwedischen Universitäten über »das große deutsche Jahrhundert« – wobei es ohne polemisch-aktuelle Anspielungen auf eine entartete Gegenwart nicht abgehen konnte. Schon hatten die Vertretungen des Dritten Reiches gegen die »schamlos deutschfeindliche Agitation« dieses aggressiven Gelehrten feierlich-gekränkt protestiert – woraufhin dem temperamentvollen Sprecher von amtlich-skandinavischer Seite nahegelegt wurde, er möge vorsichtiger sein.

Vorfälle solcher Art bestimmten Abel dazu, die ehrenvolle Depesche aus den USA positiv zu beantworten. Hierzu war er nicht gleich entschlossen gewesen. Nun aber dachte er – trotzig und unternehmungslustig, wie die harte Zeit ihn hatte werden lassen. – ›Ich habe Europa satt. Überall Einschränkungen, feige Rücksichtnahme auf die deutsche Tyrannis – und unsereiner ist nur knapp geduldet. Dort drüben wird man doch den Mund wieder auftun dürfen …‹

Er hatte noch einige Monate bis zum Termin der Abreise. Das war gut; denn das Buch mußte fertig werden, mit dem er sich nun seit zwei Jahren beschäftigte: »Das Jahr 1848 und die deutsche Literatur«. Für dieses Thema hatte er sich entschieden, gerade als er in Wien war, um Material für seine Schrift über die österreichischen Dichter zu sammeln. Wien war eine Enttäuschung für ihn gewesen – eine Stadt, die von ihrer Vergangenheit lebte und deren Gegenwart wenig Begeisterndes hatte. Die Luft unter der klerikalen Diktatur war dumpf und muffig; der Kampf gegen den andrängenden Nationalsozialismus wurde falsch und ängstlich geführt. Professor Abel ließ seine liebevollen Notizen über Hofmannsthal und Schnitzler in einer Mappe verschwinden, die er bis auf weiteres nicht mehr zu öffnen gedachte. Das Jahr ’48 – seine geistigen Ursprünge und seine Konsequenzen – war erregender und dem Heute näher als die farbenvolle Untergangsstimmung des Wiener Fin de siècle. Es gelang Abel, trotz allen Ablenkungen und mancherlei Pflichten, die neue Arbeit langsam, aber stetig vorwärtszubringen. Nun hatte er ruhige Wochen vor sich. Er etablierte sich in einer mittleren skandinavischen Stadt. Hier wollte er das umfängliche Unternehmen vollenden.

Freilich blieb man niemals völlig ungestört. Nur ein vollkommener Egoist hätte sich gänzlich abschließen, durchaus auf die eigene Arbeit zurückziehen können. Was Abel betraf, so brachte er es nicht mehr übers Herz, Briefe, die so dringlichen Inhaltes waren, unbeantwortet zu lassen; Besucher, die mit so fürchterlich akuten Sorgen kamen, abzuweisen. Ihm selber ging es relativ gut – dies wußte er und war sogar ein wenig stolz darauf. Andere hatten nichts zu essen, wurden überall ausgewiesen und als elende Vagabunden durch die Länder gejagt. Früher aber waren sie achtbar gewesen, manche von ihnen sogar angesehen. Diesen oder jenen hatte Abel in Deutschland gekannt; andere wieder waren durch Freunde empfohlen. Doch meldeten sich auch solche, die sich auf niemanden berufen konnten; ihre offenkundige Armut allein wies sie aus – und ihre Behauptung, daß sie im Dritten Reich, aus politischen oder anderen Gründen, verfolgt würden. Das konnte man nun glauben oder nicht. Benjamin war nicht skeptisch. Es war besser – so schien ihm – dreien geholfen zu haben, die Schwindler sind, als einen Anständigen zu enttäuschen.

Sogar solchen gegenüber, die sich gleich zu Anfang schlecht benahmen, blieb er geduldig, ohne übrigens je die Miene des Edlen, eines salbungsvollen Menschenfreundes aufzusetzen. Ein junger Mann erschien, der behauptete, er sei einmal Schupo in Berlin gewesen. Dergleichen war ihm jetzt nicht mehr anzusehen; im Gegenteil, ein pflichtbewußter Berliner Polizeibeamter würde ihn wohl auf offener Straße festgenommen, mindestens aber sehr mißtrauisch beobachtet haben, einfach seines suspekten Äußeren wegen. Der graue Anzug, den er trug, war dünn und abgeschabt, an mehreren Stellen geflickt, an anderen durchlöchert; er glänzte speckig, und die Farbe spielte ins häßlich Grüne. Auch mit den Schuhen war kaum viel Staat zu machen. Am besten schien noch das dicke, rote Wollhemd. Es war aus solidem Material; doch wirkte es, als hätte der junge Mann es schon seit Jahren am Leib. Der Verdacht drängte sich auf, daß es unfrisch roch. Auch sein Gesicht zeigte unfrische Farben – eine bleiche, verwüstete Miene, mit fleckig angegriffener Haut auf den slawisch breiten Wangenknochen. Die hellen, engen Augen schauten trüb zwischen arg entzündeten Lidern. Rasiert hatte er sich wohl seit Wochen nicht; der harte Bart schimmerte rötlich, während das verwilderte Haupthaar einen reinen, fast goldenen Glanz zeigte.

Der Bursche hatte lang nichts gegessen, er bekam Kaffee und belegte Brote, Abel ließ sich von ihm erzählen. »Ich heiße Ernst«, begann er seinen Bericht – als ob dies am wichtigsten wäre. Was folgte, war etwas wirr und recht traurig. Die triste Chronik wurde oft unterbrochen durch allgemeine Betrachtungen schwermütiger und bitterer Natur, die sich meistens in den Worten: »Es ist alles eine große Scheiße!« resümierten. Die ersten Jahre des Exils hatte Ernst – wenn man ihm glauben durfte – in Prag zugebracht, mit einem Kameraden zusammen, einem feinen Kerl, der jetzt verschollen war. »So einen finde ich nie mehr. Den haben sie inzwischen sicher auch irgendwo umgebracht.« Seither hatte er nirgends länger bleiben dürfen als nur einige Wochen. »In der Schweiz«, sagte der Bursche – und plötzlich hatte er ein sanftes, beinah seliges Lächeln – »da ist es mir gut gegangen. In Zürich – da war es schön … Aber die Fremdenpolizei … Es ist eine große Scheiße … Aus dem Bett hat man mich rausgeholt, ohne Rücksicht auf die Dame, die bei mir war …« Dies hatte keineswegs zynischen Klang, auch prahlerisch war es nicht gemeint. Im Gegenteil verstand Abel, daß jenes dankbar ergriffene Lächeln, das eben noch die abgemagerte Miene des Vagabunden verklärt hatte, mit der erwähnten »Dame« in Zusammenhang stand.

Er erzählte noch lange von seinen Abenteuern auf den Landstraßen und in den Herbergen vieler Länder; von den Zusammenstößen mit der Polizei in Frankreich, Belgien, Holland, Dänemark, Schweden, Norwegen und Finnland. Manches klang unwahrscheinlich, einiges war wohl gelogen, am Ende stimmte vielleicht nicht einmal die Geschichte mit dem freundlichen Mädchen in Zürich. Abel indessen war geneigt, alles zu glauben oder doch für möglich zu halten. »Es muß etwas für Sie geschehen, junger Mann«, meinte er väterlich. Er hatte Beziehungen zu einem Comité für Flüchtlingshilfe in dieser Stadt. Eigentlich war es für Juden da, nahm sich aber auch anderer Emigranten an, wenn sie ihre Not und die Ursachen ihrer Emigration nachweisen konnten. »Zwar kenne ich den Leiter der Organisation noch nicht persönlich« – Abel sprach mehr zu sich selber als zu seinem Besucher. »Aber sicher wird er mich empfangen. Der könnte Ihnen wohl behilflich sein … Ich will mir nur einige Notizen über Ihre Vergangenheit machen.«

Während der Professor am Schreibtisch saß, unternahm Ernst einen sehr ungeschickten, dilettantischen Versuch, die goldene Taschenuhr zu stehlen, die auf dem Kaminsims lag. Abel bemerkte es gleich; er war mehr gelangweilt und etwas angewidert als empört oder erstaunt. »Lassen Sie doch den Unsinn!« sagte er müde, ohne den Kopf ganz von seinen Papieren zu wenden. Daraufhin fing der junge Mann zu weinen an. Er weinte heftig, ohne übrigens das Gesicht mit der Hand zu bedecken. Sein Mund, zwischen dem roten Bart, verzerrte sich wie bei einem kleinen Kind, und aus den hellen, schmalen Augen flossen die dicken Tränen. Die Uhr legte er behutsam wieder auf den Kaminsims; es war eine hübsche Uhr, mattgolden, mit einem altmodisch verschnörkelten Monogramm verziert; Abel hatte sie von seinem Vater geerbt, ein Familienstück, er hätte sie ungern verloren. Eigentlich war er selbst etwas erstaunt darüber, daß er fast keinen Unwillen gegen den Burschen empfand, der da stand und flennte. Um nur irgend etwas zu sagen, erkundigte er sich – nicht sehr lebhaft interessiert, wie ein Arzt, der eine pflichtgemäße Frage stellt: »Sind Sie Kleptomane?« – »Keine Spur!« beteuerte der Bursche, der vielleicht gerade die Vorstellung, er könnte ein Dieb aus krankhafter Veranlagung sein, als besonders verletzend empfand. »Sicher nicht! So was Gemeines bin ich nie gewesen! Aber man kommt ja vollständig herunter! Der Mensch verdirbt und verfault ja bei so einem Leben. Mit dem Gesetz ist man sowieso ständig in Konflikt, weil man sich doch illegal im Lande aufhält. Da meint man schließlich, es kommt gar nicht mehr darauf an …« Dies schien dem Professor einzuleuchten. Er nickte ernsthaft; dann riet er dem jungen Mann: »Trocknen Sie doch mal Ihr Gesicht ab! Es ist naß von Tränen.« Der erfolglose, reuige Dieb schüttelte tragisch den Kopf, als wollte er sagen: ›Es geschieht mir gerade recht, daß ich hier vor Ihnen stehen muß mit einem Gesicht, über das Tränen laufen – wie ein Schulbub, den man ausgeschimpft hat. Nein, ich trockne meine Backen nicht. Ich fühle mich erbärmlich und will auch erbärmlich aussehen!‹ – »Seit so langer Zeit sind Sie der erste Mensch, Herr Professor, der nett zu mir gewesen ist«, behauptete er – um zerknirscht hinzuzufügen: »Und da muß ich so was machen!« – »Sprechen wir nicht mehr davon!« schlug Benjamin vor. Um seinen kummervollen Gast auf andere Gedanken zu bringen, bot er ihm noch Kaffee und Butterbrot an. Ernst zeigte immer noch Appetit, obwohl er doch schon vorher viel gegessen und außerdem inzwischen seelisch einiges durchgemacht hatte. »Kein Mensch braucht einen!« erklärte er, während er kaute. »Man verliert alle Selbstachtung, wenn man das Gefühl hat, überflüssig auf der Welt zu sein. Ohne Selbstachtung kann man nicht leben.« Auch dies war richtig; Abel mußte wieder bestätigend nicken. »Haben Sie denn keine politischen Ideale?« wollte er wissen. – »Ich hatte mal welche.« Der heruntergekommene Schupo zuckte bitter mit den Achseln. »Aber so was wird einem ja ausgetrieben in dieser beschissenen Welt. Wie soll man denn noch an die Demokratie glauben, wenn sogenannte demokratische Staaten sich so gegen unsereinen benehmen? Behandelt wird man, als wäre man ein räudiger Hund – und soll Idealist bleiben!« Er lachte höhnisch, wobei schadhafte Zähne sichtbar wurden. Sein Gesicht war immer noch naß von den salzigen Tropfen, die abzuwischen er sich aus lauter Trotz und Gram geweigert hatte. – »Na, wir wollen mal sehen, was wir für Sie tun können!« meinte abschließend Abel. Ehe der Besucher ging, wiederholte er noch, es sei alles eine ungeheuer große Scheiße; dann bat er nochmals um Verzeihung wegen der Sache mit Benjamins goldener Uhr. Abel sagte: »Das habe ich schon vergessen.« Der andere konnte es gar nicht fassen und hätte beinah wieder zu weinen begonnen – aber aus Dankbarkeit, vielleicht auch aus Erstaunen; denn er hatte nicht mehr an die Güte geglaubt.

Abel setzte sich, durch die Vermittlung eines Bekannten, mit dem Leiter des Jüdischen Hilfscomités in Verbindung. Der erklärte sich sofort bereit, ihn zu sehen. »Kommen Sie bitte am nächsten Donnerstag gegen vier Uhr!« schlug er brieflich vor. »Ich werde Sie sofort persönlich empfangen. Es wird mir eine Ehre sein, Herr Professor, Ihre Bekanntschaft zu machen.« – Benjamin ging hin; die Visite wurde ein kompletter Mißerfolg.

Der Vorplatz, in dem dreißig oder vierzig Menschen warten mußten, sah trostlos aus. Es gab keine Stühle, nur eine schmale Holzbank an der getünchten Wand; auf der saßen, eng aneinandergedrängt, jammervolle Figuren: alte Weiber oder ausgemergelte Männer – die Gesichter unbeweglich in die Hände gestützt oder die Köpfe nervös hin und her wendend, als lauschten sie in die Ferne, aus der irgendeine angenehme Botschaft überraschend kommen könnte. Indessen war nichts zu hören als die mürrische Stimme eines Mannes, der hinter einem Schalterfenster stand und von dort aus speckig abgegriffene Pappschilder mit Nummern verteilte. Auch Abel sollte eine bekommen; erklärte aber: »Ich habe eine persönliche Verabredung mit Ihrem Chef. Ich nehme an, er wünscht mich gleich zu sehen.« Der Beamte erwiderte nur: »Warten Sie!« Machte jedoch keineswegs Miene, Namen oder Wunsch des Professors an irgendeine andere Instanz weiterzuleiten.

Benjamin hatte Muße, sich seine Umgebung genauer zu betrachten. Neben dem Schalter hing ein großes Schild, auf dem stand in fetten Lettern zu lesen: »Absolute Ruhe! Vermeidet politische Gespräche! Sie könnten belauscht werden und Anlaß zu Gerüchten geben, die uns schaden!« Übrigens sahen die Unglücklichen, die sich hier drängten, durchaus nicht aus, als hätten sie Lust, über die Weltlage zu debattieren. Ihre eigenen Sorgen waren gar zu groß; für die allgemeinen blieb ihnen kaum Interesse. Sie unterhielten sich, trotz der warnenden Tafel – freilich mit angstvoll gedämpften Stimmen und nur über ihre tristen Privataffären. Benjamin unterschied mehrere deutsche Dialekte; auch östliche Idiome kamen vor: Polnisch, Ungarisch, Tschechisch, Rumänisch. – »Nach England ist überhaupt nicht mehr reinzukommen!« behauptete pessimistisch ein junger Mann. Ein anderer sagte: »Ich warte schon seit zweieinhalb Jahren auf mein französisches Visum.« Der Verdacht lag nahe, daß er während all dieser Zeit nichts getan hatte, als eben auf das französische Visum zu warten. Trotzdem blieb er hoffnungsvoll. »Aber nächste Woche bekomme ich es – der Konsul hat mir’s versprochen!« Ein dritter klagte: »Mich wollen sie nach Deutschland zurückschicken! Dabei habe ich, ehe ich wegfuhr, auf der Berliner Polizei einen Schein unterschreiben müssen, daß ich niemals wiederkommen will. Wenn ich nun wieder anrücke – die sperren mich doch glatt ein! So was kann man doch nicht von mir verlangen! Die sperren mich doch ganz bestimmt ein!« – In einer anderen Gruppe sprach man von Palästina. »Mein Vetter ist Kellner in Tel Aviv; verdient ganz anständig, ist recht zufrieden …« – »Aber in Südamerika soll es besser sein!« wußte ein ganz Gescheiter. »Meine Schwester hat einen Hutsalon in Buenos Aires …«

Andere versammelten sich um eine weibliche Person von dürftigem Aussehen, die heftig weinte. Sie hielt ein kleines Kind, das sie nun dramatisch in die Höhe reckte. »Nein, ich gehe nicht zum deutschen Konsul!« rief sie flehend. »Dort werde ich eingesperrt und mein Kleines auch! Mein Bräutigam – ich meine: der Vater meines Kindes – hat mir fest versprochen, daß ich das holländische Visum bekomme, ohne daß ich vorher beim deutschen Konsul war!« Mitleidige und tröstliche Stimmen ließen sich hören; vor allem die Frauen nahmen sich der hysterisch Schluchzenden an. Man redete ihr vernünftig zu: »Aber seien Sie doch nicht so ungeschickt! Nicht so ängstlich! Man beißt Sie doch nicht auf dem deutschen Konsulat! Sie müssen sich Ihren Paß verlängern lassen!« – Die Ärmsten: es tat ihnen wohl, ihrerseits einmal mitleidig sein und sich im Vorteil fühlen zu dürfen gegenüber einer, die nicht mehr aus noch ein zu wissen schien. Denn die Weinende blieb dabei: »Ich kann nicht und ich will nicht! Mit meinem Kind zu den Nazis?!« fragte sie pathetisch – um dann selbst zu erwidern: »Nie und nimmer!« Schließlich berief sie sich nochmals auf das Versprechen ihres Bräutigams – vielmehr: »des Vaters meines Kindes«, wie sie pedantisch hinzufügte.

Ihre Klagen machten viel Lärm – was zur Folge hatte, daß ein Herr mit zorngeröteter Miene eintrat und seinerseits brüllte: »Was ist hier los?! Ich verbitte mir das!« Sofort verstummten alle; der Herr jedoch schimpfte weiter; nun war es ein bleicher Unterbeamter, der den großen Zorn des Vorgesetzten über sich ergehen lassen mußte. – »Habe ich Ihnen nicht zehnmal gesagt, die Leute sollen im oberen Wartesaal bleiben, wenn sie ihre Nummern haben? Immer wieder dieser Radau direkt vor meinem Bureau! Wozu haben wir denn das zweite Stockwerk? – Das ist eine Unordnung! Eine Sauerei! Gar nicht auszuhalten!« Der Herr hielt sich die Fäuste an die Schläfen; er schien fürchterlich enerviert. Die Wartenden drängten sich schon zur Treppe; der Unterbeamte – selbst ganz gebückt vor Schrecken – trieb sie wie eine Herde. »Marsch, marsch! Hinauf! Was steht ihr denn noch herum! Marsch, marsch, marsch!« Er trat auch an Abel heran, der zögernd zurückblieb. – »Worauf warten Sie denn? Sie hören doch, was befohlen worden ist. Hier ist die Treppe – marsch, marsch, marsch – hinauf!«

Abel meinte zu träumen. ›Wo bin ich denn?‹ – besann er sich entsetzt. ›In einem Kasernenhof? Dort kann es so schlimm nicht sein … In einem Konzentrationslager …? Mein Gott: die Unglücklichen fliehen Deutschland – um hier dies zu finden …‹ – Er sagte, mit etwas bebenden Lippen: »Wenn ich recht verstanden habe, so sollen nur die Herrschaften, die im Besitz von Nummern sind, ins obere Stockwerk gehen. Ich habe keine.« – »So lassen Sie sich gefälligst eine geben!« fuhr der Mann ihn an. »Jeder braucht eine Nummer.« – »Ich nicht«, versetzte Benjamin, möglichst gelassen. »Ich habe eine persönliche Verabredung mit Ihrem Chef.« – Hier war es der wütende Herr, der sich einmischte. »Was ist denn hier los?!« Nur die Stimme eines preußischen Unteroffiziers kann solchen Klang haben. »Weigern Sie sich etwa, nach oben zu gehen – he?!« – Abel sagte: »Ich möchte lieber hier warten. Ich habe eine persönliche Verabredung mit Herrn Nathan.« – »Eine persönliche Verabredung mit Herrn Nathan! Ist ja ausgezeichnet!« Der Herr schien vor lauter Ingrimm beinah wohlgelaunt zu werden. Er lachte krächzend, schlug auch die Hände, in einem Anfall von wilder Amüsiertheit, über dem Kopf zusammen. »Sie möchten lieber hier warten! Ist ja famos! – Da könnte jeder kommen!« brüllte er, plötzlich wieder entsetzlich ernst. »Bei uns gibt’s keine Ausnahmen, keine Extrawürste! Alles geht hübsch in Ordnung! Jeder bekommt seine Nummer! Alle werden nach der Reihe vorgelassen! – Gehen Sie hinauf!« forderte er gedämpfter, aber erst recht unheilverkündend. »Oder scheren Sie sich fort!« Dies war als sein letztes Wort gemeint; er stand drohend da, schien auch dazu bereit, mit den Fäusten auf den anderen loszugehen. Abel brachte nur noch hervor: »Eine Schande! Eine unsagbare Schande!« – und war schon am Ausgang. Der Zornige höhnte hinter ihm her: »Auf Wiedersehen!«

In einem langen Brief an Herrn Nathan formulierte Benjamin seine Entrüstung und seinen Schmerz. »Nicht mich hat man gekränkt oder beleidigt«, schrieb er mit einer Hand, die noch zitterte. »Menschen eines solchen Niveaus sind dazu nicht imstande, und übrigens wußte der unerzogene Herr ja nicht einmal, wer ich bin. Vermuten Sie also, geehrter Herr, bitte nicht, es sei gekränkte Eitelkeit, die mich rasend macht. Ich schaudre bei dem Gedanken, daß solche, die in freien Ländern Zuflucht suchen vor der Schmach der Nazibarbarei, hier nicht nur der Not begegnen, sondern neuer Erniedrigung … Gibt es den Begriff der Menschenwürde nicht mehr?«

Am nächsten Morgen meldete sich telefonisch Herr Nathan. Die Stimme, mit der er um Verzeihung bat, klang dumpf. »Mein lieber Herr Professor – wie unglücklich bin ich, daß gerade Ihnen dies geschehen mußte! Erlauben Sie mir, gleich zu Ihnen zu kommen. Mir liegt daran, Ihnen einiges zu erklären …«

Benjamin empfing ihn ein paar Stunden später. Herr Nathan mochte sechzig Jahre alt sein; sein sorgenvolles Gesicht war sehr grau und müde. Unter den Augen gab es dicke Säcke – wie bei einem, der viel geweint hat oder gar zu oft bemüht gewesen ist, Weinende zu trösten. Nathan begann das Gespräch: »Ihr Brief war nicht gerecht, Herr Professor!« Da Abel schwieg, fügte der Alte hinzu: »Ich begreife, daß Sie ihn so schreiben mußten. Aber – glauben Sie mir! – ganz gerecht ist er nicht. Der Mann, der Sie angeschrien hat – mein Freund Petersen – ist ein unermüdlicher Arbeiter. Jeden Tag, den Gott werden läßt, plagt er sich acht Stunden oder noch länger für unsere Flüchtlinge, ohne irgendeine Bezahlung dafür zu nehmen; ohne irgendeinen Vorteil davon zu haben – einfach aus Anständigkeit; weil er es für seine Menschenpflicht hält.« – »Das konnte ich nicht wissen«, bemerkte Benjamin leise, schon etwas beschämt. »Sein Ton war trotzdem abscheulich.« – Nathan räumte ihm ein: »Man sollte niemals die Nerven verlieren. – Wir sind aber alle nur Menschen«, stellte er kummervoll fest. Abel sagte, nicht ohne Schärfe: »Gerade deshalb muß man die Menschenwürde des anderen achten.« Der Leiter des Comités nickte müde. »Gewiß, gewiß …« Er schwieg eine Weile; strich sich den grauen Schnurrbart und blickte, trübe sinnend, über die dicken Säcke hinweg, die wie Gewichte unter seinen Augen hingen. – »Man macht es uns aber nicht leicht«, meinte er endlich, wie als Abschluß eines langen Selbstgespräches, das gewiß nicht heiter gewesen war. »Die Menschenwürde des anderen zu achten – nein, leicht macht man es uns gewiß nicht …«

Dann erzählte er: zu diesem Zweck war er hergekommen. Es wurde deutlich: ihm war nicht nur daran gelegen, das unbeherrschte Verhalten seines Mitarbeiters zu entschuldigen und den Professor solcherart zu versöhnen; er wollte sein Herz ausschütten – sein schweres, betrübtes Herz. »Manchmal könnte man ganz hoffnungslos werden«, sagte der alte Mann. »Mit soviel Enthusiasmus bin ich an diese Arbeit gegangen – und wieviel Enttäuschungen habe ich erleben müssen. – Freilich ist mir auch viel Schönes vorgekommen.« Hierbei lächelte er, zum ersten Mal; es war ein etwas mühsames Lächeln, aber kein künstliches, kein konventionelles. So lächelt einer, dessen Gesicht meistens ernst ist und sich nur selten, nur ausnahmsweise erhellen darf, bei der Erinnerung an ein paar gute Augenblicke.

Was die Enttäuschungen betraf, so waren sie mannigfacher Natur. Vielen von denen, die um Hilfe baten, war kaum zu helfen. Den Unglücklichen fehlten Kraft und Lebenswillen, manchen auch die Intelligenz, einigen sogar die Anständigkeit. Herr Nathan hatte sich für Menschen eingesetzt, von denen später erwiesen ward, daß sie Nazispitzel und Agenten waren: »Einige von diesen Schuften sind sogar Juden gewesen!« konstatierte er mit Ekel und Bitterkeit. Andere wieder waren zu keiner Arbeit mehr fähig; sie klagten nur noch, jammerten den ganzen Tag über ihr hartes Los. »Damit ist kein Geld zu verdienen«, sagte Nathan, der sich dies alles mit ansehen mußte. Er war auch dabei gewesen, als eine junge Frau, deren Gatte in einem deutschen Konzentrationslager saß, sich im Vorzimmer des Comités erschoß. »Solche Szenen vergißt man nicht!« sagte er leise. »Vielen hat das Furchtbare, was sie in Deutschland mitmachen oder mit ansehen mußten, das moralische Rückgrat zerbrochen. Sie sind wie gelähmt; wie Krüppel sind sie geworden, können sich gar nicht rühren. Da sitzen sie nun, und man soll etwas für sie tun. Sie selber aber sind wie gelähmt; reden nichts als Unsinn. Manche sind auch noch mißtrauisch und renitent; kein Wunder, bei all den Erfahrungen, die sie gemacht haben; uns aber erschwert es die Arbeit. Man ist oft so müde. Wüßten Sie nur von all den Schwierigkeiten, all den Schikanen, mit denen wir täglich zu kämpfen haben! Manchmal verliert man die Nerven. Aber wir wollen das Beste! Wir tun, was wir irgend können – glauben Sie mir!« Er sagte es beinah flehend – was nicht nötig gewesen wäre; Abel glaubte ihm. Er zweifelte nicht daran: Nathan war ein guter und gescheiter Mensch; gab sich Mühe; rieb sich auf für eine Sache, die nicht Gewinn brachte, und viel Ehre schien kaum zu erwarten. »Auch das Geld wird knapp«, ließ er wissen. »Zu Anfang wurde reichlich gespendet. Aber die Tragödie dauert zu lange, das allgemeine Interesse läßt nach. Auch scheint das Ganze zu hoffnungslos – ein Faß ohne Boden, wenn ich mich so ausdrücken darf. Es werden immer mehr Flüchtlinge, täglich kommen neue an, unsere Fonds sind beinah erschöpft, unsere Geldgeber lassen sich kaum noch sprechen …«

Die beiden Männer saßen sich gegenüber; eine Weile sagte keiner etwas. Schließlich war es Nathan, der wieder zu sprechen begann. »Es ist schade um die Menschen.« Seine Stimme bebte vor Gram. Der Literaturhistoriker bemerkte: »Das hat Strindberg gesagt.« Nathan nickte. »Vor vielen Jahren … Aber es ist immer noch wahr. Schade um die Menschen – jammerschade um sie …«

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