Czytaj książkę: «Die Rose lebt weiter»
Katja Stock
DIE ROSE LEBT WEITER
Engelsdorfer Verlag
Leipzig
2016
Inhalt
Cover
Titel
Impressum
Kapitel I
Kapitel II
Kapitel III
Nachwort
Die Geschichte beruht auf einer wahren Begebenheit. Die Namen wurden allerdings geändert, Ähnlichkeiten mit bekannten Personen und Orten sind zufällig.
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
Copyright (2016) Engelsdorfer Verlag Leipzig
Alle Rechte beim Autor
Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)
1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2016
Kapitel I
Es ist März, in ein paar Tagen werde ich 44 Jahre alt. Ich, Martina, habe wie immer viel zu tun auf der Arbeit und überlege, wie ich trotz alledem meinem Kollegen Jens einen Krankenbesuch abstatten könnte. Als ich nämlich vor reichlich einem Jahr nach einer Operation sieben Wochen krank war, stand er auch eines Tages mit einem Blumenstrauß vor meiner Tür. Wir kennen uns schon jahrelang und unterhalten uns auch schon mal über Privates. Er ist ein ruhiger Typ, ganz anders als ich, aber einer der wenigen, mit denen man sich sowohl dienstlich als auch privat einigermaßen vernünftig unterhalten kann. Die ständigen Strukturänderungen in den Verwaltungen zerren an den Nerven und stiften seit Längerem Unfrieden, sodass das Arbeitsklima sich von Jahr zu Jahr verschlechtert. Egoismus und Neid sind an die Stelle von Kollegialität und Fairness getreten.
Obwohl Jens auf mich sehr zurückhaltend wirkt, wird ihm ein Verhältnis mit einer Kollegin nachgesagt. Auf solchen Klatsch höre ich jedoch nicht, zumal ihm auch noch angedichtet wird, dass er mir hinterhersteigt, nur weil wir uns gut verstehen. Darüber kann ich nur verständnislos den Kopf schütteln.
Jens war bisher noch nie krank gewesen, doch diesmal beutelte ihn eine verschleppte Bronchitis. Mit meinem Gegenbesuch wollte ich ihm eine Freude bereiten. Ich rief ihn an, sagte, dass ich nach einem dienstlichen Ortstermin um die Mittagszeit mal vorbeikommen könnte, worauf er mir freudig den Weg zu seinem Eigenheim beschrieb. Weil ich denke, dass Männer sich über Blumen nicht so sehr freuen, nahm ich ein paar Pralinen mit. Als er die Tür öffnete, war ich etwas irritiert, er empfing mich im Jogging-Anzug, nicht zu fassen, zumal ich mich angekündigt hatte! Aber gut, letztlich ging mich das nichts an.
Wir saßen uns im Wohnzimmer gegenüber, ich berichtete ihm das Neuste aus der Dienststelle und er erzählte mir von seiner Tochter, die an diesem Tag 18 Jahre alt geworden war. Außerdem klagte er, dass es so furchtbar langweilig sei, den ganzen Tag zu Hause zu sein. Dann sprachen wir über den Lehrgang, für den wir uns beide angemeldet hatten. Es wäre das erste Mal, dass ich mit ihm zum Lehrgang fahren würde, und zwar für zwei Tage, also mit Übernachtung. Erst hatte ich ablehnen wollen, es mir aber dann anders überlegt. Warum sollte ich mir nicht auch mal einen zweitägigen Lehrgang gönnen? Und mit Jens würde es doch bestimmt Spaß machen. Vielleicht könnte man abends sogar mal ein Gläschen Wein trinken gehen?
Nun war aber der Kurs vorverlegt worden und sollte jetzt während seiner Krankheit stattfinden, anstatt im Sommer. Ich hatte bereits abgesagt und mich für den nächsten Termin neu angemeldet, da mir wegen meines Geburtstages dieses kurzfristige Datum auch nicht passte. All das erzählte ich ihm jetzt.
Er setzte sich währenddessen neben mich auf die Couch und rückte unmerklich näher und näher. Zunächst bemerkte ich es gar nicht, dann konnte ich das Verhalten nicht einordnen und begriff nicht, was das bedeutete. Auf einmal legte er zärtlich seinen Arm um meine Schulter und versuchte, mich zu küssen. Ich ließ es geschehen, war vor lauter Scham wie erstarrt. Mir war, als würde mein Herz zerspringen und ich bekam keine Luft. Was war denn DAS?!
Ich war so erschrocken, hätte niemals damit gerechnet, dass mir so etwas geschehen könnte. Noch dazu bei ihm, dem Schüchternen. Ich schnappte nach Luft und polterte los: „He, was soll das? Ich bin verheiratet! Ich habe dieses Jahr Silberhochzeit!“
Er wurde verlegen und meinte, dass er die von mir gezeigte Sympathie als Interesse an ihm verstanden habe. Wir waren schließlich beide verwirrt und fühlten uns mit der Situation überfordert. Ich wollte nur noch weg und dachte: „Ab jetzt ist alles anders, wie soll ich mich denn nun im Büro ihm gegenüber verhalten? Soll ich etwa so tun, als ob nichts gewesen wäre? Oder soll ich gekränkt sein?“ Ich war so durcheinander und so enttäuscht von ihm, ich hatte doch nur freundlich sein wollen! Mir fielen wieder die Gerüchte über ihn ein: „Was ist eigentlich zwischen Sonja und dir? Stimmt es also doch, dass du mit ihr eine Affäre hast?“ Er antwortete ganz ruhig: „Jetzt geht es um uns und Sonja ist Nebensache.“
Ich verstand das alles nicht und beendete rasch den Krankenbesuch. Ich setzte mich in mein Auto und fuhr zurück in meine Dienststelle. Ich konnte nicht denken, alles schien so unwirklich. Meine Bezinanzeige ging auf Null, ich fuhr an die Tankstelle, stand vor der Tanksäule und wusste nicht, welchen Sprit ich einfüllen musste. Während der Fahrt grübelte ich unablässig darüber nach, ob ich tatsächlich zweideutig auf Männer wirke. „Ich wollte doch wirklich nur einen Krankenbesuch machen, eine freundschaftliche Geste, nicht mehr. Schickt es sich etwa nicht, einen Mann zu besuchen?“ Ich arbeite mit so vielen Männern zusammen, verstehe mich mit allen gut, sehe unser Verhältnis als kollegial an oder freundschaftlich, mit manchen ist es etwas vertrauter, mit anderen weniger. Ich bin offen, jedenfalls nicht besonders zurückhaltend, bin damit aber immer gut gefahren. Natürlich werden auch mal Komplimente ausgesprochen oder „flirtende“ Bemerkungen gemacht. Da ich oft Außendienste habe und mit vielen Menschen zusammenkomme, ist auch mal ein gemeinsames Essen dabei gewesen. Doch bin ich nie auf die Idee gekommen, dass dies von den Männern anders gesehen werden könnte als kameradschaftlich.
Als ich wieder an meinem Schreibtisch saß, hatte ich nur noch die Bilder in diesem Wohnzimmer vor mir. Plötzlich fiel mir meine Silberhochzeit ein, die ich in fünf Monaten feiern wollte und für die ich schon jetzt eine ganz tolle Überraschung, als Geschenk für meinen Mann Holger, geplant hatte. Im Februar waren wir in Ägypten gewesen, das war unsere vorgezogene Silberhochzeitsreise. Das erste Mal hatten wir ohne unsere Freunde Urlaub gemacht, nur unser 16-jähriger Sohn war mit. Es war eine völlig neue Erfahrung gewesen, mal alleine zu verreisen, da sich sonst immer Freunde fanden, die mitkamen. Leider hatte mein Mann dort einen Durchfall erlitten, der zur lebensbedrohlichen Gefahr geworden war, weil er aus Angst tagelang kaum getrunken und gegessen hatte. Einen Tag vor der Abreise starb dann auch noch seine Mutter. Sie war krebskrank gewesen, wir hatten schon lange mit ihrem Tod gerechnet. Als wir wieder zu Hause waren, musste Holger eine Woche ins Krankenhaus: akuter Flüssigkeitsmangel. Ich hatte die Gunst der Stunde genutzt und während seiner Abwesenheit eine Präsentation für die Silberhochzeit vorbereitet.
All diese Gedanken gingen mir jetzt durch den Kopf und ich wollte nicht wahrhaben, was gerade passiert war. Eigentlich war ja gar nichts passiert. Mein Gott, ein Kollege hatte versucht, mich zu küssen und wenn ich drauf eingegangen wäre, wären wir vielleicht noch in seinem Bett gelandet. So etwas gibt es doch bestimmt tagtäglich auf dieser Welt … Doch ich war dem nicht gewachsen. Einfach mal ein bisschen Spaß haben, das kann ich nicht. Wie man ohne Liebe Sex haben kann, verstehe ich nicht. Ich bin zwar nicht prüde, aber ich habe zu diesem Thema feste Prinzipien. Hier und jetzt ging es zwar um eine relativ vertraute Person, aber das änderte nichts an meinen Grundsätzen.
Trotzdem fiel mir das Denken schwer und ich konnte mich nicht auf die Arbeit konzentrieren. Ich musste noch etwas vorbereiten für eine wichtige Beratung am nächsten Tag, aber es ging nicht. Irgendwann nahm ich mein Handy und schrieb Jens eine SMS mit den ersten Worten eines Liedes, das mir seit ein paar Stunden nicht mehr aus dem Kopf ging:
„Die Gefühle spielen verrückt … Kennst du das Lied? Was heute passiert ist, können wir nicht mehr rückgängig machen, ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll.“
Am nächsten Tag brachte Jens seinen Krankenschein zur Sekretärin und schaute natürlich auch zu mir rein. Er hatte Tränen in den Augen und entschuldigte sich wortreich bei mir. Er hatte mir eine halbe Ananas mitgebracht und meinte, dass die andere Hälfte zwar die Vollendung einer glücklichen Beziehung wäre, dass es die aber leider nie geben könnte. Ich versuchte, gelassen zu wirken, aber tatsächlich konnte ich keinen klaren Gedanken fassen, obwohl er mir schon öfter Ananas mitgebracht hatte.
Jens ging mir nicht mehr aus dem Kopf, er hatte irgendetwas in mir ausgelöst, dass mich verwirrte und durcheinander gebracht hatte. Ich arbeitete meine dienstlichen Termine ab wie im Traum und fühlte mich wie in einer Warteposition. Was hatte er mir mit der Ananas sagen wollen? Dass er mit mir glücklich sein wollte? Nur mal kurz? Oder eine Affäre beginnen?
Er war ja nun nicht unbedingt mein „Traumtyp“. Aber er ist groß und schlank. Dass er sich vor einiger Zeit von seinem Seitenscheitel getrennt hatte und sein Haar sich nun ein bisschen „igelte“, gereichte ihm unbedingt zum Vorteil. Von all den Männern, die ich durch meine Arbeit kannte, schnitt er schon mit am besten ab. Aber das hing auch mit Sympathie zusammen. Ich hatte mir ja früher nie Gedanken gemacht, ob er hübsch oder hässlich ist. Wenn er aus dem Urlaub kam, war er schön gebräunt. Auch das gefiel mir recht gut. – Ich überlegte und überlegte, warum ich das Erlebte nicht abschütteln konnte und dieser Mann mir einfach nicht mehr aus dem Kopf ging. Ich war doch schon von anderen angebaggert worden und gelassen geblieben, denn es berührte mein Innerstes nicht sonderlich! Vielleicht, weil ich Jens am wenigsten diesen plumpen Annäherungsversuch zugetraut hatte?
Nun hatte ich Geburtstag, und Jens war immer noch krank. Ich wusste, dass er mich anrufen würde, um zu gratulieren. Ich konnte diesen Anruf kaum erwarten, war aufgeregt wie ein Teenager. Wir telefonierten eine viertel Stunde. Aber es kam mir vor wie ein paar Minuten, die Zeit verflog im Nu, dabei hätte ich am liebsten gar nicht mehr auflegen wollen. Jens ging mir nun gar nicht mehr aus dem Kopf. Der Vorfall auf seiner Couch entfachte keine Enttäuschung mehr in mir, was war denn bloß los mit mir?
Um meine Geburtstagsfeier vorzubereiten, hatte ich den nächsten Tag Urlaub genommen. Jens hatte mir zugesagt, mich zu Hause anzurufen. Dieses Gespräch dauerte nun schon eine ganze Stunde und es kam mir vor wie fünf Minuten. Seit diesem unheiligen Kuss waren gerade vier Tage vergangen und ich hatte seitdem nichts mehr essen können und drei Kilogramm abgenommen. Ich spürte immer so einen Kloß im Hals. Auf der einen Seite freute ich mich zwar über den Gewichtsverlust, doch erschrak ich auch, ich hatte noch nie so schnell abgenommen.
Unsere Geburtstagsfeiern verteilten wir meist auf zwei Termine, eine Feier mit den Freunden, die laut, lustig, alkoholintensiv ist und lange dauert. Und eine mit der Verwandtschaft, die sehr viel ruhiger verläuft. Schon während der Fete im Freundeskreis spürte ich, dass ich wohl krank werden würde und war froh, als der letzte Gast das Haus verlassen hatte. Am darauffolgenden Tag war klar, was ich ausgebrütet hatte: eine Angina! Ich fühlte mich so schlapp und konnte kaum noch schlucken, deshalb ging ich freiwillig zum Notdienst. Ich wollte schnell wieder arbeiten gehen, um Jens sehen zu können. Trotzdem musste ich eine Woche zu Hause bleiben.
„Warum bekomme ich grad jetzt eine Angina, ich werde mich doch nicht bei diesem Kuss an Jens’ Bronchitis angesteckt haben?“ Ich war sehr unglücklich, dass ich krank zu Hause bleiben musste und wollte dies so schnell wie möglich Jens mitteilen, der war nun wieder gesundgeschrieben. So schrieb ich an diesem Tag das erste Mal in meinem Leben eine „heimliche“ SMS, eine, von der mein Mann nichts mitbekommen sollte. Es war aber genau der Tag nach der Zeitumstellung, deshalb funktionierte es nicht richtig, sodass ich die SMS nicht senden konnte. Da unsere Handys für alle sichtbar zu Hause rumliegen, bekam ich Angst, löschte alles wieder und musste das Mobiltelefon sogar in die Grundeinstellung zurücksetzen, damit es wieder ging. Bis ich dies raus hatte, war das Wochenende vorbei und ich hatte Jens nicht informiert.
Mein Mann kümmerte sich fürsorglich um mich und ich hatte so ein schlechtes Gewissen. Trotzdem brannte in mir der Wunsch, endlich Jens wiederzusehen und ich hatte auch schon eine Idee. Da während meiner Abwesenheit meine Arbeit liegenblieb, war es üblich, dass ich mich zwischendurch mal sehen ließ oder jemand mir wichtige Dinge nach Hause brachte. Da gerade in dieser Woche meine Krankschreibung sehr ungelegen kam, war mein Chef froh, als ich mich anbot, für ein paar Stunden reinzukommen. Aufgrund der starken Medikamente wollte er mich sogar abholen lassen. Mein erster Gedanke war, dass dies Jens tun könnte, auch wenn er nicht als Kraftfahrer angestellt war. – Es hatte sich inzwischen eingebürgert, dass wir täglich telefonierten und ich bemerkte, dass Jens sich genauso nach mir sehnte wie ich nach ihm, obwohl es keiner aussprach. Ich sagte ihm nun, dass ich mich freuen würde, wenn er mit dem Auto käme. Aber er antwortete: „Sei vernünftig, das geht nicht, man redet doch sowieso schon über uns. Das wäre Wasser auf die Mühle. Es holt dich unser Fahrer ab.“
Er hatte recht, das Gerede unserer Kollegen war wirklich schlimm. Es hatte sogar schon Aussprachen deswegen gegeben. – Und nun stimmte es auf einmal? Ein halber Kuss – und ich schmolz dahin? Auch noch mit dem Mann, mit dem man mir etwas nachsagte? Das konnte doch alles nicht wahr sein! Es war gerade eine Woche her und schon kam ich mit meinem Alltag nicht mehr klar. Ich bekam den Krankenbesuch nicht mehr aus dem Kopf.
Aber es beschäftigte mich auch eine Frage, nämlich die nach seinem Verhältnis zu Sonja. Zwar sah man sie oft miteinander reden, doch war ich immer davon ausgegangen, dass nichts dabei war und es sich um Freundschaft handelte. Zumal Jens wirklich kein „Weiberheld“ war, er machte nie anzügliche Bemerkungen, das „Du“ mussten wir Frauen ihm fast aufnötigen, zu einer Weihnachtsfeier verweigerte er sogar das Tanzen. Sollte an diesem Gerede denn wirklich etwas dran sein? Er hatte mir damals nicht geantwortet, war ausgewichen. Aber konnte er denn mir gegenüber Gefühle entwickeln und nebenbei noch eine andere haben? Dieser Gedanke quälte mich so sehr, dass ich ihn schließlich am Telefon zur Rede stellte. Er hatte gerade Mittagspause und war auf dem Weg zum Bratwurststand. Wieder wich er aus, ich ließ nicht locker, bis er anfing zu weinen. Ich hatte ihn noch nie weinend erlebt, er kam mir auf einmal so hilflos und traurig vor. Doch dann glaubte ich, im Erdboden versinken zu müssen als er sagte: „Ja, Martina, der Tratsch ist berechtigt, ich habe mit Sonja ein Verhältnis und es tut mir so leid, was ich dir jetzt angetan habe. Aber glaube mir, ich empfinde für dich genauso wie du für mich. Das mit Sonja ist etwas anderes. Ich arbeite mit ihr fast 30 Jahre zusammen, wir verstanden uns immer gut und so hat sich diese Beziehung entwickelt. Für meine Lebensgefährtin Petra empfinde ich nichts mehr, wir leben wie in einer WG. Aber ich will mich auch nicht von ihr trennen, wegen meiner Tochter und dem Haus, das weiß Sonja. Aber jetzt habe ich Gefühle für dich, die ich noch nie erlebt habe und mir geht es genauso wie dir, dass ich mit meiner Welt nicht mehr zurechtkomme. Wenn du morgen hierher kommst, lass es uns beenden, bevor es richtig begonnen hat. Ich will dir dein Leben nicht kaputt machen. Es tut mir so leid.“
Ich war geschockt, und maßlos enttäuscht, mir war, als hätte mir jemand den Boden unter den Füßen weggezogen. Ich saß vor meinem Computer und hatte eigentlich fix meine Steuererklärung fertigmachen wollen, bevor ich zum Arzt musste. Aber nun war ich völlig unfähig. Ich schmiss diesen elenden Papierkram zur Seite.
Beim Arzt saß ich wie geistesabwesend. Es ging um die Auswertung meines EKGs, da ich öfters unter Herzrasen litt. Natürlich war wieder nichts gefunden worden und wenn, wäre es mir in diesem Augenblick auch egal gewesen. Ich war so gekränkt. „Wie soll es nun weitergehen? Jetzt ist alles noch schlimmer als vor einer Woche. Dieses Schwein! Wollte nur eine Abwechslung und dachte, ich sei leicht ins Bett zu kriegen? Er tanzt auf mehreren Hochzeiten und kostet sein Männerdasein in vollen Zügen aus! Ist das wirklich der Jens, den ich so schätze?“ Vom Arzt zurück, setzte ich mich auf mein Fahrrad und fuhr ziellos durch die Gegend. Das hatte ich noch nie alleine gemacht, obwohl wir mitten im Grünen wohnen. Ich versuchte, die Natur zu genießen. „Ich muss doch bescheuert sein, falle auf so einen Typen rein! Ich habe alles, was man sich wünschen kann: eine wunderbare Familie, einen gutaussehenden, großen, stattlichen, fleißigen, hilfsbereiten und fürsorglichen Mann.“
Holger ist etwa so groß wie Jens, keiner glaubt, dass er schon 50 wird. Früher wurden wir manchmal für Geschwister gehalten, vielleicht weil wir beide dunkelblonde Haare haben. Klar könnte er ein paar Kilo abspecken, und weil sein Bauch immer größer wird, führt dies öfters mal zu Streit. Den gibt es auch schon mal wegen der Kindererziehung oder seines Mäkelns beim Essen oder wenn er bei einer Feier oder beim Tanz zu viel trinkt. Aber wir unternehmen auch viel gemeinsam, fast zu viel, und sind im Großen und Ganzen ein harmonisches Paar. Für Zärtlichkeiten müsste man sich mehr Zeit nehmen, aber meist steht die Arbeit vornan, und dann ist man froh, endlich ins Bett fallen zu können, anstatt mal ein Glas Wein gemeinsam zu genießen. Der Große würde dieses Jahr sein Studium abschließen und nicht mehr nach Hause zurückkommen. Der Kleine besuchte die 10. Klasse, nach seinem Abi würde auch er nicht in der Heimat studieren. Der Gedanke, dass beide Kinder mal weg sein würden, machte mich zwar traurig, doch ich hoffte auch, dass ich dann weniger Stress und Verpflichtungen hätte. So war das Eheleben bisher verlaufen. Wir hatten ein schönes Haus inmitten der Natur, liebe und fleißige Söhne und kaum Geldsorgen. Wir machten wunderschöne Urlaube und ich konnte mit ruhigem Gewissen behaupten, unsere Kinder hatten eine wunderbare Kindheit gehabt. – Und nun das! Warum war ich bloß auf so einen Kerl reingefallen und setzte das alles aufs Spiel? „Wenn ich morgen auf Arbeit bin, werde ich ihm nicht in die Augen sehen können, sondern nur noch heulen. Mittags will er mit mir reden, was soll das werden?“
Der Fahrer stand pünktlich vor der Tür und während wir uns der Arbeitsstelle näherten, wurde ich von Kilometer zu Kilometer aufgeregter. Jens und ich begrüßten uns nur kurz und dann konzentrierte ich mich auf meine Arbeit und meine Kollegen. Trotzdem konnte ich kaum erwarten, dass es Mittag wurde.
Wir fuhren mit seinem Auto drei Straßen weiter und er überreichte mir nachträglich zum Geburtstag sein „Abschiedsgeschenk“: eine CD von Rosenstolz. Er weinte bitterlich, drückte mich ein letztes Mal und bat nochmals um Verzeihung für das, was er mir angetan hatte. Wir weinten beide haltlos und ich konnte ihm einfach nicht mehr böse sein, es war doch so endlos traurig. Er wollte mich zum Abschied noch einmal küssen, doch ich entzog mich ihm mit der Begründung, dass ich ihn nicht anstecken wollte. Ich hätte ihn gern geküsst, aber die Vernunft siegte.
Als ich nach Hause kam, war ich noch allein und hörte mir gleich die CD an. Ich kannte Rosenstolz nur flüchtig und achte sonst meist mehr auf die Musik. Nun konzentrierte ich mich völlig auf die Texte und verstand bei jedem Titel mehr, was Jens mir damit sagen wollte. Ich weinte und weinte. Da klingelte das Telefon. Meine beste Freundin, sie heißt auch Martina, war am Apparat.
Wir kennen uns seit dem Studium, unsere Männer verstanden sich gut und unsere Kinder wuchsen mit dieser Freundschaft auf. Aber das Schicksal beutelte sie, Martinas Mann starb ganz plötzlich an einem Aneurysma. Ich bewunderte sie für ihre Stärke und wie sie das alles ausgehalten hatte. Seit Kurzem gab es wieder einen Mann in ihrem Leben, ich freute mich, dass sie wieder glücklich war. Ausgerechnet sie erwischte mich nun zum ungünstigsten Zeitpunkt und merkte natürlich sofort, wie traurig ich war. Ich erzählte ihr, was in den letzten zehn Tagen abgelaufen war. Dass ich meine Gefühle nicht in Griff bekam und darüber nachdachte, meinem Mann alles zu offenbaren.
Martina tröstete mich. Sie wusste, dass Gefühle einen beherrschen können und fragte mich, was ich denn meinem Mann sagen wollte? Dass ich mich von einem Kollegen hatte küssen lassen, der aber noch eine andere habe, weswegen ich traurig sei? Was ich denn damit erreichen wollte, wo Holger doch so eifersüchtig sei? Ja, sie hatte recht. Ich wusste wirklich nicht, was ich meinem Mann erklären wollte und hätte wahrscheinlich nur unnützen Streit vom Zaun gebrochen. Diese Gefühle würden schon wieder vergehen! – Das Gespräch mit ihr hat mir sehr gut getan.
Bald ging es mir mit meiner Angina besser und ich suchte mir zu Hause Arbeit, um mich abzulenken. Jeden Tag telefonierte ich mit Jens. Er wusste, wann und wie lange die „Luft rein“ war und wir vereinbarten Anrufzeiten. Er hatte sich zwar von mir mit seinem Rosenstolz-Geschenk „verabschiedet“, aber jeder wartete trotzdem auf das tägliche Telefonat.
Am ersten Arbeitstag wusste ich nicht, wie ich mich verhalten sollte. Wir machten uns aus, uns am nächsten Tag in der Mittagspause doch noch mal zu treffen und darüber zu reden, wie es jetzt weiter gehen sollte.
Als er auf mich zu kam, fiel mir seine Jeansjacke auf, die er trug. Ich war eine andere Kleidungsordnung gewöhnt von Männern Mitte vierzig. Es gefiel mir auch nicht und ich redete mir ein: „Wir passen ja gar nicht zusammen, so wie der rumrennt.“ So wollte ich mich zwingen, Abstand zu ihm zu gewinnen. Als wir im Auto saßen, damit uns keiner sah, sagte ich ihm, dass ich niemals eine Nebenbei-Beziehung eingehen würde, denn in meinem Leben gäbe es so etwas nicht, hopp oder topp. Er erklärte mir, dass ein Wechsel von einer Affäre in eine andere nicht in Frage käme, er dieses Versteckspiel zu Hause und die Suche nach Alibis leid sei. Außerdem sähe er, dass meine Ehe in Ordnung sei und wolle sich nicht reindrängen. Zum Schluss fragte er mich, ob ich einen letzten Kuss zulassen würde, da ich dies beim letzten Mal wegen der Ansteckungsgefahr verweigert hätte. Ja, ich ließ es zu. – Und dann war es wieder so vertraut und innig, als ob wir schon jahrelang zusammen wären …
Das war am Dienstag in der Karwoche, für Gründonnerstag hatte ich Urlaub eingereicht. Wir hatten uns zwar mit klaren Worten im Auto verabschiedet, doch keiner hielt sich an diese Abmachung. Jeder suchte ein Bewerbchen, um dem anderen nah zu sein. So telefonierten wir auch am Gründonnerstag, an dem er sich nachmittags mit Sonja treffen würde, wie sie es jedes Jahr taten. Dieses Gespräch tat mir sehr weh, es war gemischt von Sehnsucht, Eifersucht, Verletztheit. Später bekam ich dann eine SMS von ihm:
„Liebe Martina, ich habe mit Sonja gesprochen. Ich werde bei ihr bleiben. Es tut mir alles leid und ich wünsche dir viel Glück für deine Zukunft.“
Ich las immer und immer wieder diese Zeilen und konnte es nicht fassen, was passiert war. „Mittags war doch alles noch ganz anderes gewesen? Und jetzt dies?“ Ich wollte es nicht wahrhaben, obwohl ich ja wusste, dass es mit uns nichts werden konnte. Ich arbeitete wie eine Besessene und war froh, dass ich den anderen aus dem Weg gehen konnte.
Ostersamstag wollten wir wie jedes Jahr tanzen gehen. Ich wusste nicht, wie ich das überstehen sollte. Ich konnte mit keinem reden und durfte mir nichts anmerken lassen. Ich war als die lebensfrohe Martina bekannt, alle warteten drauf, dass ich lustig wurde. Es forderte viel Kraft, sich so zu verstellen. Das erste Mal war auch Roberto mit seiner Frau Karin dabei. Doch das rauschte alles an mir vorbei, ich bekam Jens einfach nicht aus dem Kopf.
Am anderen Tag zählte ich die Stunden, bis Ostern endlich vorbei war, obwohl es auf Arbeit nicht besser werden würde, zumal Jens in einer Woche in Urlaub ging. Er wollte im Nachbarhotel von Sonja wohnen, die ebenfalls dort ein Zimmer gebucht hatte, zufällig, angeblich. Ich wusste nicht, ob ich das glauben sollte. Gab es so viel Zufall? Es wurde sogar schon getuschelt, dass er mit seiner Mätresse nun schon gemeinsam Urlaub mache und vor nichts zurückschrecke. Eigentlich schämte ich mich für ihn, als ich das hörte.
Immer wenn ich mich über Ostern unbeobachtet fühlte, schrieb ich an einem Brief für Jens, den ich ihm nach den Feiertagen geben wollte. Es sollte die Antwort auf seine SMS sein, ein Abschied. Ich schrieb alles auf: Wie ich mich seit dem ersten Kuss fühlte, wie vertraut er mir geworden war, meine Gefühle aufgewühlt hatte. Ich öffnete mich ihm mit Worten, die ich noch nie vorher geschrieben hatte. Ich wollte diesen Abschied per SMS einfach nicht hinnehmen und ertränkte allen Schmerz in meinen eigenen Abschiedszeilen.
Endlich war Ostern vorbei und ich konnte endlich wieder arbeiten gehen, sofort verabredete ich mich mit Jens für die Mittagspause. Meinen Brief hatte ich ihm gleich früh auf den Tisch gelegt, sodass er Zeit hatte, ihn bis mittags zu lesen. Wir trafen uns an einem Teich, im Grunde idyllisch, doch ich fror, wohl aus Angst und Enttäuschung. Jens gab mir den Brief zurück und meinte, es täte ihm leid. Er könne sich nicht von Sonja trennen, sie sei fast zusammengebrochen, weil sie ihn liebe. Das hätte sie ihm noch nie so deutlich gesagt und gefordert, dass er mit mir Schluss mache. Meinen Brief wollte er mit mir gemeinsam zerreißen und wegwerfen, denn er konnte ihn nicht aufbewahren. Unter Tränen vollzogen wir diese Zeremonie und verabschiedeten uns. Dann gingen wir uns bis zu seinem Urlaub so gut es ging aus dem Weg und ich schwor mir, ihm nie mehr hinterherzulaufen.
Zu Hause war ich gereizt, sodass Holger immer öfter zu den Kindern sagte: „Lasst eure Mutter in Ruhe, sie hat schon wieder schlechte Laune.“
Ich suchte mir Arbeit im Haus, um so oft wie möglich für mich alleine zu sein. Holger war auch unzufrieden, mit seiner Arbeit und mit seinem Chef. Er wollte wieder mal alles hinschmeißen. Ich tröstete ihn, dass er den Job schon viele Jahre machen würde, noch nie arbeitslos gewesen war und immer pünktlich sein Geld bekäme. Die Abstände, dass er mit seiner Arbeit so unzufrieden war, wurden immer kürzer.
Von Jens hörte ich den ganzen Urlaub nichts. Ich weinte häufig, konnte kein Radio mehr hören, sobald ein schönes Lied kam. Da bekam ich einen Termin in seinem Wohnort. Ich wusste, dass er seinen vorletzten Urlaubstag allein zu Hause verbringen wollte. Es kostete mich viel Überwindung, nicht einfach hinzufahren und zu klingeln. Mein Termin dauerte bis Mittag, mein Auto hatte ich auf einem Parkplatz beim Supermarkt abgestellt. Als ich zu meinem Auto zurückkam, stand auf einmal Jens vor mir. Er hatte in der Zeitung gelesen, dass es einen Termin gab, bei dem ich dabei sein würde und hat mich gesucht und auf mich gewartet. Das Gefühl, das mich durchströmte, als ich ihn so vor mir sah, kann ich kaum beschreiben: Glück, Wärme, Frieden, Ruhe …
Er war braungebrannt und schaute mich traurig und zugleich glücklich an. Wir setzten uns in sein Auto, um nicht gesehen zu werden. Er hatte schon eine Stunde gewartet und nur noch wenig Zeit, weil er zum Arzt musste. Er sah, wie dünn ich geworden war, mittlerweile hatte ich fast elf Kilo in knapp sieben Wochen verloren. Er sagte, auch Sonja habe sieben Kilo abgenommen. Das gab mir sofort einen Stich ins Herz und brachte mich zur Realität zurück. „Sie ist ja noch im Urlaub, deshalb kann er sich also so frei bewegen? Warum zeigt er mir seine Gefühle und seine starke Sehnsucht, wenn ihm im gleichen Atemzug Sonja durch den Kopf geht? Spielt er mit mir?“ Trotzdem ließ ich alles geschehen und sagte nichts.
Meine Freundin Martina hatte mich, als ich sie damals eingeweihte, darauf hingewiesen, was sie als Krebsschaden in meiner Ehe vermutete, wie sie es seit vielen Jahren sah: Immer nur Arbeit, kein Staubkorn im Haus, kein Unkraut im Garten, ständig Leute um uns herum, keine Zweisamkeit. Sie sagte damals: „Du musst ab und zu mal einen Höhepunkt schaffen in deiner Ehe, das schweißt zusammen.“
Diese Weisheit wollte ich umsetzen. Am Wochenende hatte Holger Geburtstag. Ich schenkte ihm einen Gutschein für eine Kahnfahrt. Anstatt aber nur für uns beide, organisierte ich diese Fahrt mit „Begleitung“. Roberto und ein anderes Pärchen sollten ebenfalls mitkommen. Das ging natürlich daneben. Holger war keineswegs erfreut von dem Gutschein und weigerte sich mitzukommen. Ich war enttäuscht. Außerdem schenkte ich ihm eine CD von Andrea Berg. Das war seine Musik, ich fand sie nicht so besonders, wollte ihm aber diese Freude machen, auch wenn mich der Kauf Überwindung gekostet hatte. Doch auch dieses Geschenk begeisterte ihn nicht. Da dachte ich das erste Mal: „Du bist doch selbst schuld, wenn ich Gefühle für einen anderen Mann entwickle.“ Kurzzeitig verschwand sogar mein schlechtes Gewissen.
Die Feier mit der Clique ging mit viel Alkohol und großer Lautstärke über die Bühne, es widerte mich alles an. Ich wollte diese Feierei einfach nicht mehr, die mir so endlos erschien bis mitten in die Nacht hinein. Jeder übertrumpfte sich von Mal zu Mal mit den Vorbereitungen, das Essen wurde immer mehr, damit auch die Reste. Vom Aufräumen am nächsten Tag ganz zu schweigen.