Czytaj książkę: «Selamlik»

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SELAMLIK

KHALED ALESMAEL

SELAMLIK

ROMAN

Übersetzt von Christine Battermann

und Joachim Bartholomae


Der Originaltitel des Romans lautet Selamlik.

Der Originaltext wurde teils auf Arabisch (Kapitel 3, 6 bis 12), teils auf

Englisch (Kapitel 1, 2, 4, 5) verfasst und bisher lediglich in schwedischer

Übersetzung (ebenfalls unter dem Titel Selamlik) veröffentlicht.

© Khaled Alesmael 2018

Die Gedichte des Schriftstellers Khalil Gibran werden zitiert nach

der deutschen Ausgabe Sämtliche Werke, herausgegeben und übersetzt

von Ursula und S. Yussuf Assaf, erschienen im Patmos Verlag, Düsseldorf

2003 (bis auf die dort nicht enthaltene zweite Strophe auf S. 131/132).

Die Zitate aus dem Koran entstammen der Übertragung von

Hartmut Bobzin, München 2010

1. Auflage

© 2020 Albino Verlag

Salzgeber Buchverlage GmbH

Prinzessinnenstraße 29, 10969 Berlin

info@albino-verlag.de

Aus dem Arabischen von Christine Battermann,

aus dem Englischen von Joachim Bartholomae.

Umschlaggestaltung und Satz: Robert Schulze

Umschlagabbildung: Tammam Azzam

Printed in the Czech Republic

ISBN 978-3-86300-302-9

Mehr über unsere Bücher und Autoren:

www.albino-verlag.de

Dem Andenken an meine Mutter,

die mich lehrte, unabhängig

und stark zu sein.

INHALT

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Glossar

KAPITEL 1
IM ZIMMER MEINER SCHWESTER

Aleppo, das Haus meiner Schwester. Ich stand mitten in ihrem Schlafzimmer, das in mildem Halbschatten lag. Die klapprigen Fensterläden waren geschlossen, um die Nachmittagshitze abzuwehren, doch sie hatte die Fenster geöffnet, und eine warme Brise wehte sanft herein. Der Wind blähte die durchsichtigen Vorhänge, bevor er meinen nackten Körper streifte. Nach der kalten Dusche glitzerte meine Haut, und mein Nacken war feucht von Schweiß. Ich zitterte beim Gedanken an das, was vielleicht bald geschehen würde. Das weiße Handtuch lag zwischen meinen Füßen auf dem feuchten Boden. Ich hob es auf und versuchte, meinen Körper noch einmal damit abzutrocknen; dabei ließ ich den Blick durch den vertrauten Raum schweifen. Das Doppelbett mit reich verziertem Kopfende war ordentlich gemacht und mit einem goldenen Dammasttuch bedeckt. Darüber hing ein großer Kristallleuchter. Auf dem Schminktisch standen zahllose kleine Parfumflakons und Cremetöpfchen; unter den vielen Lippenstiften, Feuchtigkeitscremes und anderen Accessoires meiner Schwester suchte ich nach der Pinzette. Erregt näherte ich mich dem großen Drehspiegel, der die Silhouette meiner Nacktheit reflektierte. Ein neunzehnjähriger Junge, glatt und jungfräulich.

Hinter mir auf dem Boden lag meine Sporttasche. Ich kniete mich hin und durchwühlte die Sachen auf der Suche nach den Unterhosen. Dann stellte ich mich wieder vor den Spiegel und streichelte meine bebenden Muskeln. Ich hob und senkte mehrmals den Unterarm, ging in die Kniebeuge und drückte die Finger in die Achselhöhle; das junge Fleisch dehnte sich elastisch. Ich beschloss, die blau-weiße Hose aus Trikotstoff anzuziehen, es war die schickste Unterhose, die ich damals besaß. Mein Cousin hatte sie mir zur Feier meines ersten Studienjahres an der Universität von Aleppo geschenkt. Dann zog ich mein weißes T-Shirt und kurze Jeans an. Ein Tropfen Wasser oder Schweiß fiel von meiner rechten Armbeuge und lief den Oberkörper hinunter, ich spürte ein leichtes Kitzeln.

Ich nahm die Tasche und meine Turnschuhe und ging langsam ins Wohnzimmer, wo es kühler war. Im Fernsehen lief eine Dokumentationssendung von National Geographic; in der Ecke des Bildschirms wurden Datum und Uhrzeit in digitalen Ziffern angezeigt, 10/06/2000 04:45 pm. Ich setzte mich aufs Sofa; von dort konnte ich meine Schwester in der Küche sehen. Sie bereitete die Lunchbox vor, die ich mit ins Studentenwohnheim nehmen sollte.

Meine Schwester Miriam ist die älteste von uns sechs Geschwistern und das einzige Mädchen. Sie ist fünfzehn Jahre älter als ich. In dem Jahr, in dem ich geboren wurde, zog sie von Deir ez-Zor nach Aleppo. Sie verließ unser Zuhause, um an der Universität von Aleppo Elektrotechnik zu studieren, und verliebte sich dort in einen Kollegen. Er war der älteste Sohn eines der bekanntesten und reichsten Pistazienhändler in Aleppo. Sie heirateten noch während des Studiums. Ich erinnere mich nicht an ihre Hochzeit, aber sie kostete ein Vermögen. Der berühmte syrische Sänger Sabah Fakhri sang auf der Hochzeitsfeier. Ich war ungefähr fünf Jahre alt. Meine Mutter sagte immer, durch Miriams Hochzeit wurde unser Haus ein Selamlik *; das ist türkisch und bedeutet Palast der Männer, denn meine Mutter stammt aus der Türkei. Meine Schwester und ihr Mann machten ihre Examen und zogen in ein schickes Haus in der König-Faisal-Straße, wo sie ihre gerahmten Diplome an die Wand hängten. Ihr Mann arbeitet für seinen Vater, und meine Schwester wurde eine verwöhnte Ehefrau. Sie hat zwei Haushaltshilfen, doch das Essen für ihren Ehemann kocht sie selbst.

Plötzlich wurde die Fernsehsendung unterbrochen, und das bekannte Gesicht eines Geistlichen erschien auf dem Bildschirm. Sein rundes Gesicht mit den dicken Backen war jeden Freitagmorgen im Fernsehen zu sehen, ich kannte es, seit ich ein kleines Kind war. Er starrte in die Kamera, und sein grauer Schnurrbart schien die Worte, die aus seinem Mund kamen, zu bürsten. Doch jetzt zitterte er wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird. Seine sonst heisere Stimme war ein unverständliches Piepsen geworden.

Meine Schwester kam mit der Lunchbox ins Wohnzimmer. Sie blieb mitten im Raum stehen und flüsterte: «Hafiz al-Assad ist tot.» Ich nahm die Fernbedienung und stellte den Ton lauter.

«Syrer und Araber! Heute ist unser mächtiger Führer von uns gegangen, der stets das Recht unserer Nation und unseres Landes verteidigt hat! Der Führer ist von uns gegangen … er, der all unsere Werte und Ideale verkörperte! Der Führer ist von uns gegangen!» Seine Stimme brach. «Der Führer ist von uns gegangen – er, der mehr als ein halbes Jahrhundert für die Einheit der Araber und ihr Ansehen in der Welt gekämpft hat, für ihre Freiheit und ihre Rechte! Er, der die Hurrikans besiegte!»

Erschrocken und verwirrt begann mein Körper wieder zu schwitzen. In der linken Hand hielt ich einen Schuh, und in meinem Kopf brodelten die verschiedensten Gedanken. Eigentlich hätte ich mich freuen sollen, denn dies war das Ende von dreißig Jahren Unterdrückung, doch ich machte ein enttäuschtes Gesicht. Meine Schwester spürte das und fragte mich, ob ich traurig sei. Ich sagte nichts; im wirbelnden Durcheinander in meinem Schädel quälte mich vor allem der Gedanke, was für ein Pech ich hatte: «Verdammt, warum muss er ausgerechnet heute sterben?»

Ich schüttelte den Kopf und verließ den Raum, ging im Flur auf und ab wie ein Tier im Käfig und wusste nicht, was ich tun sollte. Ich trug nur einen Schuh, den anderen hielt ich noch immer in der Hand. Schließlich ging ich ins Badezimmer und schloss mich ein. Die Stimme des Geistlichen verfolgte mich: «Heute ist ein Tag der Traurigkeit in jedem syrischen Heim, jeder Schule, Universität, Fabrik, jedem Bau-ernhof und jedem Laden», rief er. «Alle Herzen sind voll Trauer, gleich ob Mann, Frau oder Kind. Der Gewaltige, der uns verlassen hat, war ein Stück unseres Herzens.»

Zurück im Wohnzimmer. Mein Schwager leistete meiner Schwester schweigend Gesellschaft, beide verfolgten die Übertragungen zum Ende der dreißigjährigen Präsidentschaft von Hafiz al-Assad. Die Nachrichten wurden unablässig wiederholt; das immer gleiche Mantra würde in den nächsten fünf Tagen zu jeder vollen Stunde zu hören sein.

Der Geistliche schluchzte wie ein Kind. Er trocknete seine Tränen und blickte in die Kamera: «Wir schalten nun zur Volksversammlung nach Damaskus.»

Dann verschwand er.

Todesstille erfüllte den Parlamentssaal; die Abgeordneten vergruben sich in ihre Sessel und warteten. Niemand rührte sich. In der Totale eingefroren wurde die Kamera zum unwandelbaren Zeugen des feierlichen Szenarios. Ich stand vor dem Bildschirm und vertiefte mich in die Einzelheiten. Die Wände waren mit wundervollen Damaszener Ornamenten bedeckt, ein sorgfältig handgefertigtes, perfektes Mosaik. Den Boden bedeckte ein auffällig roter Teppich. Von zwei Beisitzern flankiert, verkündete der Vorsitzende der Volksversammlung in feierlicher Pose den Tod des Präsidenten, al-Assad, genannt der Löwe. Die Kamera schwenkte langsam nach rechts und zeigte andere Abgeordnete, ruhte dann auf den Ministern für Gesundheit und Wirtschaft; beide schienen zu weinen und bemühten sich, die heilige Stille nicht durch ihr Schluchzen zu stören. Ein alter Mann in traditioneller syrischer Kleidung stand hinter ihnen, in tiefste Trauer versunken. Der Vorsitzende rief: «Ich bitte um Ruhe!» Seine Stimme klang nun pompös und kräftig. Heute, siebzehn Jahre später, verstehe ich die bedrohliche Bedeutung seiner Mitteilung. «Ehrenwerte Abgeordnete, ich habe soeben die förmliche Petition von mehr als dreißig Prozent dieser Versammlung erhalten, den Artikel 83 * der Verfassung der Syrischen Arabischen Republik zu ändern. Ich bitte Sie deshalb um Zustimmung zu dieser Ergänzung, um sie im Protokoll der heutigen Sitzung niederzuschreiben. Stimmen Sie alle zu?», fragte der Vorsitzende.

Langsam hoben die Abgeordneten erst die gesenkten Köpfe und dann die Hände als Zeichen der Zustimmung. Erleichtert verkündete der Vorsitzende: «Nach Abschnitt 187 der Geschäftsordnung hat die Mehrheit des Präsidiums beschlossen, ein Komitee einzusetzen, um die Änderung der Verfassung vorzubereiten.» Er nannte einige Namen. Aus gutem Grund war ich furchtbar enttäuscht von diesen Nachrichten, die wahrscheinlich die Aussicht vereitelten, ihn heute wiederzusehen. Ich ging auf den Balkon, um frische Luft zu schnappen. Noch immer erregt, zog ich den Schlüssel aus der Tasche; das daran befestigte Schild trug die Nummer 333.

ZWISCHEN RAUM 334 UND 333

Der Tag zuvor, 9. Juni 2000, um drei Uhr nachmittags. Ich war in meinem Zimmer im Flügel der männlichen Medizinstudenten. Das Wohnheim war genau so, wie ich mir ein Selamlik immer vorgestellt hatte, ein Ort, an dem die Männer sich frei fühlen konnten, mit bloßem Oberkörper, nur in Unterwäsche oder mit einem Handtuch um die Hüften herumliefen und über ihre sexuellen Sehnsüchte und sogar die Größe ihrer Schwänze redeten.

Das Studentenwohnheim war neu, denn wir waren die ersten Studenten in diesem Jahr. Es lag in Furqan, einem der schicksten Stadtviertel im Westen Aleppos, wo die reichen Händler mit ihren Familien lebten. Eigentlich wollte ich nicht zur Universität von Aleppo, aber ich musste das erste Jahr dort studieren, bevor ich nach Damaskus ging.

Ich fühlte mich träge, verschwitzt und geil, wie ich so auf dem Bett lag. Für den Kurs über englische Literatur mussten wir Engel und Narren lesen, einen Roman des britischen Schriftstellers E. M. Forster, der die Geschichte einer englischen Dame erzählt, die sich auf einer Reise durch die Toskana in einen Italiener verliebt, der viel jünger ist als sie. Ich hatte mehrere Anläufe unternommen, das Buch zu lesen, doch es begann mich zu langweilen. Ich benutzte es nur noch als Fächer, um mir frische Luft zuzufächeln. Die Luft in dem winzigen Raum war bereits stickig, also öffnete ich das Fenster. Da hörte ich, wie die Tür zum Nachbarzimmer aufgeschlossen wurde, und unerwartet drang derselbe frische und scharfe Duft in meine Nase, den ich schon einmal gerochen hatte, als ich im Flur beinah mit meinem Zimmernachbarn zusammengestoßen war.

Ich hatte ihn schon oft gesehen und spürte, dass er einen besonderen Platz in meinem Leben einnehmen würde. Wie ich herausgefunden hatte, studierte er Dermatologie; seine Zimmernummer war 333.

Ich zog schnell die Shorts zurecht, schnappte mir das Buch und ging in den Flur; einige Studenten liefen lachend ohne Hemd herum, mit einem Handtuch über der Schulter unterwegs zu den Duschen, denn die Zimmer hatten keine Badezimmer. Auf die weiße Tür nebenan war die Nummer 333 gemalt. Ich hörte, wie meine Faust nervös gegen das Holz klopfte. In meinem Kopf überschlugen sich die Vorstellungen, wie er auf mein Eindringen reagieren würde; ich versuchte, mir die Worte zurechtzulegen, die ich sagen würde … die Tür öffnete sich.

Ich errötete bei seinem Anblick. Über den breiten Schultern das bärtige, dunkle Gesicht mit großen dunklen Augen unter buschigen Brauen – so anders als die anderen Medizinstudenten. Er knöpfte sein weißes Polohemd zu und sah mich erstaunt an. Mit einem schnellen Blick sah ich, dass er ein Handtuch und Seife in der Hand hielt. Ich stöhnte «Mir wird schlecht» und sank zu Boden.

Er beugte sich über mich, um mir aufzuhelfen. Ich klammerte mich an ihn, den Kopf auf seiner Schulter, und roch seinen verschwitzten Körper. Unwillkürlich reckte ich mich empor, bis meine Nase sein Ohr berührte. Seine Hände hielten meinen Oberkörper, und unsere Augen trafen sich. Ich war verlegen. Seit ich ihn das erste Mal in der Eingangshalle der Universität gesehen hatte, träumte ich von ihm. Ich spürte seine große Hand auf meiner Stirn. «Komm rein; hast du Fieber?» Er setzte mich auf sein Bett. Mein Herz schlug immer schneller. Ich klammerte mich mit einer Mischung aus Verlangen und Furcht an mein Buch. Er legte Handtuch und Seife auf den Tisch und ging hinaus, ließ mich allein zurück. Ich ertrank in meiner Sehnsucht, ihn zu küssen.

Im Zimmer standen zwei Einzelbetten, von denen nur das eine gemacht war. Auf dem anderen lag die nackte Matratze. In der Ecke stand ein kleiner, halb voller Koffer. Ich öffnete ihn und schaute vorsichtig hinein; seine Unterwäsche und Kleidung waren sorgfältig gepackt. Es war Donnerstag, der Tag, an dem die meisten Studenten zum Wochenende in die Heimat zu ihren Familien fuhren, und er war im Begriff aufzubrechen. Plötzlich wurde ich mir meines kindischen Verhaltens bewusst und ich schämte mich.

Er kam mit einem Glas Wasser zurück. Als er es mir gab, entschuldigte ich mich. Ich berührte seine Hand, die noch feucht war. Er drückte mich sanft zurück auf das Bett und forderte mich auf zu trinken. «Ich weiß nicht, was dieser Schmerz zu bedeuten hat. Mein Herz schlägt viel zu schnell und meine Brust krampft sich zusammen.» Er öffnete den Schrank und nahm die Arzttasche heraus. Er nahm das Stethoskop und versuchte mich zu beruhigen. «Leg das Buch zur Seite und zieh das Hemd aus, junger Mann.» Er klemmte sich mein Hemd unter den Arm. «Wie alt bist du?»

Dann kam er näher und drückte mir das kalte Metall auf die heiße Brust. Ich sah ihm zu, wie er das Blutdruckmessgerät an meinem Oberarm befestigte. Ich betete, das Gerät möge etwas finden, um meine Lügen zu rechtfertigen. Er lächelte und legte die Instrumente auf den Tisch. «Alles prima, kein Grund zur Sorge.» Er setzte sich zu mir aufs Bett und ließ die dicht behaarten Beine langsam hin und her pendeln. Jedes Mal, wenn sie mein Bein berührten, spürte ich einen Stromschlag. Ein paar Sekunden lang dachte ich, er würde mich küssen. Er nahm mein Buch und betrachtete den Umschlag. «Was für ein eigenartiger Titel.» Er schlug es irgendwo auf und las: «Tu nicht so geheimnisvoll, so viel Zeit haben wir nicht.» Er wandte sich zu mir und fragte erstaunt: «Liest du das selbst oder ist es für das Studium?» Dann ließ er die Beine wieder pendeln.

Meine Angst ließ nach und ich gestand, dass ich im ersten Jahr Englische Literatur studierte. Gegenstand dieses Semesters war die Erzählprosa. «Und wie ist das, einen Roman zu studieren?», fragte er und sah mich mit seinen braunen Augen neugierig an. «Inspirierend», sagte ich. «Es ist sehr inspirierend, von den Figuren in diesen Geschichten zu lernen, wie man sein eigenes Leben lebt.»

Er war überrascht, dass ich in dem Flügel des Wohnheims wohnte, der Medizinstudenten vorbehalten ist. Ich sagte ihm, dass mein Onkel in den Siebzigern Bürgermeister von Aleppo war und noch immer großen Einfluss hatte. Er hatte mir dieses Zimmer besorgt, damit ich mich ungestört auf die Prüfungen vorbereiten konnte. Ich schwieg und sah ihn an, mein Gesicht glühte noch immer. Er sagte: «Ich bin Ali aus Tartus.»

Nach seinem Familiennamen zu urteilen gehörte er vielleicht zu einem mächtigen Alawiten-Clan; später erzählte er mir, sein Vater habe eine hohe Stellung in der Regierung. Kinder aus solchen Familien wuchsen ohne Einschränkungen auf, sie konnten zelten, auf Partys gehen und sogar verreisen. Die Mädchen kommandierten beim Friseur die Angestellten herum und drohten, sie dem Besitzer zu melden, wenn sie ihnen die Fingernägel nicht makellos polierten. Die flegelhaften Jungs lernten früh vom Egoismus ihrer Väter und behandelten die Lehrer mit geradezu unglaublicher Arroganz. Auf dem Spielplatz verschütteten sie Saft und ließen Muffins zu Boden fallen, ohne den Dreck selbst wegzumachen. In der Mittelstufe hatte ich einen frechen Mitschüler, dessen Vater Kommandant der Militärpolizei in der Bergregion war, aus der auch Ali stammte. Überall im Land versuchte jeder, von seiner beruflichen Position zu profitieren, genau wie mein Onkel, der mich im besten Teil des Studentenwohnheims unterbrachte.

Ali unterbrach meine Gedanken und bot mir ein heißes Getränk an, Mate. Ich nickte, weil ich ihm mit allen Mitteln gefallen wollte, bedauerte es aber sofort. Der erdige Geruch stieg mir in die Nase, doch er konnte die Erinnerung an meinen Widerwillen gegen den bitteren Nachgeschmack nicht verdrängen, den ich das einzige Mal, das ich Mate getrunken hatte, empfunden hatte. «Ich glaube, es geht mir besser», sagte ich und rieb mir den Bauch. «Du wolltest gerade verreisen, stimmt’s? Ich will nicht, dass du zu spät zum Zug kommst.» Ich nahm mein Hemd vom Bett und spürte seine Hand auf meiner Schulter. «Ich mag dich und möchte dich als Zimmergenossen», sagte er und kam näher heran. «Sonst quartieren sie hier noch irgend so ein Arschloch ein.» Er zeigte auf das freie Bett. «Das ist für dich, aber beeil dich, es bleibt nicht ewig frei.» Bevor ich antworten konnte, nahm er die Schlüssel aus der Tasche. «Sprich mit dem Hausmeister und bring deine Sachen herüber; ich möchte, dass du hier bist, wenn ich morgen Abend zurückkomme», sagte er und nahm meine Hand in seine, die noch immer feucht war. «Und jetzt geh ich duschen.»

DER WEG ZU RAUM 333

«Bleib doch heute Abend noch hier. Das Erziehungsministerium hat für eine Woche alle Prüfungen ausgesetzt; du musst also nicht ins Wohnheim, Habibi *!» Meine Schwester stand hinter mir. «Ich bin sicher, die Muhabarat * sind unterwegs und kontrollieren, wie die Menschen auf die Nachrichten reagieren und ob sich jemand verdächtig benimmt.» Ich zog den Schlüssel aus der Tasche. «Ich habe die Schlüssel für unser Zimmer; mein Mitbewohner kommt heute Abend zurück.» Sie wirkte nicht sehr überzeugt. «Ich verstehe dich nicht.»

Schließlich konnte ich nicht anders und lief eilig davon. Im Bus war jeder schweigend mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Ich schloss die Augen und versuchte, alles andere auszublenden. Das alte Radio übertrug Lesungen aus dem Koran, um den großen Verlust für das Land zu betonen. Die Suren wurden alle fünf Minuten vom monotonen Geräusch der Türen unterbrochen, wenn Passagiere ein- oder ausstiegen.

«Universität!» Der Busfahrer rief den Namen der Haltestelle. Ich stieg aus und folgte einem anderen Studenten.

Mein Schritt wurde schneller, nachdem ich das Tor zur Universität passiert hatte. Niemand war zu sehen. Der Platz, der sonst voller Lachen und lauter Gespräche ist, war verlassen. Ich hatte nur einen Wunsch, anzukommen und die Tür zu öffnen, den Duft zu riechen, der noch immer den Raum erfüllte. Ich war ganz in Gedanken vertieft und achtete auf nichts um mich her. Hier war ein stiller Ort, weit weg vom Spektakel der Trauer, die das ganze Land erfasst hatte.

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