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Katia Iacono
Dolmetschen im Medizintourismus
Anforderungen und Erwartungen an DolmetscherInnen in Deutschland und Österreich
Narr Francke Attempto Verlag Tübingen
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© 2021 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG
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ISBN 978-3-8233-8472-4 (Print)
ISBN 978-3-8233-0267-4 (ePub)
Inhalt
Einleitung
1 Medizintourismus als Marktsegment für DolmetscherInnen1.1 Begriffsdefinition und -abgrenzung1.2 Die wirtschaftliche Bedeutung des Medizintourismus1.3 Der Medizintourismus innerhalb der Europäischen Union1.4 Beweggründe für medizinische Reisen1.5 Das medizintouristische Angebot1.5.1 Art der medizinischen Behandlung1.5.2 Dienstleistungskette im Medizintourismus1.5.3 Stakeholder im Medizintourismus1.5.4 Das Internet und die Suche nach dem passenden Angebot1.6 PatientInnentypen1.7 Rechtliche Aspekte des Medizintourismus1.8 Ethik und Medizintourismus1.9 Kapitelzusammenfassung
2 Dolmetschen in medizinischen Settings unter Berücksichtigung des Medizintourismus2.1 Medizin und Kommunikation2.1.1 Die Beziehung zwischen ÄrztIn und PatientIn2.1.2 Institutionelle Kommunikation und Struktur der medizinischen Gespräche2.1.3 Gesprächsformen und Textsorten der medizinischen Kommunikation2.1.4 Ethnomedizinische Aspekte2.2 Sprachbarrieren im Gesundheitswesen2.3 Rollen und Aufgaben der DolmetscherInnen in der Kommunikation2.4 Sichtbarkeit der DolmetscherInnen2.5 Forschung zum Dolmetschen im Medizintourismus2.6 Professionelles translatorisches Handeln im Medizintourismus2.7 Kapitelzusammenfassung
3 Erwartungen und Anforderungen an DolmetscherInnen3.1 Erwartungen an DolmetscherInnen3.1.1 Erwartungen an die Qualität der Leistung3.1.2 Erwartungen an das Aufgabenprofil und an die Kompetenzen3.2 Anforderungen an DolmetscherInnen3.2.1 Dolmetschkompetenzmodelle3.2.2 Sprach- und Kulturkompetenz3.2.3 Translatorische Kompetenz3.2.4 Vorbereitungs- und terminologische Kompetenz3.2.5 Sachkompetenz und institutionelle Kompetenz3.2.6 Ethische Kompetenz3.2.7 Sozial- und Individualkompetenz3.2.8 Businesskompetenz3.3 Kapitelzusammenfassung
4 Forschungsdesign der Studie4.1 Phase 1 – Ethnografische Feldforschung4.1.1 Die teilnehmende, verdeckte Beobachtung4.1.2 Die ethnografischen Interviews4.2 Phase 2 – Expertinneninterviews4.3 Phase 3 – Online-Erhebung4.4 Gütekriterien der Studie
5 Erkenntnisse aus der ethnografischen Feldforschung5.1 Beobachtung: Art der medizinischen Reise5.2 Beobachtung: Erwartete und in Anspruch genommene Leistungen5.2.1 Vor der medizinischen Reise5.2.2 Während der medizinischen Reise5.2.3 Nach der medizinischen Reise5.3 Interviews: Rahmenbedingungen5.4 Interviews: Erwartungen an die Qualität und Leistungen5.5 Interviews: Anforderungen an DolmetscherInnen5.6 Kapitelzusammenfassung
6 Erkenntnisse aus den Expertinneninterviews6.1 Rahmenbedingungen: Dolmetschen im Medizintourismus6.2 Aufgabenprofil der DolmetscherInnen im Medizintourismus6.3 Zufriedenheit mit der Dolmetschtätigkeit im Medizintourismus6.4 Unterschiede zu im Zielland ansässigen anderssprachigen PatientInnen6.5 Anforderungen an DolmetscherInnen im Medizintourismus6.6 Weitere thematisierte Aspekte6.6.1 Dilemmata6.6.2 Verhältnis zwischen DolmetscherInnen und medizinischem Personal6.6.3 Englisch als Lingua Franca6.6.4 Dolmetschen mit neuen Medien6.7 Kapitelzusammenfassung
7 Erkenntnisse aus der Online-Erhebung7.1 Demografische und allgemeine Daten7.2 Zweig 1: Im Medizintourismus tätige DolmetscherInnen7.2.1 Beschreibung der Dolmetschtätigkeit im Medizintourismus7.2.2 PatientInnen7.2.3 Dolmetschmodus und Angebot7.2.4 Herausforderungen und Kompetenzen7.2.5 Allgemeine Einstellung zum Dolmetschen im Medizintourismus7.3 Zweig 2: Nicht im Medizintourismus tätige DolmetscherInnen7.3.1 Beschreibung der Dolmetschtätigkeit7.3.2 Medizintourismus7.4 Weitere thematisierte Aspekte7.5 Kapitelzusammenfassung
8 Zusammenfassende Erkenntnisse und Fazit8.1 PatientInnen und Institutionen8.2 Dolmetschaufträge im Medizintourismus8.3 Schlussfolgerungen und Ausblick8.3.1 Medizintourismus als Untersuchungsgegenstand8.3.2 Verändertes Aufgabenprofil der DolmetscherInnen8.3.3 Mehrwert einer dolmetschvermittelten Kommunikation8.3.4 Stellenwert des Englischen als Lingua Franca im Medizintourismus8.3.5 Ethische Implikationen8.3.6 Relevanz der Businesskompetenz8.4 Implikationen für die Didaktik sowie die transdisziplinäre Zusammenarbeit8.5 Implikationen für praktizierende DolmetscherInnen und Berufsverbände
Bibliografie
Anhang 1: Bildung deduktiver Kategorien nach Mayring (2010)
Anhang 2: Bildung induktiver Kategorien nach Mayring (2010)
Abkürzungsverzeichnis
Einleitung
DolmetscherInnen, die die Kommunikation zwischen PatientInnen und medizinischem Personal aus unterschiedlichen Sprach- und Kulturräumen dolmetschen, leisten einen wichtigen Beitrag zum Erfolg der medizinischen Beratungen bzw. Behandlungen und minimieren etwaige Risiken, die aufgrund von Missverständnissen entstehen können. In den meisten Fällen zielt die verdolmetschte Kommunikation darauf ab, anderssprachigen Menschen, die der Sprache des Landes, in dem sie leben, nicht mächtig sind, Zugang zum Gesundheitswesen zu ermöglichen. Es handelt sich hierbei in der Regel um Menschen mit Migrationshintergrund der ersten oder zweiten Generation, die die Landessprache nicht oder nicht ausreichend beherrschen, um ein medizinisches Gespräch vollständig zu verstehen. In unserer globalisierten Gesellschaft gibt es aber auch Situationen, in denen PatientInnen nicht im Land der medizinischen Institution, die sie aufsuchen, wohnhaft sind. Sie reisen aus medizinischen Gründen in ein anderes Land, um sich dort einer Behandlung zu unterziehen. Innerhalb der Europäischen Union werden solche Reisen durch die Richtlinie 2011/24/EU geregelt. Diese Mobilität von PatientInnen wird in der Fachliteratur mit verschiedenen Termini bezeichnet, die häufigsten im deutschsprachigen Raum sind Medizintourismus, Gesundheitstourismus und PatientInnenmobilität. Für die vorliegende Studie wurde aufgrund ihrer Verbreitung im deutschsprachigen Raum die Bezeichnung Medizintourismus gewählt.
In dieser Studie wird davon ausgegangen, dass das Dolmetschen in medizintouristischen Settings einzigartige Merkmale hinsichtlich der Dolmetsch(dienst)leistung aufweist und sich daher vom Dolmetschen in anderen medizinischen Settings unterscheidet. So setzt die Inanspruchnahme der benötigten medizinischen Leistung eine Reise in ein anderes Land voraus, deren Organisation mit Mühen und Aufwand verbunden ist. Darüber hinaus benötigen viele PatientInnen sowohl von den VertreterInnen medizinischer Institutionen als auch von den DolmetscherInnen zusätzliche Dienstleistungen organisatorischer Natur, um die medizinische Reise überhaupt bewältigen zu können. Der finanzielle und organisatorische Aufwand einer solchen Reise beeinflusst die Erwartungen der PatientInnen an die Behandlung sowie an das medizinische Personal und nicht zuletzt an die DolmetscherInnen. Dies führt wiederum zu einer Veränderung des Anforderungsprofils der DolmetscherInnen. In der vorliegenden Studie wird der Medizintourismus in den Zielländern Österreich und Deutschland untersucht. Die Wahl dieser beiden eher höherpreisigen medizintouristischen Zielländer, die über eine gute bis sehr gute medizinische Infrastruktur verfügen, wurde aus folgenden Gründen getroffen: Auf der einen Seite ist davon auszugehen, dass die Bereitschaft, Dolmetschservices in Anspruch zu nehmen, und die Erwartungen an alle beteiligten AkteurInnen – auch an die DolmetscherInnen – höher sind, wenn hoch spezialisierte und zumeist kostspielige medizinische Behandlungen angestrebt werden; auf der anderen Seite verfügte die Autorin aufgrund ihrer Dolmetschtätigkeit bereits über einen Zugang zu medizintouristischen Settings in Österreich.
Die Forschungsfragen der vorliegenden Studie lauten wie folgt:
1 Wie sieht das translatorische Betätigungsfeld jener DolmetscherInnen aus, die in Deutschland und Österreich im Medizintourismus arbeiten? Was ist anders im Vergleich zum klassischen medizinischen Dolmetschen?
2 Welche Erwartungen und Anforderungen werden von PatientInnen und ÄrztInnen an DolmetscherInnen im Medizintourismus gestellt? Welche zusätzlichen Kompetenzen benötigen sie dafür (z.B. Managementkompetenzen, unternehmerisches Denken, spezifisch medizintouristisch-institutionelles Wissen)?
3 Inwieweit wären DolmetscherInnen bereit, diesen Erwartungen und Anforderungen gerecht zu werden? Wären sie bereit, außertranslatorische Aufgaben zu erfüllen und die dazu nötigen Kompetenzen zu erwerben?
Dabei werden Erwartungen wie folgt verstanden:
als explizit in der Anfrage und während der Kommunikation geäußerte Bedürfnisse und Wünsche der BedarfsträgerInnen sowie
als nicht direkt kommunizierte Bedürfnisse und Wünsche der BedarfsträgerInnen.
Als Anforderungen werden in Anlehnung an Risku (2016b: 44) die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Dolmetsch(dienst)leistung und somit hauptsächlich Kompetenzanforderungen verstanden.
Die Theorie des translatorischen Handelns (vgl. Holz-Mänttäri 1984) und der pragmatische bzw. soziologische dolmetschwissenschaftliche Ansatz (vgl. u.a. Wadensjö 1998 und Roy 2000) bilden den theoretischen Rahmen der vorliegenden Studie. Im Sinne des translatorischen Handelns werden DolmetscherInnen als ExpertInnen verstanden, die den Bedarf ihrer BedarfsträgerInnen analysieren und verbalisieren, ihnen eine bedarfsgerechte Dienstleistung anbieten und zur Erreichung komplexer Ziele mit anderen ExpertInnen, wie z.B. dem medizinischen Personal, zusammenarbeiten. In ihrem translatorischen Handeln treten DolmetscherInnen als selbstbewusste ExpertInnen auf und wählen ihre Strategien mit dem Ziel, Verständigung zwischen den GesprächsteilnehmerInnen zu ermöglichen. Sie sind keine unsichtbaren AkteurInnen: Sie koordinieren die Gespräche, damit alle Beteiligten zu Wort kommen, und klären Missverständnisse, die ungeklärt zu erheblichen medizinischen Folgen führen könnten (vgl. u.a. Baraldi/Gavioli 2012). Sie vertreten also die Interessen aller Beteiligten, ohne persönliche Vorteile anzustreben und sind somit allparteilich (vgl. Kadrić/Zanocco 2018).
Forschungsziel der vorliegenden Studie ist die Untersuchung des Dolmetschens im Medizintourismus unter Berücksichtigung seiner rechtlichen, wirtschaftlichen und translationswissenschaftlichen Besonderheiten. Aus rechtlicher Sicht werden der rechtliche Rahmen, die PatientInnenrechte und ÄrztInnenpflichten beleuchtet. Aus wirtschaftlicher Sicht wird der Medizintourismus als neues Marktsegment für DolmetscherInnen untersucht; im Fokus steht die Analyse des Angebots an translatorischen und außertranslatorischen Dienstleistungen. Aus translationswissenschaftlicher Perspektive wird das Augenmerk auf den Situationskontext und seine Unterschiede zu anderen medizinischen Settings – auch hinsichtlich der Bedürfnisse und Erwartungen der Beteiligten sowie der Anforderungen an die DolmetscherInnen – gelegt.
Die Auseinandersetzung mit den Aufgaben und Arbeitsbedingungen der DolmetscherInnen im Medizintourismus ist sowohl für den translationswissenschaftlichen Diskurs als auch für curriculare und didaktische Überlegungen sowie die weitere Entwicklung des Berufsbilds von Relevanz. Die Erfassung und Beschreibung der Erwartungen der am Situationskontext beteiligten AkteurInnen sowie der Anforderungen an die DolmetscherInnen helfen, zusätzliche Kompetenzen, welche DolmetscherInnen auf dem Markt benötigen, zu identifizieren und ein umfassendes Kompetenzprofil zu erstellen. Dadurch soll angehenden DolmetscherInnen ein Berufsbild präsentiert werden, das aufgrund der hohen Erwartungen der PatientInnen und VertreterInnen der medizinischen Institutionen in vielen Fällen eine Erweiterung der Dienstleistungen und eine Veränderung der klassischen Aufgaben und Kompetenzen für DolmetscherInnen mit sich bringt.
Die vorliegende Studie geht zuerst näher auf den Medizintourismus ein, da dieser den Rahmen der analysierten dolmetschvermittelten Kommunikation bildet. In Kapitel 1 folgt auf eine begriffliche Definition des Terminus Medizintourismus eine Auseinandersetzung mit den Besonderheiten des Medizintourismus aus rechtlicher, wirtschaftlicher und ethischer Sicht. In diesem Zusammenhang werden die grundlegenden Merkmale der betroffenen PatientInnen wie ihre Beweggründe beleuchtet. In Kapitel 2 liegt der Fokus auf dem Dolmetschen in medizinischen und medizintouristischen Settings. Neben einem kurzen Überblick über translationswissenschaftliche Untersuchungen des medizinischen Dolmetschens wird auf die Besonderheiten der medizinischen und nicht medizinischen Kommunikation im Medizintourismus sowie auf das professionelle translatorische Handeln von DolmetscherInnen eingegangen. Kapitel 3 beinhaltet eine erste theoretische Auseinandersetzung mit den Erwartungen und Anforderungen an DolmetscherInnen in medizinischen und medizintouristischen Settings. Dieser Vorstellung folgt in Kapitel 4 die Erläuterung der in der Studie angewandten Forschungsmethoden, in deren Rahmen auf die einzelnen Forschungsphasen des Forschungsdesigns eingegangen wird. Die weiteren Kapitel der Arbeit beschäftigen sich mit der Analyse der Erkenntnisse aus der ethnografischen Feldforschung (Kapitel 5), den qualitativen Expertinneninterviews (Kapitel 6) und der explorativen Online-Erhebung (Kapitel 7). In Kapitel 8 folgt eine Zusammenfassung aller erlangten Erkenntnisse und der sich daraus ergebenden Schlussfolgerungen für Forschung, Didaktik und Beruf. Die zwei Anhänge enthalten Auszüge aus der Forschungsdokumentation wie die Dokumentation der Bildung der induktiven und deduktiven Kategorien für die Inhaltsanalyse der Interviews.
Eine abschließende Anmerkung zur verwendeten Sprache. In der gesamten Studie werden die Termini DolmetscherInnen und Dolmetschende nicht als Synonyme verstanden. Als DolmetscherInnen werden Menschen mit einschlägiger Ausbildung, die im Sinne des translatorischen Handelns im Kooperationsgefüge als ExpertInnen auftreten, bezeichnet: Meist sind es ausgebildete DolmetscherInnen oder Personen, die über viel Dolmetscherfahrung verfügen und/oder an einer Qualifizierungsmaßnahme teilgenommen haben. Die Bezeichnung Dolmetschende wird hingegen für Menschen ohne einschlägige Ausbildung und Erfahrung verwendet. Darüber hinaus wurde aus ethischen Gründen beschlossen, bei der Darstellung und Analyse der empirischen Daten auch das Geschlecht der vulnerabelsten InterviewpartnerInnen zu anonymisieren (die/der PatientIn statt die Patientin oder der Patient), um diese zusätzlich zu schützen.
1 Medizintourismus als Marktsegment für DolmetscherInnen
Der Begriff Medizintourismus beschreibt ein Phänomen, das zwar in seiner derzeitigen Ausprägung jung und wenig erforscht ist, dennoch reicht die Idee bzw. das Konzept, eine medizinische Reise zu unternehmen, weit in die Vergangenheit zurück. So zog bereits im alten Griechenland die Stadt Epidaurus Leidende aus dem Mittelmeerraum an, die im Thermalwasser der heiligen Stätte des Gottes Asklepius Linderung suchten (vgl. Quast 2009: 14). Generell waren die PilgerInnenfahrten zu den Asklepieia, ehemaligen wichtigen griechischen Heilstätten, die sowohl über ein Sanatorium als auch über einen Tempel verfügten, sehr beliebt. Im heiligen Tempel verbrachten die Reisenden mehrere Nächte in der Hoffnung, dass Asklepios ihnen im Traum die richtige Diagnose stellen oder eine erfolgreiche Behandlungsmethode verraten würde. Ebenso beliebt waren die Reisen zu Thermal- und Badeorten (vgl. Quast 2009: 14), mit denen eine Linderung verschiedener Krankheiten beabsichtigt wurde. Medizinische Reisen bildeten fortan eine Konstante der Geschichte und wurden aus unterschiedlichen Beweggründen unternommen.
1.1 Begriffsdefinition und -abgrenzung
Der Medizintourismus wurde in der Translationswissenschaft bis jetzt nur am Rande erwähnt (vgl. Tipton/Furmanek 2016: 114, Angelelli 2019: 32). Die in den vergangenen Jahren an den österreichischen Universitäten in Wien und Graz verfassten Masterarbeiten (vgl. Ivașcu 2014, Muršič 2015, Chistyakova 2016, Slavu 2017, Weissenhofer 2017, Horová 2018) zeigen jedoch erstes Interesse junger ForscherInnen am Dolmetschen in diesem Marktsegment. ForscherInnen aus den Bereichen Tourismus, Medizin, Wirtschaft und Marketing haben sich hingegen bereits der Erforschung des Medizintourismus gewidmet. Die verschiedenen Ansätze vorhandener Forschungsarbeiten finden sich nicht nur in den verwendeten Bezeichnungen Medizintourismus und Gesundheitstourismus, sondern auch in deren Definitionen wieder, die je nach Verständnis der zugrundeliegenden Begriffe Medizin, Gesundheit und Tourismus sehr stark variieren. Teilweise wird Medizintourismus mit Gesundheitstourismus (vgl. Berg 2008, Illing 2009) gleichgesetzt, teilweise wird er als Unterbegriff des Gesundheitstourismus gesehen (vgl. Quast 2009, Reisewitz 2015). Eine genaue Definition des Terminus Medizintourismus bedarf allerdings einer Abgrenzung vom Begriff des Gesundheitstourismus, wofür zuerst die in den Benennungen Medizintourismus und Gesundheitstourismus enthaltenen Begriffe erklärt werden sollen. Für den Begriff Tourismus wird in der Regel auf die Definition der Welttourismusorganisation zurückgegriffen: „Tourism is a social, cultural and economic phenomenon which entails the movement of people to countries or places outside their usual environment for personal or business/professional purposes“ (IRTS 2010: 1). Zu den Motiven für diesen temporären Ortswechsel zählen laut Berg (2008: 3), Experte für Tourismusmanagement, unter anderem Erholung, Regeneration, Heilung sowie Kultur. In der Entscheidung 1999/34/EG der Kommission vom 09.12.1998 zur Festlegung von Durchführungsvorschriften zur Umsetzung der Richtlinie 95/57/EG des Rates über die Erhebung statistischer Daten im Bereich des Tourismus, Anhang 2.1, definiert die Europäische Union Tourismus als „[…] die Tätigkeit von Personen, die zu Orten außerhalb ihrer gewohnten Umgebung reisen und sich dort höchstens ein Jahr lang zu Urlaubs-, geschäftlichen oder anderen Zwecken aufhalten“ (1999/34/EG, Artikel 2, Absatz 2.1). Unfreiwillige Reisezwecke sind allerdings nicht Teil der Definition: „Ärztlich verordnete unfreiwillige Aufenthalte in Krankenhäusern und sonstigen medizinischen Einrichtungen, die klinische/medizinische Behandlungen bieten, sind ausgeschlossen“ (1999/34/EG, Artikel 2, Absatz 2.1). Je nach Auslegung dieser Definition könnte sie anerkannte Tourismusformen wie den Kurtourismus oder auch Teile des Medizintourismus ausschließen, da nicht eindeutig erläutert wird, wie sich Freiwilligkeit von Unfreiwilligkeit unterscheiden lässt. In vielen Fällen fassen nämlich PatientInnen, die sich trotz unterschiedlicher Beweggründe auf eine medizinische Reise begeben, selbstständig und ohne ärztliche Zuweisung oder Verordnung den Entschluss, eine Reise anzutreten. Außerdem nehmen viele von ihnen im Zielland übliche touristische Angebote in Anspruch.
Der Duden bietet für den Terminus Medizin die folgende Definition: „Heilkunde, Lehre vom gesunden und kranken Organismus […], Wissenschaft von den Ursachen, der Heilung und Vorbeugung von Krankheiten“ (Dudenredaktion 2012). Illing, Experte für Gesundheitstourismus, Wirtschaft und Qualitätsmanagement, definiert Gesundheit wie folgt: „als der Zustand der optimalen Leistungsfähigkeit eines Individuums für die Erfüllung der Aufgaben und Rollen, für die es sozialisiert wurde“ (Illing 2009: 8).1 Er führt an, dass modernere Definitionen des Begriffes allerdings sowohl das medizinisch-wissenschaftliche als auch das biopsychosoziale Modell berücksichtigen. So versteht die medizinisch-wissenschaftliche Schule Gesundheit als Abwesenheit von Krankheit und sieht einen Menschen als gesund an, wenn dessen gesamter Körper richtig funktioniert. Aufgrund von messbaren und empirischen Kriterien kann das Ausmaß der Krankheit beurteilt werden, die eine „messbare Fehlfunktion bestimmter Körperteile“ (Illing 2009: 8) darstellt. Das biopsychosoziale Modell betont hingegen nicht nur die dichotomische Dimension von Gesundheit oder Krankheit, sondern hebt neben der biologischen Erkrankung auch die psychischen und sozialen Faktoren hervor. In diesem Modell gilt die Gesundheit als „positiver und funktioneller Gesamtzustand im Sinne eines dynamischen biopsychosozialen Gleichgewichtszustandes, der erhalten bzw. immer wieder hergestellt werden muss“ (Illing 2009: 8). Die holistische Dimension der Gesundheit ist auch in den Prinzipien der Weltgesundheitsorganisation festgehalten: „A state of complete physical, social and mental well-being, and not merely the absence of disease or infirmity“ (WHO 1946: 1). Dieses ganzheitliche Verständnis der Gesundheit wird in den meisten Definitionen von Gesundheitstourismus (vgl. Berg 2008, Illing 2009) berücksichtigt, in denen ein temporärer Ortswechsel aus gesundheitlichen Gründen oder zu Heilungszwecken angeführt wird. Für Illing ist das Ziel die Erreichung eines „Gleichgewichtszustandes zwischen körperlichem und seelischem Leistungsvermögen“ (Illing 2009: 49). Berg betont hingegen die „Erhaltung, Stabilisierung oder die Wiederherstellung der Gesundheit“ (Berg 2008: 39), während Tourismusexperte Claude Kaspar (1996: 55) „das körperliche, geistige und soziale Wohlbefinden“ hervorhebt. Verfolgt wird das Ziel der Genesung an einem fremden Ort durch die Inanspruchnahme medizinischer oder balneologischer Leistungen, therapeutischer Beratung und Betreuung, sportlicher Aktivitäten und gesunder Ernährung (vgl. Berg 2008: 39). Im Rahmen des Gesundheitstourismus erfolgen jedoch weder medizinische Notfallbehandlungen noch geplante Behandlungen, die in erster Linie die Gesundheit wiederherstellen sollen:
Gesundheitstourismus hat das Ziel, einen Gleichgewichtszustand zwischen körperlichem und seelischem Leistungsvermögen und den tagtäglichen Anforderungen von Umwelt, Mitwelt und Selbstwelt zu erreichen. Die zur Zielerreichung verwendeten Verfahren (Methoden) sind salutogenetische, medizinische sowie ergänzende und werden an Orten (Spa, Region) abseits vom gewöhnlichen Lebensumfeld angeboten, die durch die behandlerische Kompetenz der dort arbeitenden Fachkräfte wie auch des Gebäudes und der natürlichen Umwelt gekennzeichnet sind. (Illing 2009: 49)
Medizinische Behandlungen, die einen Aufenthalt in einem ausländischen Krankenhaus und eine ärztliche Untersuchung im Ausland voraussetzen, sind hingegen dem Medizintourismus zuzuschreiben (vgl. Illing 2009: 6, Quast 2009: 9). In ihrer betriebswirtschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Medizintourismus definiert ihn Quast wie folgt:
Medizintourismus ist ein Synonym für die Begriffe Patienten-, Klinik- und Operationstourismus und beschreibt die Bewegung von Patienten, die aus unterschiedlichen Gründen medizinische Dienstleistungen an Orten außerhalb ihres gewöhnlichen Umfeldes in Anspruch nehmen, wobei der Aufenthalt die Dauer eines Urlaubes nicht überschreitet und vielfach mit der Nachfrage touristischer Aktivitäten kombiniert wird. (Quast 2009: 6)
Medizintourismus kann für Quast einen nationalen oder einen internationalen Charakter aufweisen und in freiwilligen Patiententourismus und staatlichen Operationstourismus unterteilt werden.2 In der ersten Kategorie sind günstigere Behandlungen im Inland oder Ausland anzuführen, deren Kosten zum größten Teil von den PatientInnen getragen werden. Im staatlichen Operationstourismus sind PatientInnen hingegen aufgrund von Versorgungsengpässen gezwungen, medizinische Dienstleistungen im Ausland zu beziehen, deren Kosten von der Krankenversicherung übernommen werden. Der freiwillige Patiententourismus kann laut Quast wiederum in medizinische Patientenreise und touristische Patientenreise unterteilt werden, abhängig davon, ob die Reise hauptsächlich aus medizinischen Gründen unternommen oder ob die medizinische Behandlung mit einem Urlaub kombiniert wird (vgl. Quast 2009: 7f.). Differenziert wird des Weiteren zwischen krankheitsorientierten Reisen, die darauf abzielen, einen Krankheitszustand zu bekämpfen, und nicht krankheitsorientierten Reisen, deren Ziel die Durchführung von gründlichen Untersuchungen oder kosmetischen Eingriffen darstellt (vgl. Quast 2009: 7). Beide Behandlungsarten können sowohl ambulant als auch stationär erfolgen. Für Quast ist Gesundheitstourismus eine Unterform des Tourismus und erfolgt präventiv oder aus medizinischen Gründen. Unter den präventiven Gesundheitsreisen finden sich als Sonderformen der Erholungs-, Wellness-, Fitness- und Sport- sowie Beauty-Tourismus, während die medizinische Gesundheitsreise in Rehabilitations-, Kur- und Heilbäder- sowie Medizintourismus unterteilt werden kann (vgl. Quast 2009: 9ff.).
Berg beschreibt den Medizintourismus ebenfalls als spezielle Unterform des Gesundheitstourismus und bezeichnet ihn als Patiententourismus. Dabei geht es um „die selbstbestimmte und bewusste Entscheidung, medizinische Leistungen in einem anderen Land als dem Herkunftsland in Anspruch zu nehmen und diese überwiegend selbst zu bezahlen“ (Berg 2008: 169). Er weist darauf hin, dass in der Vergangenheit diese Art des Gesundheitstourismus vorwiegend in eine bestimmte Richtung ging – aus dem Ausland nach Deutschland, Österreich, in die Schweiz und USA –, während heutzutage auch BürgerInnen der oben erwähnten Staaten medizinische Reisen in andere Länder unternehmen. In all diesen Definitionen bildet also die Tourismus- bzw. Reisekomponente den gemeinsamen Nenner von Gesundheits- und Medizintourismus: In beiden Fällen wird eine gesundheitlich oder rein medizinisch bedingte Reise in ein anderes Land als das Herkunftsland geplant. Im Gesundheitstourismus zielen die in Anspruch genommenen Dienstleistungen auf die Erhaltung oder Förderung der Gesundheit ab. Im Medizintourismus werden hingegen Dienstleistungen angeboten, mit denen die Wiederherstellung der Gesundheit im Rahmen einer medizinischen Leistung beabsichtigt wird.
Reisewitz beschreibt ein weiteres Unterscheidungsmerkmal zwischen Gesundheits- und Medizintourismus: Im Medizintourismus stellt die geplante Maßnahme eine medizinische Dienstleistung dar, die „Eingriffe in die körperliche Integrität von einer gewissen Schwere“ (Reisewitz 2015: 8) mit sich bringt, und für deren Ausübung ein hohes Maß an fachlicher Qualifikation seitens der Ausführenden erforderlich ist. Medizintourismus ist jene
Aktivität von Personen, die sich an einen im Ausland belegenen [sic!] Ort außerhalb ihres gewöhnlichen Umfeldes begeben, um sich dort ohne Verlagerung ihres Lebensmittelpunktes für einen gewissen Zeitraum aufzuhalten, und die dabei Dienstleistungen in Anspruch nehmen, die in Deutschland als Ausübung der Heilkunde gemäß §1 Abs. 2 HeilPraktG angesehen werden und deren Notwendigkeit sich nicht erst vor Ort akut ergeben hat. (Reisewitz 2015: 9)
Berufe, die diese Qualifikationen aufweisen und in deren Ausübung die oben erwähnten Eingriffe vorgenommen werden dürfen, sind laut Reisewitz in Anlehnung an §1 Abs. 2 HeilPraktG ÄrztInnen, ZahnärztInnen sowie HeilpraktikerInnen.3 Zu den von ihnen durchgeführten Eingriffen zählen auch plastische bzw. Schönheitsoperationen, da sie einen höheren Schwierigkeitsgrad aufweisen und die durchführenden ÄrztInnen bestimmte Fachkompetenzen benötigen, obwohl die chirurgischen Maßnahmen nicht immer als reine gesundheitswiederherstellende Maßnahmen zu betrachten sind. In seiner Auseinandersetzung mit den rechtlichen Fragen des Medizintourismus unterscheidet Reisewitz – je nachdem, wann und wo der Entschluss zur Behandlung gefasst wird – zwischen zwei Arten von Behandlungsreisen: Spontanbehandlungen und geplanten Behandlungsreisen (vgl. Reisewitz 2015: 10f.). Im ersten Fall wird der Entschluss erst am Behandlungsort gefasst, d.h., der Zweck der Reise ist nicht die Behandlung; im zweiten Fall wird die Behandlung im Vorfeld geplant. Reisewitz weist darauf hin, dass bei einer geplanten Behandlungsreise die ausgewiesenen Risiken wegen der guten Planungsmöglichkeiten geringer als bei Spontanbehandlungen sind.
Auch im englischen Sprachraum verweden die Termini medical tourism und health tourism verwendet. In der Encyclopædia Britannica wird medical tourism mit den Bezeichnungen health tourism, surgical tourism, medical travel und internation travel for the purpose of receiving medical care gleichgesetzt (vgl. Rogers 2016) und als Mobilität von PatientInnen definiert, die eine medizinische Behandlung in einem anderen Land aus unterschiedlichen Gründen in Anspruch nehmen. Connell (2011: 7) verwendet in seinen früheren Werken zum Medizintourismus den Terminus medical tourism als Überbegriff für etwaige Reisen, bei denen die Gesundheit die wichtigste Rolle spielt und eine Behandlung mit einer gewissen Schwere beabsichtigt wird. In der englischsprachigen Literatur wird allerdings immer wieder die Frage aufgeworfen, ob das Wort tourism adäquat ist. Obwohl der Bezeichnung medical tourism eine Tourismusdefinition als reine Ortsverlegung bzw. PatientInnenmobilität zugrunde liegt, soll das Wort Tourismus auch „pleasure and relaxation“ (Connell 2011: 3) suggerieren. Dabei wird argumentiert, dass diese beiden Komponenten nicht immer im Vordergrund stehen. So betont Connell (2015: 398) in einem späteren Werk, dass der Terminus medical tourism inadäquat sei, da viele PatientInnen auf medizinisch bedingte Reisen verzichten würden, wenn sie sich der gewünschten Behandlung in ihrem Herkunftsland unterziehen könnten oder dürften. Englischsprachige AutorInnen, die ebenso diese Meinung vertreten, bevorzugen Bezeichnungen wie international medical travel (vgl. Ormond 2015) oder transnational health care (vgl. Botterill et al. 2013 und Connell 2015).