Czytaj książkę: «Ende gut, alles gut»
Kay Rivers
Katja Freeh
u.a.
ENDE GUT, ALLES GUT
Romantische Weihnachtsgeschichten
© 2020
édition el!es
www.elles.de info@elles.de
Alle Rechte vorbehalten.
ISBN 978-3-95609-336-4
Coverfoto:
iStock.com/cdwheatley
Coverillustration:
iStock.com/Nastco
Abbildung »Marktpyramide« ist eine Abwandlung des Fotos »Ortspyramide Annaberg-Buchholz« von Yvonne Bentele, CC BY-SA 4.0 https://commons.wikimedia.org/wiki/File:2009-12_Ortspyramide_Annaberg-B.jpg
Kay Rivers
Kastanien im Feuer
1
»An Weihnachten ist hier die Hölle los!«, erklärte Michelle ungehalten. »Da kommt ganz Amerika zu uns nach Disneyland. Und der halbe Rest der Welt auch noch. Da kann ich nicht privat Weihnachten feiern! Dafür habe ich gar keine Zeit.«
Cindy betrachtete sie nachdenklich. Sie wusste, dass sie jetzt nicht weiter über das Thema sprechen konnte, wenn Michelle in so einer Stimmung war. Wahrscheinlich hatte sie noch nie richtig Weihnachten gefeiert, da sie ja auch keine Familie hatte, aber Cindy war der Meinung, Weihnachten zu feiern gehörte einfach dazu. In ihrer Familie war es immer so üblich gewesen, und sie erinnerte sich gern daran.
»Du musst dich auch einmal ausruhen«, versuchte sie, Michelle zu beruhigen, weil sie sich meist immer noch mehr aufregte, wenn sie einmal am Drehen war.
»Aber doch nicht zu Weihnachten!« Michelle blitzte sie an. »Das ist eine der wichtigsten Geschäftszeiten im Jahr. Wenn nicht die wichtigste überhaupt. Die Umsatzzahlen erreichen wir sonst praktisch nie.«
Ja, das Geschäft. Der Umsatz . . . Cindy seufzte innerlich. Man hätte meinen können, Disney gehörte Michelle persönlich, so, wie sie sich für den Geschäftsgang einsetzte. »Natürlich«, sagte sie besänftigend. »Das weiß ich.«
»Aber du verstehst es offensichtlich nicht.« Auch Michelle versuchte anscheinend, sich zu beruhigen und nicht mehr so gereizt mit Cindy zu sprechen, wie sie es zuvor getan hatte. Sie begann sogar entschuldigend zu lächeln und trat auf Cindy zu, legte ihr die Hände auf die Schultern und schaute ihr tief in die Augen. »Wir können das nachholen. Nach Weihnachten. Wenn es hier wieder ruhiger ist«, sagte sie leise, und ihre Stimme klang jetzt eher warm als gereizt. »Aber direkt an Weihnachten Weihnachten feiern . . . Das geht einfach nicht. Da muss ich fast vierundzwanzig Stunden am Tag hier sein und arbeiten.«
An Weihnachten Weihnachten feiern geht nicht. Cindy fragte sich, ob sie je so etwas Widersinniges gehört hatte. Vermutlich gab es eine ganze Menge Leute, die an Weihnachten arbeiten mussten, aber darüber hatte sie noch nie nachgedacht. Allerdings hatte sie ja auch noch nie durchgehend außerhalb der Uni gearbeitet, höchstens in den Semesterferien. Ganz sicher aber nicht an Weihnachten. Die Tage gehörten ihrer Familie. Bisher ihrer Familie in Florida, aber jetzt war ihre Familie hier in Kalifornien, bei Michelle. Mit Michelle.
»Du meinst nicht . . . Wenigstens ein paar Stunden . . .?« Sie verstand ja, dass Michelle für den Park sehr eingespannt war, wenn viele Leute kamen. Und das war an Weihnachten nun einmal der Fall. Aber das konnte doch nicht bedeuten, dass es für sie beide überhaupt kein Weihnachtsfest geben würde. Ihr erstes gemeinsames Weihnachtsfest überhaupt.
Entschieden schüttelte Michelle den Kopf. »Nein. Noch nicht einmal ein paar Stunden.« Sie lächelte Cindy um Verzeihung bittend an und verzog ein wenig das Gesicht. »Danach können wir nach Colorado fliegen und ein bisschen Skifahren oder was immer du willst«, bot sie als Entschädigung an. »Aber Weihnachten ist Arbeitszeit. Hochsaison. Keine Zeit, um zu feiern.«
Das hatte Cindy bisher immer anders gesehen. Aber sie konnte an Michelles Einstellung im Moment wohl nichts ändern. Für sie war das seit vielen Jahren die Realität, das Normale. Wahrscheinlich konnte sie es sich gar nicht anders vorstellen.
»Flieg doch zu deiner Mutter«, schlug Michelle jetzt vor, während sie schon zu ihrem Schreibtisch zurückging, von dem sie sich nur widerwillig für eine Minute getrennt hatte, um mit Cindy zu reden. »Sie erwartet dich doch bestimmt zu Weihnachten. Dann könnt ihr dort ein schönes Fest feiern, und danach feiern wir in Colorado.« Sie lächelte leicht geistesabwesend zu Cindy herüber, weil ihr Blick bereits wieder von irgendwelchen Vorgängen auf ihrem Bildschirm gefangen war.
Voller ungläubigem Entsetzen, das sie nicht verstecken konnte, auch wenn sie das gewollt hätte, schaute Cindy sie an, als sie sich vorstellte, was die Konsequenzen dieser Entscheidung wären. »Ich wäre dann zu Weihnachten in Florida und du hier in Kalifornien?« Was schlug Michelle ihr da vor?
»Du wärst bei deiner Mutter«, hielt Michelle dagegen. »Da würde ich ja sowieso nur stören.«
Protestierend schüttelte Cindy den Kopf. »Wie kommst du denn darauf? Meine Mutter würde sich sehr freuen, wenn du kommst. Wenn sie endlich einmal wieder ein richtiges Familienfest zu Weihnachten hat.«
Skeptisch blickte Michelle sie an. »Ich weiß, euch bedeutet Familie sehr viel. Aber für mich . . .« Sie zuckte die Schultern »Ich weiß nicht, was das ist. Ich kenne das alles nicht.«
»Aber deshalb wäre es doch schön, wenn du es einmal kennenlernen würdest.« Mittlerweile war Cindy schon ziemlich verzweifelt.
Die Alternativen waren also entweder: Sie flog nach Florida und war dort zwar mit ihrer Mutter zusammen, aber trotzdem in gewisser Weise allein, weil Michelle nicht da war. Oder sie blieb hier bei Michelle, sah sie vermutlich so gut wie gar nicht, sah ihre Mutter auch nicht, und hatte vielleicht sogar ein noch einsameres Weihnachtsfest.
Das hatte sie sich ein bisschen anders vorgestellt, als sie Michelle geheiratet hatte. Sie wünschte sich ein Familienleben, wie es andere Leute hatten. Aber das war mit Michelle so gut wie nicht möglich.
»Gut«, seufzte sie. »Dann werde ich wohl meine Mutter anrufen. Mal sehen, was sie sagt.«
»Ja, tu das.« Michelle antwortete nur abwesend murmelnd, denn ihre Augen hingen jetzt endgültig am Bildschirm ihres Computers, wo sie irgendwelche Tabellen überprüfte, und sie hatte wahrscheinlich fast schon vergessen, dass Cindy überhaupt da war.
2
»S»o etwas hatte ich fast schon ein bisschen befürchtet.« Cindys Mutter Lindsay Ann seufzte. »Sie ist nun einmal so. Normalerweise kennt man das ja eher von Männern, aber sie . . .«, tief holte sie Luft, »ist eben eine besondere Frau.«
»Sie ist meine Frau, Mum«, erwiderte Cindy etwas gereizt. »Auch wenn du das vielleicht nicht verstehst.«
»Aber ich verstehe dich doch.« Lindsay Ann Claybourne lachte. »Wieso sollte ich nicht? Sie ist eine sehr schöne Frau, eine sehr erfolgreiche Frau und außerdem die Frau, die du liebst. Ich mag sie ja auch. Wie kommst du darauf, das wäre nicht so?«
»Sie liebt mich auch.« Das musste Cindy noch erwähnen, denn das hatte ihre Mutter in der Aufzählung vergessen. »Aber ihr Job ist eben . . .« Beinah schicksalsergeben atmete sie durch. »Den kennt sie schon länger als mich. Viel länger.«
»Und deshalb hat er ältere Rechte, meinst du? Nein, nein.« Ihre Mutter schüttelte heftig den Kopf, was Cindy auf dem Bildschirm ihres Smartphones sah. »So funktioniert das nicht. Wenn man verheiratet ist, dann gibt es einfach Tage, die gehören der Familie. So war es immer.«
»Sie hatte nie eine Familie«, wandte Cindy Michelle in Schutz nehmend ein. »Sie kennt das nicht.«
»Das ist keine Entschuldigung.« In so etwas verstand Lindsay Ann keinen Spaß. »Mag ja sein, dass sie nie eine hatte, aber jetzt hat sie eine. Zumindest dich. Wenn sie mich nicht dazuzählt. Und John.«
»Ich glaube schon, dass sie dich dazuzählt«, sagte Cindy. »Aber das Wort Mutter hat für sie nicht direkt eine Bedeutung. Jedenfalls keine positive.«
»Ich weiß.« Lindsay Ann nickte. »Aber ich bin nicht ihre Mutter, nur ihre Schwiegermutter. Ich habe noch nie von ihr verlangt, dass sie Mutter zu mir sagt. Dennoch gehört es sich einfach, dass man Weihnachten mit der Familie verbringt. Ist ja nicht so, dass sie Flaschen sammeln müsste, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Sie verdient genug. Und du hast auch dein Auskommen. Mehr als das. Also gibt es keinen Grund, an einem Feiertag zu arbeiten. Vor allem nicht an diesem Feiertag.«
»Aber was soll ich machen, wenn sie nicht will?«, fragte Cindy und biss sich auf die Unterlippe.
Kurz schien ihre Mutter zu überlegen. »Ich glaube, sie hat Angst«, sagte sie dann.
»Michelle? Angst?« Verblüfft lachte Cindy auf. »Höchstens die, ihren Job zu verlieren«, ergänzte sie in Erinnerung an all das, was geschehen war. »Und die Gefahr besteht nicht mehr. Seit wir das mit dem Brand damals geklärt haben, sitzt sie sehr fest im Sattel.«
Lindsay Ann schüttelte den Kopf. »Auch wenn ihr Job immer ihr Leben war, aber ich glaube nicht, dass das das ist, was ihr am meisten Angst macht im Leben«, sagte sie. »Nach allem, was du mir erzählt hast, hat sie vor allem Angst vor Gefühlen. Und da ist Weihnachten natürlich ganz besonders gefährlich.«
Nachdem sie sich das kurz hatte durch den Kopf gehen lassen, nickte Cindy nachdenklich. »Damit könntest du recht haben. Es ist jedes Mal ein Kampf mit ihr, wenn es um Gefühle geht. Obwohl sie sie hat.« Um Verständnis flehend schaute sie ihre Mutter an. »Sie hat sie. Ganz bestimmt, Mum. Das hat sie mir schon oft gezeigt. Aber wenn andere Leute dabei sind . . .«
»Und ich bin natürlich andere Leute. Für sie.« Scheinbar resigniert atmete Lindsay Ann durch. »Da muss man mal überlegen . . .«
Cindy kannte ihre Mutter gut genug, um zu wissen, dass sie sich nie so schnell geschlagen geben würde. Nicht, wenn es um die Familie ging. »Warum?«, fragte sie deshalb vorsichtig. »Was hast du vor?« Sie wartete kurz auf eine Antwort, die nicht kam. »Was denkst du gerade?«, fügte sie aus diesem Grund jetzt doch etwas alarmiert hinzu.
»Oh, mir geht so einiges durch den Kopf.« Lindsay Ann tat ziemlich harmlos, aber Cindy wusste, dass nichts, was jetzt in ihrem Kopf vor sich ging, harmlos war. Nicht für Michelle.
»Bitte, Mum . . .« Cindy fühlte sich hin und her gerissen, denn sie wusste, dass alles, was ihre Mutter jetzt dachte, darauf hinauslief, doch noch ein schönes Weihnachtsfest zu haben. Mit Michelle.
Gleichzeitig wusste sie, dass Michelle einen Wutanfall kriegen würde, wenn sie herausfand, dass sie manipuliert worden war. Das liebte sie gar nicht. Nein, das war zu schwach ausgedrückt. Sie hasste es.
»Du musst das verstehen . . .«, setzte sie erneut vorsichtig an.
Aber sofort wurde sie von ihrer Mutter unterbrochen. »Ich verstehe das durchaus.« Lindsay Ann schürzte die Lippen. »Aber ich unterstütze so etwas nicht. Manche Leute müssen eben zu ihrem Glück gezwungen werden. Und ich denke, Michelle gehört dazu.« Leicht bedauernd verzog sie das Gesicht. »Weil sie anscheinend immer noch nicht wirklich weiß, was Glück ist.« Gleich darauf wandelte sich ihr Gesichtsausdruck jedoch wieder und wurde geradezu spitzbübisch. »In der Beziehung ist sie glaube ich tatsächlich wie ein Mann. Die muss man auch manchmal in die richtige Richtung schubsen. Sie dürfen es nur nicht merken.« Sie grinste fast wie ein Teenager, der sich einen Streich ausgedacht hat.
Ablehnend schüttelte Cindy den Kopf. »Ich will nicht unehrlich zu ihr sein, Mum. Das verträgt sie nicht. Ganz und gar nicht.« Sie holte tief durchatmend Luft. »Man weiß nie, was dann passiert.«
Kurz schaute ihre Mutter besorgt, doch dann lachte sie. »Sie hat dich schon ziemlich gut erzogen, hm? Du bemühst dich immer, sie wie ein rohes Ei zu behandeln. Aber glaub mir, das ist nicht nötig. Sie hat eine ganz schön harte Schale. Auch wenn das Innere butterweich ist.« Ihre Mundwinkel zuckten. »Kommt öfter vor. Du bist nicht die erste Frau, die damit zu kämpfen hat. Aber auf die Dauer ist es ziemlich anstrengend, jedes Wort auf die Goldwaage zu legen und so einen Eiertanz aufzuführen. Deshalb solltest du da jetzt schon einen Riegel vorschieben. Sonst hast du in deiner ganzen Ehe damit zu tun. Und das ist nicht schön.«
Cindy schnappte nach Luft. »Du willst mir doch nicht etwa erzählen, dass Dad –?«
Ihre Mutter schüttelte den Kopf. »Nein, nicht dein Dad. Aber ist dir schon mal in den Sinn gekommen, dass dein Vater nicht der einzige Mann war, den ich näher gekannt habe?«
»Mum!« Der Ausruf entfuhr Cindy unvermittelt, ohne dass sie es wollte.
Gespielt missbilligend schüttelte Lindsay Ann den Kopf. »Ts, ts. Ihr Kinder immer . . . Selbst die tollsten Sachen veranstalten, aber wir Eltern sollen die reinsten Engel gewesen sein, als wir jung waren? Findest du das nicht ein bisschen unlogisch?«
Das musste Cindy zwar zugeben, aber trotzdem konnte sie sich ihre Mutter nicht als eine wilde Peggy Sue vorstellen.
Lindsay Ann beobachtete ihr Gesicht und lachte dann ganz laut auf. »Du müsstest jetzt mal dein Gesicht sehen. Nein, ich habe kein ›kleines schwarzes Buch‹.« Sie schüttelte erneut den Kopf, wurde dabei jedoch wieder ernst. »Aber ich habe leider die eine oder andere Freundin, Bekannte, Nachbarin gehabt, die sich da sehr vertan hat. Und das hatte höchst unangenehme Folgen.« Besänftigend hob sie die Hände, als sie sah, wie Cindy die Lippen öffnete, um zu widersprechen. »Ich will ja gar nicht behaupten, dass Michelle so ist. Aber wie ich schon erwähnte, mein Rat ist: Wehret den Anfängen. Das ist immer das Beste.«
So grundsätzlich konnte Cindy dem kaum widersprechen. Das war eine immer gültige Wahrheit. »Ich möchte einfach nur ein schönes Weihnachtsfest haben«, murmelte sie etwas selbstvergessen vor sich hin. »Mit meiner Frau. Ist das denn zu viel verlangt?«
Lindsay Ann lachte. »Selbstverständlich ist das nicht zu viel verlangt.«
Cindy zuckte fast zusammen, weil sie mehr zu sich selbst gesprochen hatte als zu ihrer Mutter und jetzt beinah überrascht war, dass sie ihr antwortete. »Ich wusste, wie sie ist, als ich sie geheiratet habe«, seufzte sie. »Wenn ich ein Heimchen am Herd hätte haben wollen, hätte ich jemand anderen heiraten müssen.«
»Ihr habt schon so viel miteinander durchgemacht.« Lächelnd betrachtete Lindsay Ann ihre Tochter auf dem Bildschirm des PCs vor sich, an dem sie saß. »Da wird jetzt doch Weihnachten nicht das piece de resistance sein, das ihr nicht zusammen genießen könnt.«
»Ach Mum . . .« Bis jetzt hatte Cindy gestanden, während sie mit ihrer Mutter telefonierte, nun ließ sie sich auf die Couch fallen und hielt das Handy über sich in die Luft. »Vielleicht war ich doch zu . . . naiv.« Sie seufzte erneut. »Ich glaube, niemand, der nicht das durchgemacht hat, was sie in ihrer Kindheit durchgemacht hat, als sie aufgewachsen ist, kann das nachempfinden. Und ich bin nicht so aufgewachsen. Noch nicht mal ansatzweise. Ganz im Gegenteil.«
Ihre Mutter atmete tief durch. »Da bin ich natürlich auch überfragt. Ich weiß aber, dass das langwierige Folgen haben kann. Selbst wenn man so erfolgreich ist wie Michelle. So richtig bekommt man das wohl sein Leben lang nicht mehr los.«
»Sie tut immer so, als hätte sie alles im Griff, aber in Wirklichkeit ist sie glaube ich sehr . . . verunsichert«, stellte Cindy bedrückt fest. »Sie kämpft ständig dagegen an, und das kostet sie sehr viel Kraft. Die ihr dann in anderen Dingen fehlt.«
»In Gefühlsdingen zum Beispiel«, vermutete Lindsay Ann, ohne dass es eine Frage war.
Dazu konnte Cindy noch nicht einmal etwas sagen, denn plötzlich hatte sie einen Kloß im Hals. »Ich liebe sie so, Mum«, brachte sie dann tränenerstickt hervor. »Und ich bin glücklich mit ihr. Sie ist alles, was ich will. Aber manchmal habe ich das Gefühl –« Sie brach ab, sonst hätte sie ein Schluchzen nicht mehr zurückhalten können.
Ihre Mutter verstand sie sofort. »Manchmal hast du das Gefühl, dass du nicht alles bist, was sie will«, setzte sie den Satz mit einem mitfühlenden Nicken fort. »Sie würde für dich niemals ihren Job aufgeben. Das ist es doch, nicht wahr? Während du damit wahrscheinlich keine Probleme hättest. Obwohl du das gern tust, was du tust.«
»Das würde ich doch niemals von ihr verlangen.« Cindy schüttelte den Kopf. »Ich weiß, wie wichtig das für sie ist. Wie hart sie dafür gearbeitet hat. Immer noch arbeitet. Sie hat diesen Job mehr als verdient.«
Ein verdächtiges Zucken bildete sich um Lindsay Anns Mundwinkel. »Aber nicht an Weihnachten. An Weihnachten willst du sie für dich haben.«
Eine Weile sagte Cindy nichts, denn sie musste zugeben, dass ihre Mutter recht hatte. Michelles Wünsche hin oder her, an Weihnachten wollte Cindy das haben, was sie sich wünschte. Aber das konnte sie nicht. Sie seufzte zum dritten Mal in dieser Unterhaltung, und diesmal klang es resigniert. »Ja, das ist wirklich zu viel verlangt, Mum«, sagte sie leise. »Ich sehe es ein. Ich bin unvernünftig. Ich habe mir dieses Leben mit ihr ausgesucht, und nun muss ich auch dazu stehen.«
Das versteckte Lächeln auf Lindsay Anns Gesicht verwandelte sich in ein fast jugendliches Grinsen. »Das habe ich nicht gesagt«, erwiderte sie lebenserfahren. »Du musst nur einen Weg finden, das, was du machen willst, zu etwas zu machen, das ihr beide wollt. Es hat keinen Sinn, mit dem Kopf durch die Wand zu wollen. Das bringt nie etwas. Aber wenn Michelle denkt, sie würde etwas verpassen, wenn sie Weihnachten nicht mit dir verbringt, könnte sie sich vielleicht selbst dafür entscheiden, ein paar Stunden für dich abzuzweigen.«
»Und was könnte das wohl sein, was sie nicht verpassen will?«, fragte Cindy, richtete sich wieder leicht auf und saß nun mit untergeschlagenen Beinen auf dem Sofa. Sie verzog die Lippen. »Und das nicht den Namen Disney quer über die Stirn tätowiert trägt?«
Ihre Mutter machte eine kurze Pause, in der sie sie nur ansah. »Wie wäre es, wenn wir das hier in Florida besprechen würden? Nicht mit einem Bildschirm zwischen uns?«
Cindy stutzte. »Du meinst, ich soll . . .«, stammelte sie etwas überrumpelt, »jetzt schon zu dir kommen? Nicht erst zu Weihnachten?«
»Das ist schon in einer Woche.« Lindsay Ann zuckte die Schultern. »Die paar Tage mehr oder weniger . . .«
Nun machte Cindy eine kurze Pause. »Ah, ich verstehe«, nickte sie dann schmunzelnd. »Ich soll sie am ausgestreckten Arm verhungern lassen. Vielleicht vermisst sie mich und kommt nach. Rechtzeitig zur gemeinsamen Weihnachtsfeier.«
Lindsay Ann schüttelte den Kopf. »Darauf allein würde ich nicht wetten. Schließlich habt ihr euch schon oft tagelang nicht gesehen. Sie ist das gewöhnt. Und ihre Arbeit läuft einfach weiter. Ohne dass du sie störst.« Etwas bedauernd hob sie die Augenbrauen. »Das könnte sie sogar noch mehr vergessen lassen, dass es neben dem geschäftlichen Weihnachten auch noch ein privates Weihnachten gibt. Aber ich würde mich freuen«, sie beugte sich vor, »wenn du nicht nur zwei Tage da wärst.«
Cindy lachte. »Das ist also ganz egoistisch? Ich war doch erst an Thanksgiving da, wie üblich.«
»Thanksgiving ist schon ewig her«, winkte Lindsay Ann ab. »Und außerdem warst du da allein hier. Weil sie . . .«, diese Pause jetzt war eine bedeutungsvolle, »natürlich wieder mal keine Zeit hatte.«
»Du darfst ihr das nicht –«, setzte Cindy schon an, Michelle zu entschuldigen wie immer. Aber dann brach sie den Satz selbst ab. »Nein, diesmal nicht«, fügte sie stattdessen entschlossen hinzu. »Du darfst ihr das übelnehmen. Die Zeiten haben sich geändert. Sie ist jetzt eine verheiratete Frau und hat eine Familie. Das muss sie jetzt einfach mal akzeptieren.«
Vergnügt warf Lindsay Ann den Kopf zurück und lachte laut auf. »So gefällst du mir. Wesentlich besser als vorher. So kenne ich meine Tochter.« Sie beugte sich wieder vor. »Dann kommst du?«
Cindy nickte heftig. »Ja. Ich setze mich ins nächste Flugzeug.«
3
Ihr privates Handy klingelte. Obwohl Michelle nicht gestört werden wollte, hatte sie wohl vergessen, es stummzuschalten. Eigentlich kannte ja auch kaum jemand die Nummer.
Cindy natürlich. Seit sie in Florida war, hatte sie schon mehrmals angerufen. Aber sie telefonierten normalerweise abends, denn Cindy wusste, wie sehr Michelle es hasste, unerwartet aus der Arbeit gerissen zu werden, wenn es nicht um etwas Geschäftliches ging.
»Soll ich Ihnen das abnehmen?«, fragte Mrs. Lebowski und trat einen Schritt zur Tür von Michelles Büro herein, als Michelle das Gespräch nicht annahm.
Sie war wirklich wie eine Mutter, die immer wusste, was ihr Kind brauchte, dachte Michelle. Weit mehr als eine Sekretärin. »Nein, ist schon gut. Danke, Mrs. Lebowski.« Den Blick immer noch auf die Geschäftsunterlagen am Bildschirm gerichtet angelte Michelle geistesabwesend mit der linken Hand nach dem Smartphone, das auf dem Tisch lag. »Das ist bestimmt nur –« Ihre Augen öffneten sich erstaunt und sie brach ab, als sie endlich auf das Display sah. Cindy, hatte sie sagen wollen, aber was sie wirklich sagte, war: »Candice?«
»Hallo Michelle.« Die liebliche und für das Verkünden auch schlimmster Nachrichten perfekt ausgebildete Stimme von Candice drang zwischen ihren Lippen beziehungsweise aus dem Lautsprecher des Handys hervor. »Wie geht’s dir?«
»Gut«, antwortete Michelle automatisch. Obwohl sie noch nicht einmal wusste, ob das in der Tat so stimmte. Aber es war eben die mechanische Antwort, die man gab, wenn man so etwas gefragt wurde. »Und dir?«
»Oh, sehr gut.« Candice’ Mundwinkel schienen ein wenig zu zucken. »Cindy, Mel und ich haben schon das eine oder andere unternommen, seit Cindy hier ist.«
»Ach?« Michelles Augen wanderten von dem Display mit Candice’ schönem Gesicht zu ihrem PC-Bildschirm hinüber. Aber da sie nicht unhöflich sein wollte, schwenkte sie sie wieder zurück.
»Gut, dass sie allein hier ist«, bemerkte Candice in diesem Augenblick anzüglich.
Diesen Ton kannte sie doch. Michelle hob die Augenbrauen. »Sie ist verheiratet, Candice. Sie ist meine Frau.«
»Ich weiß. Schließlich war ich auf eurer Hochzeit.« Candice nickte locker und betrachtete dann ihre Fingernägel. »Aber du weißt, dass mich solche Bagatellen noch nie gestört haben.«
Von dieser ihr zwar bekannten, im Moment aber unerwartet ausgesprochenen Ansicht schwer auf dem falschen Fuß erwischt schnappte Michelle nach Luft, und gleichzeitig fiel ihr fast die Kinnlade herunter. »Candice!«
»Siehst du«, stellte Candice mit dem berauschenden Fernsehlächeln fest, das auch über den kleinen Bildschirm des Handys gut rüberkam. »So ist das. Früher hat dich das nie gestört, wenn ich dir von irgendwelchen Affären mit verheirateten Frauen oder Männern erzählt habe. Du fandst das ganz normal. Jetzt bist du verheiratet, und schon . . .«, sie machte eine wegwerfende Geste mit ihren perfekt lackierten langen Fingernägeln, sodass man sich fragte, was sie zuvor dort so prüfend betrachtet hatte, »legst du ganz andere Maßstäbe an. Kommst mir mit irgendeiner Moral. Das hat uns früher nie interessiert, als wir beide noch –« Sie brach genauso süffisant ab, wie sie begonnen hatte. »Also jedenfalls . . . diese Probe, die ich gesehen habe . . . in dem Lokal, wo deine Frau«, sie betonte das sehr, »gesungen hat –«
»Sie hat was?« Michelle fiel fast vom Stuhl. »Ich wusste nicht, dass sie singen kann.«
»Da kannst du mal sehen . . . Das ist doch ein Beweis dafür, dass du dich zu wenig um deine Frau kümmerst. Weshalb ich da jetzt ausgesprochen gern einspringe, wenn du keine Zeit dafür hast.« Candice’ Lächeln war nicht wirklich mehr ein Lächeln. Es war das, was sie sich in der Öffentlichkeit als Äußerstes in Richtung Grinsen erlaubte, um ihr Image nicht zu gefährden. »Denn ich kann dir sagen . . . dieses Kleid, das sie da trägt . . . mit diesem Schlitz bis zum Bauchnabel . . .«, fuhr sie genüsslich fort. »Und hauteng. Darin ist sie wirklich . . .«, sie führte ihre Fingerspitzen an die Lippen und machte ein Kussgeräusch, »absolute Sahne. Ich kann überhaupt nicht begreifen, wie du sie so vernachlässigen kannst.« Ihre Mundwinkel zuckten nun endgültig amüsiert. »Gut, dass sie jetzt hier ist. Und ich auch. Während du . . . lieber arbeitest.« Sie machte eine kleine, auf Wirkung angelegte Pause. Wie vor der Kamera, wenn sie die Zuschauer auf das, was jetzt kommen würde, neugierig machen wollte. »So ein Weihnachtsgeschenk kriegt man selten.«
»Weihnachtsgeschenk?« Michelle war baff. »Sie ist doch nicht –«
Candice ließ sie gar nicht erst ausreden, sondern hob nur die Hand, um die Verabschiedung einzuläuten. »Also dann . . . mach’s gut. Viel Spaß in Anaheim. Wir . . .«, sie blickte zur Seite, als wäre da etwas, das sie sehen konnte und worauf sie sich sehr freute, ihr Gesicht leuchtete geradezu auf, »werden hier bestimmt viel Spaß haben. Das kann ich dir versprechen. Kannst es dir ja dann von . . . deiner Frau erzählen lassen, wenn sie zurückkommt.« Sie machte eine kurze Pause. »Ich meine . . . wenn sie zurückkommt.« Der Bildschirm wurde dunkel.
Perplex sank Michelle wie ein nasser Sack in ihren Bürosessel zurück, denn sie hatte sich zuvor während des Gesprächs von Sekunde zu Sekunde angespannter aufgerichtet. Was war denn hier auf einmal los?
»Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«, fragte Mrs. Lebowski von der Tür her.
Es war eine Art stille Verabredung zwischen ihnen, dass sie Michelle jederzeit ansprechen konnte, wenn die Tür offenstand. Wollte Michelle das nicht, schloss sie die Tür.
Tief durchatmend schüttelte Michelle den Kopf. Wahrscheinlich sah das immer noch so fassungslos aus, wie sie sich fühlte. »Nein, danke, Mrs. Lebowski.« Sie richtete sich wieder auf und saß kerzengerade in ihrem Stuhl, wie ein braves Schulmädchen.
Dennoch trat Mrs. Lebowski einen Schritt ins Büro hinein. Ihre Miene wirkte besorgt. »Ist irgendetwas mit . . . Cindy?«
Könnte man vielleicht so sagen, dachte Michelle. Obwohl ich ja selbst noch nicht einmal genau weiß, was es ist. »Wussten Sie, dass sie singen kann?« Fragend wandte sie ihr Gesicht ihrer Vorzimmerdame zu.
»Ja.« Mrs. Lebowski nickte. »Sie hat eine sehr schöne Stimme. Sheryl und sie haben einmal Happy Birthday für mich gesungen.« Sie schmunzelte. »Ich weiß gar nicht, wie sie meine Tochter dazu gebracht hat. Sie macht so etwas normalerweise nicht.«
»Cindy kann«, Michelle räusperte sich, »sehr überzeugend sein.«
»Sie ist ja auch eine außergewöhnlich nette junge Frau«, antwortete Mrs. Lebowski lächelnd. »Aber das muss ich Ihnen ja nicht sagen. Sie kennen sie besser als ich.«
Da bin ich gar nicht mehr so sicher, dachte Michelle.
»Wie geht es ihr?«, kehrte Mrs. Lebowski wieder zu dem etwas besorgten Gesichtsausdruck zurück, mit dem sie hereingekommen war. »Ist in Florida etwas passiert?«
Wenn ich das nur wüsste. Michelle konnte sich immer noch keinen richtigen Reim auf das Gespräch mit Candice machen. Sie kannten sich schon sehr lange, und eigentlich war Candice nie jemand für Intrigen gewesen. Auch wenn sie in ihrem Job mehr als genug damit konfrontiert wurde. Sie ignorierte das einfach und beteiligte sich nicht daran. Intrigen machen Falten, sagte sie immer. Und die wollte sie natürlich nicht haben.
»Nein, es ist nichts passiert«, beruhigte sie Mrs. Lebowski mit einem weiteren Kopfschütteln. »Sie scheint sich dort unten sehr gut zu unterhalten.«
Mrs. Lebowskis Gesicht hellte sich auf. »Dann ist es ja gut. Heutzutage weiß man ja nie . . .«
»Nein, nein.« Michelle wusste nicht genau, was sie tun sollte. Das war ein Zustand, den sie zwar durchaus kannte, aber noch nicht sehr oft erlebt hatte. Und mögen tat sie ihn noch viel weniger. »Sie ist ja bei ihrer Mutter.« Warum hatte sie das gesagt? Sollte sie das jetzt beruhigen?
»Sie sollten auch runterfliegen. Zu Weihnachten bei der Familie sein. Das ist doch immer das Schönste.« Begütigend hob Mrs. Lebowski die Hände. »Ich weiß, ich weiß. Sie können hier nicht weg. Aber wenn ich alle meine fünf Kinder zu Weihnachten um mich habe inklusive Anhang und Enkelkinder, bin ich einfach glücklich. Eine andere Art Weihnachten kann ich mir nicht vorstellen.«
»Ich habe keine fünf Kinder«, erwiderte Michelle ziemlich brüsk. Was sie gar nicht hatte sein wollen, aber diese Situation überforderte sie etwas. Geschäftliche Situationen taten das nie, private jedoch oft. »Und schon gar keine Enkel.«
»Was nicht ist, kann ja noch werden.« Mrs. Lebowski zwinkerte unbeeindruckt von Michelles Reaktion eindeutig herausfordernd. »Cindy ist ja noch jung.«
Das vertrieb die aus alter Gewohnheit so brüske Reaktion in Michelle und sie musste lachen. »Da trauen Sie ihr aber einiges zu. Dennoch ist es sehr nett von Ihnen, dass Sie wenigstens nicht davon ausgehen, dass ich die Kinder kriegen muss.«
»Erstens«, entgegnete Mrs. Lebowski trocken, »sind Sie«, sie hüstelte, »nicht mehr ganz so jung, und zweitens«, mit einem anerkennenden Blick musterte sie Michelle, »haben Sie hier eine Aufgabe, die sich schwer mit einer Schwangerschaft vereinbaren lässt. Und die kaum jemand anderer so gut erledigen könnte wie Sie.« Sie lächelte. »Ich bin froh, dass Sie da sind.« Damit drehte sie sich um und kehrte in ihr Vorzimmer zurück.
Woraufhin Michelle wieder mit ihren Gedanken allein war. Ihre Mundwinkel zuckten, dann lächelte sie leicht kopfschüttelnd. Mrs. Lebowski ließ manchmal so ganz nebenbei Sachen fallen . . . Oder die ganze Familie Lebowski. Ihre Tochter war ja genauso. Und vermutlich ihre restlichen Kinder auch. Die hatte Michelle noch nicht kennengelernt.
Normalerweise hätte sie sich jetzt einfach erneut ihrer Arbeit gewidmet, aber irgendwie erschien es ihr so, als wäre nichts an der aktuellen Situation normal. Also lehnte sie sich in ihrem Sessel zurück und dachte darüber nach. Sollte sie Cindy anrufen, um sich zu vergewissern, was da los war? Es konnte doch nicht sein, dass das stimmte, was Candice da angedeutet hatte. Aber warum hatte sie es dann angedeutet? Das war nicht gerade typisch für Candice.
Sicher, sie war keine Kostverächterin. Eine schöne junge Frau wie Cindy wäre ihr jederzeit ins Auge gefallen und hätte ihr Interesse erweckt. Mit Ehefrauen hatte sie auch kein Problem, wie sie selbst richtig gesagt hatte. Wenn die eine Affäre wollten oder sich auf eine einließen, war das eindeutig ihr Problem, nicht das von Candice. Aber mit Cindy?