Seewölfe - Piraten der Weltmeere 82

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Seewölfe - Piraten der Weltmeere 82
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Impressum

© 1976/2014 Pabel-Moewig Verlag KG,

Pabel ebook, Rastatt.

ISBN: 978-3-95439-399-2

Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

1.

Die Nacht hatte keine Abkühlung gebracht.

Etwas anderes als Luft schien über der winzigen Urwaldlichtung zu lasten, ein schwarzes, zähflüssiges Wabern, das mit dem heraufdämmernden Morgen grau wurde und sich wie klebriger Leim über die Haut legte. Ein unsichtbares Gewicht drückte auf die Männer, die im Schlaf der Erschöpfung lagen. Es erschwerte das Atmen, aber es waren nicht diese mühsamen Atemzüge, die den Seewolf weckten.

Philip Hasard Killigrew fühlte den rauhen Stein des Felsblocks im Rücken, an den er sich gelehnt hatte. Und er fühlte noch etwas anderes: eine leichte Bewegung an seiner Brust. Reglos verharrte er, ohne den Rhythmus seiner Atemzüge auch nur im geringsten zu ändern. Wenige Tage in der Fieberhölle von Guayana hatten ihn gelehrt, wie man den hundertfältigen Gefahren des Urwalds begegnet.

Vorsichtig öffnete er die Augen.

Graue Dunkelheit. Zwischen Baumriesen, Schlinggewächsen und toten Stämmen erinnerte die Luft an regloses, schmutziges Wasser. Behutsam senkte Hasard den Kopf – und brauchte seine ganze Beherrschung, um nicht zusammenzuzucken.

Quer über seine Brust ringelte sich eine dünne, schillernde Schlange.

Der flache Reptilienkopf bewegte sich, unruhig und suchend. Der schlanke Leib leuchtete zinnoberrot, hatte winzige schwarze Punkte und schwarze, grünlich gesäumte Streifen. Selbst im grauen Morgenlicht war die Schönheit des Farbenspiels zu erkennen, doch Hasard hätte gern darauf verzichtet, eine wenn auch noch so schöne Giftnatter aus der Nähe zu bewundern.

Sein Mund wurde trocken.

Immer noch rührte er sich nicht, aber er konnte nicht verhindern, daß sein Herz gegen die Rippen trommelte. Die Natter richtete den Kopf auf, als spüre sie das dumpfe Pochen. Lautlos glitt der schimmernde Schlangenleib weiter, bewegte sich über die Fetzen von Hasards Hemd, berührte kühl und glatt seine nackte Haut, und ein eisiges Prickeln lief über seinen Körper.

Er schloß die Augen, öffnete sie wieder.

Jetzt nur keine Panik, keine unbedachte Bewegung! Hasard hatte noch nie eine solche Schlange gesehen, aber er hatte genug über diese buntschillernden Biester gehört, um zu wissen, daß sie giftig waren und angriffslustig wurden, wenn irgend etwas sie erschreckte. Hasard hatte nicht vor, das Tier zu erschrecken. Aber dicht neben ihm schliefen Ferris Tucker und Big Old Shane, lag Edwin Carberry mit seiner Donnerstimme, und wenn der erst einmal wach wurde …

Behutsam löste Hasard seine Hand von dem feuchten Felsen.

Inch um Inch bewegte er sie aufwärts und spreizte Daumen und Zeigefinger zu einer offenen Klammer. Der Schweiß, im tropischen Urwald ohnehin ein Dauerbegleiter, rann in Bächen über sein Gesicht und brannte in den Augen. Nur noch wie durch einen Schleier sah er den sacht schwingenden Kopf der Natter und seine eigene Hand, die sich unendlich langsam auf das Tier zuschob.

Er grub die Zähne in die Unterlippe, bis er Blut schmeckte.

Für den Bruchteil einer Sekunde konzentrierten sich alle seine Nerven und Sinne, dann zuckte seine Rechte blitzartig vor.

Knapp unter dem flachen Kopf bekam er die Natter zu fassen, riß sie von sich weg und sprang keuchend auf die Beine. Der Schlangenleib zuckte und peitschte, weit öffnete sich der Rachen mit den spitzen Giftzähnen. Hasards Faust preßte sich zusammen. Mit geschlossenen Augen drückte er zu, bis der Reptilienkörper erschlaffte. Dann erst schleuderte er die Natter mit einer angeekelten Bewegung von sich.

„He, was …“

Dan O’Flynn war es, der als erster aus dem Schlaf schreckte und blindlings hochtaumelte. Hinter und neben ihm richteten sich die anderen Männer auf, ächzten, blinzelten und versuchten, die bleierne Schwere aus den Gliedern zu schütteln. Sie starrten den Seewolf an, dann die buntschillernde, jetzt leblose Schlange, dann wieder Hasard, und seine zusammengepreßten Lippen verrieten ihnen deutlich, was passiert war.

„Himmel, Arsch und Kabelgarn“, stöhnte Ed Carberry ergriffen.

„Du sagst es. Ich hätte das Biest fast am Hals gehabt.“ Hasard rieb sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn und lächelte verzerrt.

„Wir müßten was gegen diese verdammte Brut unternehmen“, knurrte der Profos.

„Und was? Unsere Wachen können nicht auf die Spanier und auch noch auf Schlangen aufpassen. Die Biester sieht und hört man ja nicht. Wir müssen so schnell wie möglich aus dieser stinkenden Hölle heraus und zurück auf die gute alte ‚Isabella‘ – das ist es!“

Ja, das war es. Die Männer nickten zustimmend, aber Hasard wußte selbst, daß es leichter gesagt als getan war. Die „Isabella“ saß auf einer Untiefe vor der Teufelsinsel fest und wurde von Spaniern bewacht. Zwar hatten sie den Dons eine vernichtende Niederlage beigebracht, hatten zwei Galeonen mit Brandsätzen vernichtet und heillose Verwirrung gestiftet, aber inzwischen war der anfängliche Triumph über diesen Teilerfolg längst verflogen.

Sie hatten sich erneut in den Urwald zurückziehen müssen, in eine Hölle, die ihnen mit mörderischer Hitze, Fieber, Schlangen und hundert anderen Gefahren zusetzte. Sie waren erschöpft, am Ende ihrer Kraft, und mußten ständig damit rechnen, von den rachedurstigen Spaniern aufgespürt zu werden. Wenn sie auch jetzt, nach dem heimlichen Besuch Dan O’Flynns und Hasards an Bord der „Isabella“, über ein Boot, ein paar Pistolen, einen Beutel mit Perlen und einige Werkzeuge verfügten – von einer ausreichenden Ausrüstung und Bewaffnung konnte noch lange nicht die Rede sein.

Trotzdem kannten sie alle nur ein einziges Ziel: die Teufelsinsel.

Hasard dachte nicht daran, die „Isabella“ aufzugeben. So wenig wie Ben Brighton daran dachte, Tucker, Carberry, Dan, Big Old Shane oder einer der anderen. Selbst Bill, der fünfzehnjährige Schiffsjunge, brannte darauf, es den Dons zu zeigen. Und Dans Vater, der alte Donegal Daniel O’Flynn, der wegen seines Holzbeins am meisten unter dem schrecklichen Marsch durch die Fieberhölle gelitten hatte, bewies seine wiedererwachten Lebensgeister, indem er die Spanier mit Flüchen belegte, bei denen selbst der eisenharte Profos nur noch staunen konnte.

Jetzt allerdings war der zähe alte Mann zu sehr mit seinen schmerzenden Gliedern beschäftigt, um noch zu fluchen. Hasard ließ die Wachen ablösen und sah nach Smoky, dem der Kutscher ein Stück Blei aus der Schulter geholt hatte und dem es jetzt schon etwas besser ging. Bill, Blacky, Stenmark und der hagere Gary Andrews hatten Früchte gesucht, die zugleich den Durst löschten. Mit den ersten Sonnenstrahlen begann der Dschungel zu dampfen. Im weißen, erstickenden Dunst kauerten die Seewölfe auf der Lichtung und berieten ihre nächsten Schritte.

Ferris Tucker, der rothaarige Schiffszimmermann, streichelte gedankenverloren den Griff der mächtigen Axt, die er schon während der Gefangenschaft auf der Teufelsinsel an sich gebracht hatte. Ohne ein solches Ding an seinem Gürtel hätte er sich nur als halber Mensch gefühlt. Er war froh, daß er die Axt hatte, aber das konnte ihn nicht darüber hinwegtäuschen, daß es mit ihrer Bewaffnung ziemlich trübe aussah.

„Wir können die ‚Isabella‘ nicht unter den Augen der Dons wieder flottmachen“, sagte er. „Und mit den paar Pistolen und Messern können wir nicht die Teufelsinsel leerräumen und einen Krieg mit Cayenne anfangen.“

„Aber der schwarze Segler wird uns suchen“, erklärte Bill mit funkelnden Augen.

Hasard nickte grimmig. Ja, der schwarze Segler würde sie suchen, nachdem die „Isabella“ nicht an dem vereinbarten Treffpunkt zwischen Paramaribo und Cayenne erschienen war. Siri-Tong und Thorfin Njal würden Himmel und Hölle in Bewegung setzen. Aber auch der Wikinger und die Rote Korsarin konnten nicht hellsehen.

„Suchen und finden, das sind zwei Paar Schuhe“, knurrte Ed Carberry. „Sollen wir hier vielleicht Wurzeln schlagen, was, wie? Sollen wir warten, bis diese spanischen Rübenschweine die alte ‚Isabella‘ in die Luft sprengen, bevor wir ihnen die Haut in Streifen von ihren Affenärschen … Ah, du verlauster Decksaffe!“

Der letzte Fluch galt Arwenack, dem Schimpansen, der sich wie auf ein Stichwort aus dem grünen Himmel der Baumwipfel auf Carberrys Schulter herabgehangelt hatte. Jetzt sprang er keckernd auf den Boden und rettete sich zu seinem besonderen Liebling Dan O’Flynn.

Hasard grinste leicht. Der Schimpanse hatte sich tagelang allein auf der „Isabella“ versteckt, bis er und Dan ihn bei ihrem heimlichen Besuch von Bord geholt hatten. Und der Seewolf mußte zugeben, daß er das Maskottchen der Crew vermißt hatte.

„Wir sollten herausfinden, was die Spanier vorhaben“, schlug Ben Brighton, der Bootsmann, in seiner ruhigen Art vor.

 

Hasard nickte. „Richtig, Ben. Da sie uns immer noch suchen, müßte es uns gelingen, auf eins ihrer Lager zu stoßen. Wenn wir ihre Pläne kennen, können wir sie durchkreuzen und uns darauf einstellen. Allerdings müßten wir dafür etwas beweglicher sein“, fügte er hinzu, wobei er unwillkürlich nach dem breiten, massiven Halseisen tastete, unter dem die aufgeschürfte Haut bei jeder Bewegung wie Feuer brannte.

Auch die anderen trugen noch diese Erinnerungsstücke an die mörderische Gefangenschaft auf der Teufelsinsel. Von den Ketten hatte sie Ferris Tucker mit der Axt befreit, doch die Halseisen waren nicht so leicht zu lösen. Welche Qual es war, sich mit diesen Dingern schnell bewegen zu müssen, hatten Hasard und Dan bei ihrem Ausflug auf die „Isabella“ zur Genüge erfahren.

„Diese niederträchtigen Kakerlaken“, knirschte Carberry. „Diese Rübenschweine! Diese dreimal um die Rahnock gewickelten Klabautermänner …“

Er stockte abrupt. Denn neben ihm war Big Old Shane aufgestanden und griff in seiner bedächtigen Art nach dem Beutel mit den Werkzeugen, den Hasard von der „Isabella“ mitgebracht hatte. Der Hüne suchte darin herum, kratzte seinen grauen Bart und blickte dann Hasard an.

„Wenn ich es richtig sehe, willst du dieses Himmelfahrtskommando ja wohl anführen, was?“

„Und ob du das richtig siehst“, erwiderte der Seewolf.

„Na, dann setz dich mal! Das kriegen wir schon. Wozu ist man schließlich Schmied auf Arwenack gewesen – was, wie?“

Carberry blähte die Nasenflügel. Fing jetzt auch schon dieser Graubart an, sich über ihn lustig zu machen, indem er seine Sprüche klaute? Der Profos murmelte etwas von Haut und Streifen und Affenarsch, aber dann sah er fasziniert zu, wie Big Old Shane mit seinen riesigen, aber ungeheuer geschickten Pranken das Schloß von Hasards Halseisen untersuchte.

Der hünenhafte Schmied nickte ein paarmal. Schließlich wählte er einige Nägel verschiedener Größe als Werkzeuge aus. Einmal holte er kurz Luft, und dann bogen seine kräftigen Finger die stabilen Nägel zu Haken zurecht, als beständen sie aus Wachs statt aus Eisen.

Was dann folgte, war ein Geduldsspiel.

In mühseliger Arbeit knackte Big Old Shane das Schloß des Halseisens. Die anderen sahen zu: fasziniert, brennend vor Ungeduld. Jedesmal, wenn einer der Haken abrutschte, zuckten sie zusammen, fluchten unterdrückt. Ihre Nerven wurden auf eine harte Probe gestellt, aber sie würden noch feststellen, daß bei dem Delinquenten mehr als nur die Nerven strapaziert wurde.

Das Halseisen lag eng an, und es scheuerte empfindlich auf der ohnehin zerfetzten Haut, wenn Shane seine nicht eben schmalen Finger dahinterschieben mußte. Abrutschende Nagelspitzen hinterließen Kratzer, ein paarmal hatte Hasard das Gefühl, im nächsten Moment zu ersticken. Sein Blick glitt über die Gesichter der Männer, die in stummer Spannung verharrten, und er fragte sich, warum, zum Teufel, Ed Carberry nicht für ein bißchen Unterhaltung sorgte mit einigen saftigen Verwünschungen gegen die Spanier, die ihnen diese Teufelsdinger angelegt hatten.

„Jetzt“, brummte Big Old Shane nach einer Weile.

Das Wort wurde von einem Ruck begleitet, der Hasard fast den Kopf abriß, aber dafür schepperte das Halseisen neben ihm auf den Felsen. Erleichtert atmete er auf, tastete über die zerschundene Haut an der Kehle und zog rasch die Finger zurück, weil es höllisch brannte. Mit einem grimmigen Lächeln wickelte er sich einen Fetzen Tuch um den Hals. Als Verband war das zwar völlig ungeeignet, aber es würde wenigstens das Schlimmste verhüten: daß Insekten ihre Eier in den Wunden ablegten und sich diese gräßlichen Maden bildeten, die die Haut anfraßen und schlimme Entzündugen verursachten.

„Und jetzt?“ fragte Big Old Shane mit einem tiefen Atemzug.

Hasard sah in die Runde. Er blickte in abgezehrte Gesichter, eingesunkene, fiebrig glänzende Augen. Eigentlich war jeder seiner Männer reif für eine lange Erholungspause. Eigentlich! Aber sie hatten ja keine Wahl, wenn sie in dieser Hölle nicht elend verrecken wollten.

„Ben und Dan“, sagte Hasard knapp. „Ferris, Ed Carberry, Matt Davies, Batuti …“

Und damit war klar, wer an dem kitzligen Stoßtrupp-Unternehmen teilnehmen würde.

Der „Eilige Drache über den Wassern“ lag mit aufgegeiten Segeln auf der Höhe zwischen Paramaribo und Cayenne.

Wie schwarzes Filigran hoben sich Masten und Stangen im Morgengrauen ab. Die See war ruhig, im Osten über der Kimm lag gleich dem Widerschein einer Feuersbrunst die Glut der aufgehenden Sonne.

Siri-Tong stand an der Schmuckbalustrade des Achterkastells. Ihre rote Bluse leuchtete im brennenden Rot des erwachenden Morgens. Die leichte Brise griff in ihr langes schwarzes Haar, hob es an und ließ es wie ein dunkles Vlies um ihre Schultern fließen.

Massig und dunkel ragte neben ihr die Hünengestalt des Wikingers auf. Thorfin Njals Bart wehte, der Wind strich über die zottigen Felle, die seine Hüften, den Rücken und den mächtigen Brustkasten bedeckten. Nicht einmal hier in den Tropen trennte sich der Riese aus dem Norden von seiner Fellkleidung. Genausowenig, wie er sich je von dem Kupferhelm trennte, dessen Beulen und Kratzer nur zu deutlich bewiesen, wie oft er seinen Träger schon vor einem gespaltenen Schädel bewahrt hatte.

„Es ist sinnlos, glaube ich.“

Die Stimme ertönte aus dem Halbdunkel. Thorfin Njal verengte die Augen, die Rote Korsarin fuhr leicht zusammen. Nicht, weil sie die dunkle Gestalt hinter sich nicht vermutet hatten, sondern weil es höchst ungewöhnlich war, daß der Boston-Mann in einer solchen Situation den Mund auftat.

„Es ist sinnlos“, wiederholte er leise. „Jetzt kommen sie nicht mehr.“

Siri-Tong blähte die Nasenflügel und sog die frische, feuchte Luft ein. Ihre schrägen Augen schimmerten, als sie noch einmal die verschwimmende Linie der Kimm absuchte.

„Sie werden kommen“, beharrte sie.

„Nein, Siri-Tong.“ Der Wikinger formte die Worte tief in der Kehle und wandte sich mit einer bedächtigen Bewegung um. „Sie sind vorausgesegelt, Siri-Tong! Wenn sie auf dem Weg bis hierher in irgendeinen Schlamassel geraten wären, hätten wir es bemerkt, schließlich haben wir Augen im Kopf. Nein, sie kommen nicht mehr. Sie sind schon weiter im Süden.“

„Sie wären rechtzeitig zurückgekehrt“, protestierte die Rote Korsarin.

Der Wikinger zuckte mit den mächtigen Schultern. „Sie wären rechtzeitig zurückgekehrt, wenn sie es gekonnt hätten. Wahrscheinlich sind sie weitergesegelt und dann in irgendwelche Schwierigkeiten geraten. Im Süden …“

„Cayenne“, murmelte die Rote Korsarin.

„Ja, Cayenne. Und ein Haufen Spanier!“

Für einen Moment blieb es still. Siri-Tong starrte nach Süden. In ihren dunklen Mandelaugen entfachten die Reflexe der aufsteigenden Sonne ein seltsames Feuer.

Sie spürte den Wikinger hinter sich. Ohne daß ein Wort fiel, wußte sie, daß er längst die gleiche Entscheidung getroffen hatte wie sie selber.

„Nach Süden“, sagte sie. „Thorfin, laß alles Zeug setzen auf dem verdammten Kahn!“

Der Wikinger lächelte.

Für ein paar Sekunden starrte auch er in den seltsamen, irisierenden Dunst zwischen Himmel und Wasser. Dann wölbte sich sein Brustkasten unter einem tiefen Atemzug, und seine Stimme dröhnte über die Decks wie leibhaftiges Donnergrollen.

„Alle Mann an Deck! An die Brassen und Fallen! Setzt Fock und Großsegel! Setzt die Toppsegel!“

Er lächelte immer noch, während es auf dem schwarzen Segler schlagartig lebendig wurde. Für ein paar Atemzüge schienen sich die Blicke des Wikingers und der jungen Frau ineinander zu verbeißen.

„Nach Süden“, brummte Thorfin Njal, der die Rote Korsarin besser als jeder andere kannte. „Wir werden sie schon finden.“

2.

Der Stoßtrupp brach in der Abenddämmerung auf.

Big Old Shane übernahm das Kommando bei den Zurückbleibenden. Die wenigen Messer und Pistolen hatten sie sich geteilt. Auch die Männer in ihrem Versteck brauchten Waffen, da sie jederzeit damit rechnen mußten, von den Spaniern aufgespürt zu werden. Oder sich gegen andere Gefahren verteidigen zu müssen, fügte Hasard in Gedanken hinzu. Kaimane in dem nahen Fluß, Jaguare, Giftspinnen, Schlangen, die mörderischen Buschmeister …

Hasards Hand tastete unwillkürlich nach der Pistole in seinem Gürtel. Mit einer ganz ähnlichen Gebärde schloß der rothaarige Ferris Tukker die Finger um den Stiel seiner riesigen Axt. Dan O’Flynn und Ben Brighton hatten ebenfalls Pistolen, Ed Carberry benutzte ein langes, schmales Messer, das ihm überhaupt nicht gefiel. Batuti, der riesige Gambia-Neger, kämpfte sonst mit einem mächtigen Morgenstern, doch der war auf der „Isabella“ zurückgeblieben. Der schwarze Herkules behalf sich: ein scharfkantiger, kindskopfgroßer Stein, geknüpft in ein Netz aus zähen Lianen, würde ihm die gleichen Dienste leisten. Und Matt Davies brauchte keine Waffe. Bei ihm genügte es, wenn er den Stahlhaken seiner Armprothese etwas nachschliff.

Hasard hatte die Spitze, als die Männer einen der halbüberwucherten Wildpfade einschlugen, die sich durch den Urwald wanden.

Sie würden dem Fluß folgen. Denn niemand, auch die Spanier nicht, entfernte sich im Urwald weit von den Flußläufen, da sie die einzige sichere Orientierungsmöglichkeit boten. Hasards Blick bohrte sich in das schattenhafte Halbdunkel.

Dan O’Flynn, der von allen Seewölfen die schärfsten Augen hatte, war dicht neben ihm. Noch gingen sie rasch und traten fest auf, denn das Geräusch ihrer Schritte würde die Schlangen verscheuchen.

Hoffentlich, dachte Hasard. Hinter ihm fluchte Ed Carberry leise und ausdauernd, weil irgendein Insekt ihn gestochen hatte. Die Biester schwirrten zu Myriaden herum, der ganze Wald schien zu summen. Carberry bückte sich, um die Stichstelle mit angefeuchtetem Lehm zuzuschmieren.

Sie hatten Stunden damit zugebracht, ihre zerfetzte Kleidung soweit in Ordnung zu bringen, daß sie möglichst vollständig die Haut bedeckte. Ganz hatte sich das nicht bewerkstelligen lassen, und in einem ständigen stummen Kampf mußten sie sich der Insekten erwehren und die bereits vorhandenen Stiche abdecken, damit sie nicht wieder zu großen, eiternden Wunden wurden.

Ein paar umgestürzte Baumriesen versperrten den Weg. Schlingpflanzen wucherten, große rötlich-weiße Blüten schwammen bleich und fremdartig im Schatten. Hasard machte eine Bewegung, um den ersten der toten Stämme zu überklettern, da packte ihn Dan O’Flynn plötzlich am Arm.

„Da!“ flüsterte er. „Auf dem Stamm!“

Hasard starrte in die Richtung, die er wies – und zuckte zusammen. Eine handtellergroße Spinne bewegte sich auf der rauhen Rinde. Sie vollführte blitzartige, fast springende Bewegungen. Jetzt verharrte das Biest wieder. Der braungefärbte Körper hob sich kaum noch von dem Baumstamm ab.

„Eine Wolfsspinne“, sagte Ben Brighton leise. „Die Spanier auf der Teufelsinsel hatten eine Heidenangst vor diesen Spinnen.“

„Hab ich auch gehört“, sagte Dan. „Man kann einen Arm oder ein Bein verlieren, wenn man gebissen wird.“

„Spinne tot!“ erklärte Batuti.

Und ehe ihn jemand als Lügner hinstellen konnte, schlug er blitzschnell mit dem lianenumwickelten Stein zu.

Der braune Leib der Spinne wurde zerquetscht. Batuti grinste und zeigte seine prachtvollen weißen Zähne. Einer nach dem anderen überkletterten die Seewölfe die toten Baumstämme, aber jetzt waren sie noch vorsichtiger als vorher.

Minuten später erreichten sie eine Lichtung im Dschungel.

Überwachsene Felsen ragten zwischen den Baumriesen hoch. In unmittelbarer Nähe gurgelte bereits das Wasser des Flusses. Ein eigentümlich strenger Geruch hing in der Luft, und Batuti war der erste, der ihn erkannte.

„Leopard“, flüsterte er. „Verdammich!“

Hasard biß sich auf die Lippen. „Hier gibt’s keine Leoparden. Nur Jaguare …“

„Nur?“ flüsterte Ed Carberry verbiestert.

„Sie weichen den Menschen aus. Jedenfalls solange sie sich nicht angegriffen fühlen.“ Hasard kniff die Augen zusammen. Sein Blick glitt über die Lichtung, tastete die Waldsäume ab – und dann sah er plötzlich etwas ganz anderes als einen Jaguar.

„Spanier“, sagte er leise.

„Himmel, Arsch!“

Es war Carberry, der das fast unhörbar wisperte. Die Seewölfe rührten sich nicht. Noch standen sie gut gedeckt im Schatten, und jetzt sahen auch die anderen die Gestalten, die sich vom Fluß her durch das Dickicht gezwängt hatten.

 

Spanische Soldaten.

Schweißbedeckte, erschöpfte Gestalten, ein kleiner Trupp. Auf der Lichtung verharrten sie und unterhielten sich murmelnd. Ben und Hasard, die beide perfekt Spanisch sprachen, konnten jedes Wort verstehen.

„Ein Wahnsinn, sage ich euch!“

„Als ob es noch Sinn hätte, die verdammten Engländer zu suchen. Die sind doch längst von den Kaimanen gefressen worden.“

„Oder von den Piranhas. Oder sie sind vom Buschmeister gebissen, die Pythons haben ihnen die Knochen gebrochen, die Maden fressen sie …“

Der dritte Mann schien gar nicht genug davon zu kriegen, die verschiedenen Scheußlichkeiten aufzuzählen, die der Urwald zu bieten hatte. Aber seiner gepreßten Stimme war anzuhören, daß er lediglich seine eigene Angst betäuben wollte. Dabei hatte er bei der Aufzählung aller Gefahren sogar noch eine vergessen, wie er wenig später am eigenen Leib erfahren sollte.

Jäh und unvermittelt ertönte das Fauchen.

Von dem überwucherten Felsen löste sich ein schlanker, schwarz und gelb gefleckter Leib, grüne Raubtierlichter glommen. Mit einem gewaltigen Satz schnellte der Jaguar auf die schreckensstarren Spanier zu – und der Mann, der sich eben noch ausgemalt hatte, was den Seewölfen alles zugestoßen sein konnte, stieß einen schrillen Schrei aus.

Instinktiv warf er sich zur Seite.

Ein Prankenhieb streifte seine Schulter und schleuderte ihn zurück. Geschmeidig landete der Jaguar auf dem Boden, drehte sich fauchend um die eigene Achse und schnellte von neuem vorwärts. Ein mörderischer Prankenhieb schleuderte den zweiten Spanier ins Dickicht, aber da hatten die anderen bereits ihre Pistolen gezogen.

Peitschend entluden sich die Waffen.

Das Raubtier zuckte unter den Einschlägen und bäumte sich auf. Wieder fielen Schüsse. Während eine der Kugeln den Schädel des Jaguars zerschmetterte, rappelte sich der Mann, dem der Prankenhieb die Brust aufgerissen hatte, schreiend auf und floh durch die Büsche.

Der Körper des Jaguars zuckte noch ein paarmal, bevor er verendete.

Immer noch war das Geschrei des Flüchtenden zu hören. Der Mann war in Panik und vermutlich halb wahnsinnig vor Schmerzen und Angst. Seine Kameraden folgten ihm hastig, auch der Mann, den es an der Schulter erwischt hatte. Er taumelte, umklammerte seinen Arm mit der Hand – und er war gerade im Dikkicht verschwunden, als am Fluß die erschrockenen Stimmen der anderen aufgellten.

„Nicht, Juan! Vorsicht! Der Baumstamm! Der Baumstamm!“

Wasser spritzte.

Das Geschrei des Verletzten erstarb in einem dumpfen Gurgeln. Dann war da nur noch ein jähes, brodelndes Geräusch, als werde das Wasser von einem unsichtbaren Sturm aufgewühlt.

„Madre de Dios!“ rief einer der Spanier mit überkippender Stimme.

Hasard schluckte. Er wußte, was geschehen war. Vermutlich hatten die Spanier ihr Lager auf der anderen Flußseite. Der Verletzte mußte den Wasserlauf unvorsichtig überquert haben, in panischer Hast, von Entsetzen gejagt. Der Baumstamm, den er benutzt hatte, war umgekippt, er selbst ins Wasser gefallen, und dann …

„Piranhas“, sagte Ben Brighton, als habe er Hasards Gedanken gelesen.

Der Seewolf nickte. Ja, Piranhas. Diese kleinen, gierigen Räuber lauerten im Schlamm der Flüsse. Das Blut des verletzten Mannes mußte sie sofort angelockt haben. Und wenn sie erst einmal ihre mörderischen Zähne in eine Beute schlugen, dann dauerte es Sekunden, bis nur noch ein Skelett übrigblieb.

Minutenlang verharrten die Spanier schweigend.

„Zurück ins Lager!“ befahl dann einer von ihnen mit belegter Stimme. „Aber vorsichtig! Der Himmel mag wissen, ob der Stamm jetzt noch unser Gewicht trägt.“

Gemurmel.

Dann Stille – die atemlose Stille, die den Versuch der Spanier begleitete, auf die andere Seite des Flusses zu gelangen. Nichts geschah. Kein neuer Schrei, kein neues Opfer, das ins Wasser klatschte. Hasard atmete tief durch und wandte sich zu den anderen um.

„Na also“, sagte er trocken. „Die Burschen werden uns ganz freiwillig in ihr Lager führen. Wir brauchen ihnen nur noch zu folgen.“

Eine gute Stunde später glommen die Campfeuer der Spanier durch die Dunkelheit.

Sie hatten ihr Lager auf einem felsigen Plateau in der Nähe des Ufers aufgeschlagen, in respektvoller Entfernung vom Wasser. Die kleinen Feuer bildeten einen Kreis um das große Zelt des Capitans und die primitiven Unterkünfte der Soldaten. Die Flammen sollten Raubtiere und Insekten vertreiben. Gegen die zahllosen Schlangen konnten sie nichts ausrichten. Die Gesichter der Wachen, die mit ihren Musketen patrouillierten, waren von Angst gezeichnet.

Auch die Pferde in dem primitiven Seilgeviert am Ufer scharrten und schnaubten unruhig. An der Küste oder im freien Gelände hätte ihr Verhalten die Menschen vor drohenden Gefahren warnen können, aber hier im Urwald, in einer Umgebung voller ständiger Gefahren, versagte dieses Alarmsystem. Die spanischen Wachen wirkten äußerst nervös, und sie wurden noch nervöser, als sie erfuhren, was dem Suchtrupp zugestoßen war. Einen zweiten Trupp würde der Capitan während der Nacht bestimmt nicht auf die Beine bringen.

Hasard grinste, während er sich vorsichtig zurückzog. Immerhin war es eine gewisse Genugtuung, zu sehen, wie wenig Spaß den Spaniern die Jagd auf die Flüchtlinge bereitete. Lautlos richtete sich Hasard im Schatten eines mächtigen Baumstamms auf, und die anderen sahen ihm gespannt entgegen.

„Etwa zwanzig Mann, schätze ich“, berichtete er flüsternd. „Wir warten, bis sich die erste Aufregung gelegt hat, dann werden Ben und ich versuchen, an das Zelt des Capitans heranzukommen.“

Dans Augen funkelten. „Und hinterher werden wir ihre Pferde auseinandertreiben, ihnen irgendeine hübsche Überraschung bereiten und …“

„Wir werden nichts dergleichen tun“, sagte Hasard trocken.

„Und warum?“

„Weil wir sie sonst am Hals haben“, knurrte Carberry. „Und weil sie dann wissen, daß uns doch noch nicht die Kaimane gefressen haben. Du wirst dich gefälligst ruhig halten, wenn du nicht willst, daß ich dir die Haut in Streifen von deinem verdammten …“

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