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Kerstin Teschnigg
Und du bist nicht da
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Kapitel 65
Kapitel 66
Kapitel 67
Kapitel 68
Kapitel 69
Kapitel 70
Kapitel 71
Kapitel 72
Kapitel 73
Kapitel 74
Kapitel 75
Kapitel 76
Kapitel 77
Kapitel 78
Kapitel 79
Kapitel 80
Kapitel 81
Kapitel 82
Kapitel 83
Kapitel 84
Kapitel 85
Kapitel 86
Epilog
Impressum neobooks
Prolog
Ich schließe meine Augen und presse meine Lippen aufeinander. „Sag nichts…Sei einfach still…Beruhige dich“, sage ich mir in Gedanken vor. Wenn ich nicht ruhig bin, macht er weiter. Es gelingt mir nicht meine Lippen so fest aufeinander zu pressen, dass sie nicht wie von selbst beginnen zu zittern. Kurz schnappe ich schluchzend nach Luft. Er sieht mich abfällig an, ich senke meinen Blick. Ich habe Angst. Doch da ist auch Wut und Ohnmacht nichts dagegen tun zu können. Ohne ein Wort zu sagen dreht er sich um und geht aus dem Zimmer. Tränen laufen über mein Gesicht. Ich will nicht weinen, aber ich kann nicht anders. Langsam sinke ich zu Boden. Wann hört es auf? Wann wird es endlich aufhören? Ich bin wütend auf mich selbst und alles um mich herum und trotzdem schluchze ich still in mich hinein. Mein Leben ist nichts wert…Ich kann nichts und ich bin nichts. Genau wie er es sagt.
Kapitel 1
Anna – Der erste Sommer
„Es ist doch noch nicht einmal acht. Musst du echt schon gehen?“ Ella sieht mich fast flehend an noch zu bleiben, während ich meine Sachen in meine Badetasche stopfe. Es kommen gleich noch ein paar Mädels aus unserer Klasse, ich würde echt gern bleiben, aber es geht einfach nicht. Ich schüttle den Kopf.
„Ja…Echt…Ich muss mich sowieso schon beeilen damit ich pünktlich daheim bin.“ Ich atme durch und schlüpfe in mein Kleid, zum Ausziehen von meinem nassen Bikini habe ich keine Zeit mehr. „Du weißt doch…“, seufze ich.
Ella erzwingt sich ein aufmunterndes Lächeln. „Sehen wir uns morgen? Es soll ja wieder so heiß werden.“
„Ich glaube schon“, nicke ich und erwidere ihr Lächeln.
Wir umarmen uns freundschaftlich zum Abschied, Ella lässt sich wieder auf ihr Badetuch fallen. Sie ist seit dem Kindergarten meine allerbeste Freundin. Ich würde wirklich noch gerne bleiben, aber ich will einfach keinen Stress. Die Liegewiese ist heute dem schönen Wetter geschuldet immer noch ziemlich voll. Es sind Ferien, dementsprechend chillig ist die Stimmung. Der See ist ruhig, die Sonne verschwindet zwar langsam, aber genau das macht diese besondere Sommerstimmung aus. Echte Sommervibes eben. Aus den Boxen der angeschlossenen Beach Bar strömt coole Musik, genau mein Beat. Mein Blick schweift auf dem Weg Richtung Ausgang nach links. Viele Badegäste haben es sich bereits an der Bar gemütlich gemacht und genießen den immer noch sehr warmen Abend bei ein paar Cocktails. Janine klebt am Schoß eines Burschen und befummelt ihn auf eine Art, die mir allein beim Zusehen peinlich ist. Ella hat mir erzählt er und seine drei Freunde kommen aus England. Sie wohnen seit ein paar Tagen im kleinen Bauernhaus vom Weingut Herzog nicht weit von hier. Anscheinend machen sie eine Tramptour quer durch Europa. Keine Ahnung. Ist mir eigentlich auch egal. Für mich sind sie typische Touristen. Bier trinken und sich befremdlich benehmen. Den anderen Mädels scheint das aber zu gefallen. Einige „Dorfschönheiten“ scharen sich um die Burschen. Ich verdrehe für mich selbst die Augen. Janine ist in ihrem Element. Sie kennt keine Zurückhaltung. Dabei bemerkt sie nicht einmal, dass sie ausgenutzt wird. Welche ernsthaften Absichten können junge Männer die vermutlich noch nicht einmal zwanzig Jahre alt sind schon haben? Die Burschen sind doch bald wieder weg und keiner von ihnen wir sich an sie erinnern. Dann ist sie nicht mehr als eine von vielen auf einer Reise durch Europa. Wobei, wahrscheinlich will sie genau das. Sie lässt keine Chance auf Körperkontakt aus und nachdem sie im Dorf schon fast alle Typen durchhat, müssen es jetzt eben diese Jungs sein.
„Bis Morgen Anna!“, lächelt mich Finni, die bei der Eintrittskasse sitzt, an und reißt mich aus meinen Gedanken.
„Bis Morgen“, erwidere ich freundlich und gehe zu meinem Fahrrad. Wenn ich pünktlich zu Hause sein will, muss ich mich jetzt wirklich beeilen. Ich klemme meine Badetasche auf den Gepäcksträger und fahre los. Ein Stück muss ich auf der Hauptstraße fahren, dann biege ich in die schattige Seitenstraße gesäumt von Apfel- und Birnbäumen ein. Ich genieße den lauen Fahrtwind der durch meine feuchten Haare weht. Es duftet nach frisch gemähtem Heu, das langsam durch die abendlichen Sonnenstrahlen trocknet. Ich amte tief ein. Mein selbst versursachter Wind verschafft mir ein wenig Abkühlung, die zwischen den hohen Maisfeldern erfrischend angenehm ist. Hier staut sich die schwülheiße Luft und der Schotterweg ist von der Wärme des Tages ordentlich aufgeheizt. Die letzten Tage war es echt heiß. Ein richtig toller Sommer. Ich genieße den Lufthauch der unter mein Kleid fährt, bevor es ein Stück bergauf geht. Nach einigen Metern ist der kühle Wind von gerade eben vergessen. Ich trete angestrengt die letzten Meter des Hügels hoch, ich darf nicht schieben, sonst schaffe ich es niemals mehr pünktlich nach Hause. Langsam bilden sich Schweißperlen auf meiner Stirn und mein Dekolletee fühlt sich schweißfeucht an. Ich spüre wie ein paar Schweißtropfen meinen Rücken hinunterrinnen und am Saum meines Bikinihöschens stoppen. Nur noch ein Stück, dann geht es endlich bergab und den Rest bis nach Hause bleibt das so. Hinter mir höre ich Motorengeräusche aus der Ferne. Gerade als ich die Anhöhe geschafft habe, donnern drei Vespas an mir vorbei.
„Hey Baby!“, pöbelt mich einer der Fahrer lautstark an, aber ich sehe nicht zur Seite. Stehen bleiben muss ich jetzt aber doch, weil diese Idioten mit voll Speed die Schotterstraße hochgefahren sind. Dabei haben sie so viel Staub aufgewirbelt, dass ich kaum Luft bekomme. Alle drei Typen haben ein Mädchen mit dabei. Ich schätze es sind die Engländer, denn der Herzog Hof liegt nicht weit von hier. Ich schiebe kurz bevor ich wieder aufsteige und es endlich bergab geht. Ich lasse die Räder laufen, dann beginne ich wieder zu treten um den Schwung nicht zu verlieren. Als ich mich umdrehe, weil ich bemerke das etwas mit dem Hinterrad nicht stimmt ist es schon zu spät. Ich will noch bremsen, doch das gelingt mir nicht mehr. Der Hinterreifen blockiert so abrupt, dass es mir den Lenker verschlägt und ich kopfüber stürze. Alles geht so schnell, ich befürchte es dauert nicht länger als eine Zehntelsekunde. Es macht einen dumpfen Knall. Dann ist es leise.
„Hey…Mach deine Augen auf…“, höre ich eine weit entfernte Stimme. Langsam und beschwerlich folge ich dieser Aufforderung. Mein Kopf tut weh und mein Bein auch. Doch ich blicke direkt in die außergewöhnlichsten blauen Augen die ich jemals gesehen habe. Auch wenn ich komplett benommen bin, diese Augen sehe ich so klar, wie selten zuvor etwas. Sie sind nicht einfach blau. Eher hellblau. So hellblau, dass es fast schon unnatürlich ist. Alles dreht sich. Ich spüre zart eine Hand über meine Wange streichen. Ich schnappe nach Luft, der Sturz hat mir die Fähigkeit normal zu atmen genommen.
„Aua…Scheiße…“, murmle ich und fasse mir an meine Stirn. Zeitgleich fällt mir ein, dass ich jetzt definitiv zu spät komme. Eine befremdliche Panik baut sich in mir auf. Ich will mich aufrichten, doch die blauen Augen hindern mich daran.
„Warte, geht das? Are you ok? Du blutest. Ich kann einen Krankenwagen rufen, oder den Arzt.“ Er dreht sich zu Seite. „Wo ist denn hier der Doktor? I think she needs a doctor.“
Janine beugt sich über mich und grinst schadenfroh. „Brauchst du die Rettung?“
Ich schiebe den blauäugigen Typen zur Seite und richte mich etwas schwerfällig auf.
„Nein, ich brauch die Rettung nicht. Es geht schon“, murmle ich und versuche Janine dabei nicht anzusehen, wäre sie nicht aufgetaucht, würde ich nicht so schnell aufstehen wollen. Ich blicke auf mein Schienbein, das eine ordentlich Schürwunde ziert, in der Schotter klebt, gleich wie in meinen Ellbogen. Mein Arm lässt sich etwas schwer abbiegen, aber ich glaube es ist nichts gebrochen. Mein Fahrrad liegt im Straßengraben. Kurz verschaffe ich mir einen Überblick über das was gerade passiert ist. Mist. Mir ist schwindelig und ich fühle mich komisch. Trotzdem muss ich jetzt weiter. Darum stehe ich auf und putze den Staub von meinem Kleid, auch wenn das nicht viel bringt. Ich will das Rad hochheben, doch der junge Typ meint er hilft mir und zieht es für mich aus dem Graben.
„Aber ich bring dich nach Hause? Wo wohnst du?“, fragt er und sieht mich musternd an. Fast als glaube er nicht, dass ich wirklich ok bin. Zu den blauen Augen und dem musternden Blick gesellt sich ein strahlendes Lächeln. Wow…auch noch schöne Zähne.
„Das ist nicht nötig…Danke…“ Ich greife nach meinem Fahrrad. Er zieht den Schulterriemen meiner Tasche aus einer Speiche.
„Der hat sich eingefangen“, stellt er fest.
Ich sehe ihn kurz an, er ist einer der Engländer, spricht aber ziemlich gut Deutsch. Er hat zwar einen Akzent und manche Wörter kommen etwas schief daher, aber es reicht um ihn gut zu verstehen.
„Verfangen“, bessert ihn Janine aus, während ich ihn immer noch ansehe.
Ich ignoriere sie, ich hasse es, wenn man so herablassend ausbessert, aber von ihr kann man nichts anderes erwarten. Sie ist zwar hübsch, unumstritten, aber sie ist blöd wie ein Ballen Stroh.
„Bist du sicher? Du blutest.“ Er greift sich an die Nase um mir zu signalisieren, dass meine nicht ok ist.
Ich fasse darunter und sehe auf meine blutigen Finger.
„Warte.“ Er dreht sich um und geht zur Vespa, die er ein paar Schritte von meiner Unfallstelle abgestellt hat.
„Die anderen warten bestimmt schon auf uns, Anna wohnt doch gleich da vorn“, beschwert sich Janine und zappelt ungeduldig herum.
„Let them wait…“, murmelt er und kramt im Fach der Vespa. Er kommt mit einem sauberen Taschentuch zurück und drückt es mir unter die Nase.
„Danke“, sage ich etwas verlegen ohne ihn anzusehen.
Ich fühle mich immer noch benommen von dem Sturz und mir ist es total peinlich hier so zu stehen. Ich weiß nicht recht was ich sagen oder tun soll. Das kann auch wirklich nur mir passieren. Janine verdreht genervt die Augen.
„Danke“, wiederhole ich um aus dieser blöden Situation zu entkommen. Ich nehme meine Tasche vom Gepäcksträger, hänge sie mir über die Schulter und will mein Fahrrad losschieben, als er mich am Arm sanft zurückhält.
„Ich kann dich nach Hause fahren. Wo wohnst du?“
Janine atmet hörbar ungeduldig durch.
Ich schüttle den Kopf. „Nein. Es geht schon“, sage ich etwas eindringlicher und gehe los.
„Kommst du jetzt? Es geht ihr doch gut“, beschwert sich Janine. Ich schließe kurz meine Augen und atme durch.
„Anna?“, sagt er mir etwas lauter hinterher.
Ich drehe mich um.
„Bist du sicher?“ Er blickt abwartend zu mir.
Ich nicke und lächle ihn an. Keine Ahnung warum. Weil er sich Sorgen um mich macht. Weil er Janine ignoriert. Weil er süß ist. Ziemlich süß sogar.
„Danke, ja, es sind doch nur ein paar Kratzer.“
„Ok…Wenn du sicher bist?“ Er fährt mit der Hand durch seine dunkelblonden Locken, die im Rest der abendlichen Sonne fast goldig schimmern.
Erneut nicke ich. „Tschüss…“
Ich gehe wieder los und versuche nicht zu humpeln, auch wenn ich das lieber tun würde, weil mein Bein echt weh tut, aber ich will nicht den Anschein machen empfindlich zu sein.
„Bye…“, höre ich ihn noch sagen.
Janine motzt etwas, dann höre ich nicht mehr was sie sprechen, weil er die Vespa wieder startet. Er rollt langsam an mir vorbei. Ich muss einfach noch einmal zu ihm sehen. Unsere Blicke treffen sich, wieder lächelt er und wieder erwidere ich es. Verlegen. Mir wird kurz heiß. Vermutlich bin ich jetzt rot. Dann fährt er an mir vorbei, Janine dreht sich noch einmal um und schlingt ihre Arme fast demonstrativ um seinen Bauch. Sie ist so eine blöde Schlampe. So eine blöde Schlampe... Ich atme durch. Auch wenn ich schon viel zu spät bin, schiebe ich mein Fahrrad den restlichen Weg. Erstens weil ich glaube, dass der Vorderreifen vom Sturz einen Achter hat, zweitens weil mir der Kopf weh tut und drittens hoffe ich, dass der Unfall mein Zuspätkommen zu Hause rechtfertigt. Erst jetzt merke ich wie weh mir alles tut. Die Schürfwunden brennen ordentlich. Ich lehne mein Fahrrad an die Holzwand vom Schuppen und gehe über den Hof ins Haus. Ich bin auf alles eingestellt. Viel schlimmer als mein Sturz kann es heute auch nicht mehr werden. Ich gehe hinein und schlüpfe aus meinen Flip Flops. Mama schaut aus der Küche.
„Anna! Ach du meine Güte…Was ist passiert?“
Ich zucke mit den Schultern. „Ich bin gestürzt. Mit dem Fahrrad.“
„Komm, setz dich in die Küche. Das müssen wir sauber machen. Da sind ja überall kleine Steinchen in den Abschürfungen. Da ist aber nichts gebrochen oder?“
Nein…Kann ich das nicht unter der Dusche machen?“, seufze ich.
Mama schüttelt den Kopf und meint der Schotter muss aus der Wunde. Ich sehe auf die Küchenuhr. Fast halb neun.
„Ist er nicht da?“, frage ich vorsichtig.
„Er musste noch einmal weg.“ Mama streicht durch meine Haare und über meine Wange. Ich amte erleichtert aus und lehne mich zurück. Sie holt das Desinfektionsspray und gibt mir ein kaltes Tuch für meine immer noch blutende Nase.
„Wie ist denn das passiert?“, fragt sie als ich zusammenzucke, weil das Spray fürchterlich brennt.
Ich schließe kurz meine Augen. „Der Riemen von meiner Tasche hat sich verfangen.“
Es lässt sich nicht verhindern, dass ich trotz dem Brennen lächeln muss. Ich habe noch nie solche Augen gesehen. Wunderschöne, fast durchscheinend und aus seinem Gesicht stechende hellblaue Augen. Er ist echt nett. Aber was will er mit Janine? Das verstehe ich absolut nicht.
„Ich glaube mein Fahrrad hat einen Achter…“, murmle ich.
Mama seufzt, sagt sonst aber nichts mehr. Nach ein paar Minuten hat sie alles sauber gemacht und ich bin froh endlich unter der Dusche zu stehen. Die Schürfwunden brennen zwar ordentlich, aber das vergesse ich gleich wieder, wenn ich an das schöne Lächeln denke. Ich weiß nicht einmal wie er heißt. Ich hätte freundlicher sein können. Dankbarer. Ich hätte ihn nach seinem Namen fragen sollen. Mein Gesicht unter den Wasserstrahl haltend schüttle ich den Kopf. Mist. Selbst wenn ich die Augen schließe ist er noch da. Ich seufze und greife an die Stelle an meiner Wange über die seine Finger strichen.
Kurz nach neun liege ich im Bett. Mir tut alles weh und trotzdem schlafe ich mit einem Lächeln auf den Lippen ein.
Kapitel 2
Anna
Ich wach auf und versuche mich vorsichtig durchzustrecken. Wie erwartet tut mir heute noch immer alles weh. Wenn ich ehrlich bin, sogar mehr als gestern. Ich steige aus dem Bett und gehe zum Fenster um den Vorhang zu öffnen. Meine Schürfwunden sehen nicht wirklich gut aus. Es zieht und brennt fürchterlich. Ich reibe mir die Augen und wuschle meine Haare mit den Händen durch. Nachdenklich streiche ich mit dem Zeigefinger über meine Wange. Ich schließe meine Augen und lächle.
Kurz nach acht gehe ich nach unten in die Küche und mache mir eine Tasse Kakao. Durch das offene Küchenfenster sehe ich Mama die im Garten arbeitet. Es wird heute wieder heiß, die Sonne strahlt schon ausgelassen und der Duft der warmen Luft fährt durch meine Nase. Ich nippe an meiner Tasse. Keine Ahnung ob ich so zum See kann. Mir tut alles weh, vermutlich wäre es besser im Haus zu bleiben.
„Guten Morgen“, lächelt mich Mama an, die mit einer Schüssel voll Gemüse in die Küche kommt.
„Guten Morgen“, erwidere ich ihr Lächeln. Sofort sieht sie musternd auf meine Wunden.
„Das sieht nicht so gut aus Anna.“
„Das ist nichts. Es sieht schlimmer aus als es ist.“
„Dein Vater meinte er muss den Vorderreifen von deinem Rad tauschen. So kannst du nicht mehr damit fahren.“
Ich nicke wortlos und bin froh darüber ihm weder gestern Abend, noch heute Morgen begegnet zu sein.
„Du solltest heute aber sowieso nicht in die Sonne gehen und schon gar nicht ins Wasser.“
„Ich kann mich in den Schatten setzen. Ella wartet doch auf mich.“
Sie zieht die Augenbrauen hoch. „Du bist auch ganz blass. Bleib heute besser zu Hause.“
Auch wenn ich es nicht zugeben will, Mama hat vermutlich Recht. Die Sonne und die Hitze würden mir heute nicht wirklich guttun. Ich seufze hörbar. Gerade heute möchte ich so gerne wie selten zuvor an den See. Nachdem ich Ella angerufen habe, die es ziemlich schade findet, dass ich nicht komme, aber froh ist, dass bei meinem Sturz nicht mehr passiert ist, stelle ich mich unter die kalte Dusche. Das kühle Wasser läuft über meine Schultern, ich greife mir an den Kopf der immer noch ein bisschen weh tut. Ob er heute auch wieder am See ist? Er hat so ein schönes Lächeln. Ich schließe meine Augen und amte durch. Es ist doch gar nicht wichtig ob er dort ist oder nicht. Ich sollte mich nicht damit beschäftigen. Wozu auch? Ich steige aus der Dusche und betrachte mich in ein Handtuch gewickelt vor dem Spiegel. Ich bin froh, dass meine Haare nach einer mir heute unverständlichen Aktion vor ein paar Monaten wieder länger geworden sind. Damals habe ich mir eingebildet sie müssen abgeschnitten werden. Ich bin nach der Schule in einen Frisörsalon in Graz gegangen. Einfach so. Ohne viel darüber nachzudenken. Es waren bestimmt mehr als fünfzehn Zentimeter. Mein Vater hat fast durchgedreht, als ich so nach Hause kam. Nein, nicht fast, er hat definitiv durchgedreht. Jetzt sind sie zumindest wieder soweit nachgewachsen, dass ich sie zusammenbinden kann. Ich würde so gerne ein paar Strähnchen in mein fades dunkelbraun machen lassen, aber auch das würde bei meinem Vater nicht gut ankommen. Ich schüttle den Kopf und sehe dabei mein Spiegelbild an. Ich bin jetzt fast achtzehn und komme mir vor wie ein Baby. Wie ein Vogel eigensperrt in einem goldenen Käfig. Ja ich habe alles was ich brauche, eigentlich sogar mehr. Doch was ich will, bekomme ich nicht. Meine beiden Brüder sind lange aus dem Haus, beide sind viel älter als ich. Als Nachzüglerin sitze ich jetzt in diesem Haus und hasse mein Dasein manchmal wirklich. Ich beneide meine Brüder die im Ausland leben. Paul ist Kellermeister auf einem großen Weingut im französischen Burgund und Sebastian lebt schon lange in New York, wo er für ein große Softwarefirma arbeitet. Er hat eine Amerikanerin geheiratet und inzwischen ein kleines Mädchen, das ich noch nie live gesehen habe. Die beiden sehen wenig Anlass zurück in die Steiermark zu kommen. Meine Mama leidet sehr darunter. Sie würde ihre Enkelin gerne sehen und ihre Söhne auch. Keine Ahnung ob ich auch weg gehe wenn ich die Matura in der Tasche habe. Ich bin schon froh, dass ich auf die Ortweinschule gehen durfte. Mama musste Papa dafür wochenlang gut zureden. Kunst und Design, was für ein Blödsinn hat er immer wieder gesagt und er ist bei seiner Meinung geblieben. Ich hätte besser etwas Bodenständiges machen sollen. Künstler. Fotos machen. Wozu soll das gut sein? Das höre ich fast jeden Tag. Ich liebe allerdings genau das. Es macht mir Spaß die Dinge aus einer anderen Perspektive zu sehen und durch die Linse einer Kamera lässt sich das sehr gut umsetzten. Die Welt ist so viel mehr als man mit den Augen sehen kann. Viele Dinge sind schön, auch wenn man das nicht auf den ersten Blick erkennt.
Ich helfe Mama ein bisschen in der Küche, danach verkrieche ich mich in meinem Zimmer. Der Tag scheint endlos zu sein, die Zeit vergeht einfach nicht. Gerade als ich in den Garten gehen will, weil es ein bisschen kühler geworden ist, klopft es an meiner Tür. Ella steckt den Kopf ins Zimmer.
„Hey…Wie geht es dir?“, fragt sie und zieht beim Anblick meiner Schürfwunden die Augenbrauen hoch.
„Hey…Geht schon…Wie schön, dass du vorbeikommst!“ Ich springe auf und falle ihr um den Hals.
„Scheiß Fahrrad…“, murmelt sie und mustert meine Verletzungen. „Kommst du morgen wieder mit zum See?“
„Ich wäre heute schon gern gekommen, aber Mama meinte das wäre nicht so gut.“
Ella nickt seufzend.
„War etwas Besonderes heute?“, frage ich vorsichtig, während wir nach unten gehen. Ich nehme zwei Eis für uns aus dem Gefrierfach, bevor wir in den Garten gehen. Wir setzen uns auf die Bank unter dem schattigen Kirschbaum. Ella schüttelt den Kopf.
„Nein…Ohne dich ist es ja sowieso fad.“
Ich nicke. „Waren die Jungs die am Herzoghof wohnen auch wieder dort?“ Meine Stimme ist ganz leise und die Frage fast beiläufig.
„Ja. Die waren auch dort.“
„Aha. Janine auch?“
„Ich glaub schon. Seit wann interessiert dich Janine?“
„Sie interessiert mich nicht.“
Ella beugt sich neugierig zu mir. „Und darum fragst du mich nach ihr?“
Verlegen zupfe ich an meinem Shirt. „Einer von den Jungs hat mir gestern geholfen nach dem Sturz.“ Ich merke wie meine Wangen heiß werden.
„Ok…Und?“, Ella sieht mich grinsend an.
„Er war nett“, füge ich hinzu.
„Nett…Ach so. Und darum bist du jetzt so rot geworden?“
Ich zucke mit den Schultern. „Ja…Nett.“
Sie grinst weiter und verdreht die Augen.
„Er wollte mich sogar nach Hause bringen“, schwärme ich. „Aber das ging nicht. Du weißt doch, mein Vater hätte durchgedreht, wenn mich ein Bursche herbringt. Obwohl…Er war gar nicht zu Hause.“
Ella grinst immer noch breit. „Er gefällt dir. Es ist also der, der mit Janine herumhängt. Wie kann er nett sein, wenn er mit dieser Schlampe etwas anfängt?“
Wieder zucke ich mit den Schultern. „Keine Ahnung. Es ist sowieso Zeitverschwendung darüber nachzudenken. In ein paar Tagen ist er wieder weg.“
„Ja, stimmt. Aber wenn er so nett ist.“ Ella gibt mir einen kleinen Schubs.
Ich muss lächeln. Trotzdem versuche ich der Sache nicht mehr Bedeutung als nötig zu schenken. Ella bleibt noch ein bisschen, aber wir reden nicht mehr über das Vorgefallene. Ich beschließe sie noch ein Stück zu begleiten. Sie schiebt ihr Fahrrad, wir schlendern unsere Auffahrt hoch. Papa biegt ein und hält neben uns an.
„Servus Ella“, begrüßt er sie, während er mich musternd ansieht. „Servus Anna. Mama hat mir von deinem Unfall gestern erzählt. Wie geht denn das auf einer kerzengeraden Straße?“
„Hallo…Ja… Weiß ich auch nicht.“ Ich senke meinen Blick.
Er verdreht genervt die Augen. „Das Fahrrad habe ich heute in den Ort zum Reparieren gebracht, jetzt musst du halt ein paar Tage ohne auskommen.“
Ich nicke. „Danke…Ja… Ich gehe zu Fuß.“
„Oder du bleibst einfach daheim.“
Ohne meine Antwort abzuwarten fährt er weiter. Ich schließe kurz meine Augen. Das wäre ihm das Liebste. Mich daheim einsperren. Sicher. Ella kommentiert die Ansage meines Vaters nicht, sie kennt ihn lange genug.
„Ich kann meine Mama morgen fragen ob sie uns zum See fährt, wenn du willst.“
„Es geht auch zu Fuß. So weit ist es ja nicht. Treffen wir uns vorne an der Kreuzung zur Hauptstraße?“
Sie nickt und drückt mich zum Abschied. Gerade als sie losradeln will, höre ich ein Moped. Ich höre es schon ehe ich es sehe und trotzdem beginnt mein Herz sofort schneller zu schlagen. Ella bleibt noch einmal stehen und sieht mich mit großen Augen an.
„Vielleicht ist er das?“ Ihre Augen verdrehen sich dabei vielversprechend.
Noch bevor sie den Satz zu Ende gesprochen hat, weiß ich das er es ist. Ich erkenne ihn.
„Er ist es…“, murmle ich leise.
Ella schmunzelt und fährt los. Ich will ihr noch hinterherrufen wie sie mich jetzt einfach so allein hier stehen lassen kann, doch da ist sie schon dahin und die Vespa hält neben mir. Er nimmt seinen Helm ab, fährt sich durch die Haare und lächelt mich an. Ich muss zusehen, dass mir der Mund nicht offensteht.
„Hi“, lächelt er immer noch. Dabei strahlen seine Augen, mir wird ganz komisch.
„Hallo“, erwidere ich und habe Angst, dass meine Stimme versagt.
„Bist du ok? Ich habe dich heute nicht am See gesehen.“ Er sieht auf mein Bein.
Ich nicke zaghaft und weiß nicht Recht was ich sagen soll. In einer klaren Sekunde fällt mir ein, dass ich mich bedanken sollte.
„Danke für deine Hilfe gestern. Das war echt nett.“
„Ich habe nicht wirklich geholfen. Du wolltest dir ja nicht helfen lassen.“
„Doch…Es war echt nett von dir. Ist ja nichts passiert.“
Er legt seinen Kopf zur Seite. Seine Augen strahlen. Wow….
„Anna, nicht wahr?“
Das Anna sagt er dabei nicht wie es hier bei uns ausgesprochen wird, sondern mit seinem englischen Akzent. Das klingt irgendwie besonders. Ich nicke.
„Kommst du mit? Wir wollen noch grillen bei unserem Ferienhaus.“
Mir bleibt fast das Herz stehen. Ich? Mit ihm mitfahren? Gott…
„Ich?... Ich kann nicht…Leider…aber Danke für die Einladung“, sage ich fast ein bisschen zu schnell.
Er zuckt etwas enttäuscht mit den Schultern. Ich würde schon gern. Ja. Sicher. Zwar nicht in meinem Aufzug und nicht ganz so spontan, aber natürlich will ich ja sagen.
„Darf ich dich denn heute nach Hause bringen?“
Ein weiterer Stich. Ich bekomme fast keine Luft. Möglichst unbemerkt hole ich Luft.
„Ich habe nur ein paar Meter“, sage ich dann schnell.
„Ok.“ Wieder scheint er enttäuscht über meine Abfuhr zu sein.
Er setzt seinen Helm auf und ich befürchte gerade alles falsch gemacht zu haben. Eine seltsame Panik steigt in mir auf. Wenn er jetzt wegfährt, was dann?
„Aber ich komme morgen wieder zum See“, sage ich darum schnell. Es klingt so plump, dass mir sofort die Schamesröte ins Gesicht steigt.
„Morgen?“ Er lächelt wieder. Zum Glück. Ich nicke.
„Ok. Dann sehen wir uns morgen“, meint er.
Wieder nicke ich. Vermutlich viel zu offensichtlich und euphorisch. Ich kann nichts mehr sagen und meine Knie fühlen sich etwas wackelig an. Er startet die Vespa, ich bekomme kaum Luft, so komisch fühle ich mich.
„Ich heiße übrigens Julian“, sagt er noch und zwinkert mir dabei zu. „Bis morgen Anna.“
Ich kann nichts mehr sagen. Er fährt los. Julian. Nicht wie Julian, sondern wie das englische Julian. Ich sehe ihm perplex hinterher. Er dreht sich noch einmal um und winkt mir zu. Verlegen erwidere ich es. Wie von selbst gehe ich los. Julian. Wow… Er sieht so gut aus. Braungebrannt. Coole Haare. Lässige Shorts. Unglaublich schöne Augen. Wow…