Vollrausch

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Katherine V. Forrest

Vollrausch

Kate Delafields 8. Fall

Deutsch von Sonja Finck

Ariadne Krimi 1155

Argument Verlag

Ariadne Krimis

Herausgegeben von Else Laudan

www.ariadnekrimis.de

Romane mit Detective Kate Delafield:

1. Fall: Amateure (Ariadne Krimi 1015)

2. Fall: Die Tote hinter der Nightwood Bar (Ariadne Krimi 1007)

3. Fall: Beverly Malibu (Ariadne Krimi 1029)

4. Fall: Tradition (Ariadne Krimi 1037)

5. Fall: Treffpunkt Washington (Ariadne Krimi 1107)

6. Fall: Kreuzfeuer (Ariadne Krimi 1113)

7. Fall: Knochenjob (Ariadne Krimi 1125)

8. Fall: Vollrausch (Ariadne Krimi 1155)

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

Hancock Park

© 2004 by Katherine V. Forrest

Alle Rechte vorbehalten

© Argument Verlag 2005

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2016

ISBN 978-3-8675-4896-0

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

Danksagung

Für Jo

1. Kapitel

In einem Saal im dritten Stock des Justizgebäudes von Downtown Los Angeles befahl Richter Jackson Terrell: »Rufen Sie Ihren nächsten Zeugen auf.«

»Die Anklage ruft Detective Kate Delafield in den Zeugenstand«, antwortete Alicia Marquez, die Vertreterin der Anklage.

Der Gerichtsdiener hielt ihr das Tor auf, und Kate betrat den Innenbereich, wo eine rundliche blonde Schriftführerin sie zügig vereidigte. Dann trat Kate in den Zeugenstand und ließ sich auf dem schmucklosen Lederstuhl nieder. Nachdem sie vorschriftgemäß ihren Namen angegeben und buchstabiert hatte, stellte sie ihre Umhängetasche ab, strich sich das Jackett glatt, legte ihre Mappe mit den Notizen auf die Balustrade und justierte das Mikrofon.

Sie setzte eine betont höfliche Miene auf und blickte Richter Jackson Terrell in die Augen, während dieser ausdruckslos über seine randlose Brille linste. Der Richter war Afroamerikaner, hatte ein schmales Gesicht und herrschte mit eiserner Faust über seinen Gerichtssaal, was ihm den Ruf von gewissenhafter, humorloser Kompetenz eingebracht hatte. Kate warf den Geschworenen einen flüchtigen, nichtssagenden Blick zu. Sie war darauf bedacht, den Eindruck zu vermeiden, sie wolle sich bei ihnen einschmeicheln. Wie üblich unterschieden sich die Geschworenen hinsichtlich Geschlecht, Alter und ethnischer Herkunft, jedoch zeugte ihre Kleidung von einem relativ hohen Durchschnittseinkommen. Das war eher ungewöhnlich, da die Krise der amerikanischen Wirtschaft inzwischen auch die Chefetagen erreicht hatte. Die Geschworenen musterten Kate ungeniert, was ihr gutes Recht war. Sie spürte ihre stechenden Blicke, ohne hinzusehen.

Kate war angespannt, nicht so sehr wegen Aimee, die weder zurück nach Hause gekommen war, noch angerufen hatte. Es blieb ihr sowieso nichts anderes übrig, als sich dieser Sorge später zu widmen. Obwohl sie häufig als Zeugin aussagte, hatte sie die Ehrfurcht vor dem Gericht nie verloren. Genauso wenig wie die Hochachtung vor dem Richter in seiner schwarzen Robe und den uniformierten Gerichtsdienern, der düsteren Feierlichkeit des Verfahrens, der kargen Eleganz der hölzernen Wände, Tische und Bänke und dem kalifornischen Wappen an der Wand über dem Richterpult, zwischen der Bundes- und der Staatsflagge. Mut machte ihr nur die Gewissheit, dass sie nach zahllosen Auftritten vor Gericht gelernt hatte, wie sie sich am besten präsentierte. Wie sie den Eindruck selbstsicherer Gelassenheit, Kompetenz und Glaubwürdigkeit erweckte, nicht nur gegenüber den Geschworenen, sondern, ebenso wichtig, auch gegenüber den Richtern, Anwälten, Schriftführern und Gerichtsdienern.

Wenn sie vor Gericht auftrat, legte sie sehr viel Wert auf ihr Äußeres und entschied sich meist für schlichte schwarze oder dunkelblaue Jacketts und Anzughosen, kombiniert mit einem schlichten Shirt oder einem Rollkragenpulli; kein Hemd, dessen Kragen sie zurechtzupfen musste, keine Armbanduhr, auf die sie einen unwillkürlichen Blick werfen konnte, als Zeichen von Ungeduld oder Angst, kein Schmuck, an dem sie herumfummeln konnte, was als Nervosität interpretiert werden würde. Lange schon hatte sie es aufgegeben, ihr Haar bändigen zu wollen. Es war inzwischen nicht mehr dunkel, sondern hellgrau, ließ sich aber keinen Deut besser kämmen. Also bürstete sie es morgens nur kurz und ließ es ansonsten so, wie es gerade fiel. Ab und zu strich sie sich eine Strähne aus dem Gesicht, aber nur ganz selten fuhr sie sich mit den Fingern durchs Haar, wie Aimee es ständig tat. Im Zeugenstand vermied sie jede überflüssige Bewegung und unterwarf ihre Mimik und Gestik einer strengen Kontrolle, um den anderen Zeugen, dem Angeklagten, den Verteidigern und Geschworenen so wenig wie möglich über ihren Gefühlszustand zu verraten.

Sie wandte ihre Aufmerksamkeit Staatsanwältin Alicia Marquez zu, die neben dem Rednerpult stand und gemächlich ihre Notizen ordnete. Drei gelbe Spiralblöcke waren mit unzähligen Post-it-Zetteln in allen möglichen Farben übersät, die oben und unten und seitlich überstanden, zudem waren mehrere weiße Blätter zwischen die Seiten des Blocks geschoben. Kate fand ihre organisatorischen Gewohnheiten alles andere als beeindruckend. Und hatte ernste Bedenken, was ihre Fähigkeiten anging.

Dennoch machte Marquez einen guten Eindruck; sie hatte eine sportliche Figur, lebhafte dunkle Augen, volle Lippen und war eher konservativ gekleidet. Heute trug sie ein dunkelbraunes Kostüm, eine beigefarbene Seidenbluse und Schuhe mit Keilabsatz. Kate vermutete, dass ein beträchtlicher Teil von Marquez’ Einkommen dafür draufging, ihre schicke Frisur zu finanzieren. Ihre Haare schimmerten tiefbraun wie Eschenholz und umrahmten, schlicht gescheitelt, ihre goldbraune Haut in einer sanften Welle.

In einer Stadt, in der der Einfluss der hispanischen Gemeinschaft immer größer wurde, konnte sie sich als Latina der fünften Generation ihrer Karriere gewiss sein. Man tuschelte, sie habe länger als üblich dafür gebraucht, zur Verantwortlichen für Drogenmorde und Kapitalverbrechen befördert zu werden, und ihre Erfolgsrate als Klägerin war lediglich durchschnittlich. Dies war ihr erster großer Fall, und er kam einem Durchbruch gleich, da der Prozess immerhin eine gewisse Resonanz haben würde – was bedeutete, dass er es wahrscheinlich auf Seite drei des kalifornischen Teils der L.A. Times schaffte. Nach Einschätzung der Staatsanwaltschaft war der Verteidiger kein ernst zu nehmender Gegner, und die Ermittlungsergebnisse und Vorarbeiten für den Prozess waren gut dokumentiert. Zudem mussten die Anklagevertreter mit Kate als Ermittlungsleiterin keine bösen Überraschungen befürchten, wie unvorhergesehene Enthüllungen mitten in der Verhandlung.

Obwohl sie sich bei den Arbeitstreffen mit Marquez bemüht hatte, eine gute Grundlage für die Zusammenarbeit zu schaffen, wurde Kate irgendwie nicht richtig warm mit ihr. Sie wusste, dass Marquez geschieden war, zwei Söhne im Teenager-Alter hatte und ihre relativ erfolgreiche Karriere harter Arbeit und unermüdlicher Entschlossenheit verdankte. Kate bewunderte ihr seriöses Auftreten, ihren Ehrgeiz und Einsatz. Aber hinter vorgehaltener Hand wurde gemunkelt, ihr fehle es an Phantasie und taktischem Gespür – eindeutige Defizite in einem Mordfall.

Noch vor Verhandlungsbeginn hatten sich Kates Befürchtungen hinsichtlich Marquez’ Fähigkeiten bestätigt. Vor drei Wochen hatte Gregory Quantrill, ein renommierter Anwalt, der sich inzwischen landesweit einen Namen machte, den ursprünglichen Verteidiger abgelöst. Quantrill hatte keine Vertagung beantragt und ergötzte sich augenscheinlich daran, dass die Staatsanwaltschaft ihr eigenes Team nun nicht mehr umbesetzen konnte. Kate war schon lange klar, dass ein Gerichtssaal nichts anderes war als ein Theater. Sie musste ihre Rolle als Nebenfigur in einer Live-Aufführung spielen, deren Hauptdarstellerin nicht besonders talentiert war und die mit ihrer mangelhaften Bühnenpräsenz das ganze Stück zum Scheitern bringen konnte, egal wie gut Kate selbst war. Dieser Fall stand auf der Kippe, sein Ausgang war ungewiss.

 

»Detective Delafield«, begann Marquez mit klarer Stimme, die auch noch im hintersten Winkel des Gerichtssaals deutlich zu hören war, »wie lange arbeiten Sie schon für das Los Angeles Police Department?«

»Seit neunzehnhundertzweiundsiebzig«, antwortete sie fest.

Marquez blätterte in ihren Unterlagen eine Seite vor, als suchte sie nach einer bestimmten Notiz, dann wieder zurück, eine altbekannte Taktik im Gerichtssaal: Sie ließ den Geschworenen Zeit, im Kopf nachzurechnen, damit die beeindruckenden drei Jahrzehnte Polizeidienst sich ihnen einprägten. Kate nutzte die Gelegenheit, zum Tisch der Verteidigung hinüberzusehen. Ihr Blick begegnete kaffeeschwarzen Augen – Gregory Quantrill fixierte sie eindringlich, nagelte sie regelrecht an die Rückenlehne ihres Stuhls. Er lächelte ihr siegesgewiss und irgendwie gönnerhaft zu, als wüsste er von ihrem Pessimismus in Bezug auf Marquez und teilte ihre Einschätzung. Sie hielt Quantrills Blick stand. Er sollte ja nicht glauben, er könne ihr imponieren oder sie gar einschüchtern.

Marquez fragte: »Und in welcher Abteilung arbeiten Sie?«

»In der Mordkommission des Polizeireviers von Wilshire.«

»Wie lange arbeiten Sie schon für die Mordkommission?«

»Seit zwanzig Jahren.«

Wieder legte Marquez eine kurze Pause ein, und Kate wandte ihre Aufmerksamkeit dem Angeklagten zu, der neben Quantrill saß. Er trug einen angemessen eleganten dunkelgrünen Anzug, Hemd und Krawatte in hellerem Grün und lauschte aufmerksam, wobei er nicht sie ansah, sondern auf einen Punkt irgendwo zwischen ihr und der Geschworenenbank starrte. Seine beherrschte Körpersprache stand im krassen Widerspruch zu Kates letzter Erfahrung mit ihm, seiner Verhaftung, was nur heißen konnte, dass sein Verteidiger das Auftreten im Gerichtssaal gründlich mit ihm einstudiert hatte.

Marquez fragte: »Welchen Rang bekleiden Sie unter den Detectives der Mordkommission?«

»Rang drei, das ist der höchste auf meiner Stufe.«

Sie ließ ihren Blick durch den Gerichtssaal schweifen. Jetzt, da Quantrill den Fall übernommen hatte, fand er mehr Beachtung, aber an diesem dritten Verhandlungstag waren die Besucherbänke nur spärlich besetzt, hauptsächlich mit den Freunden und Angehörigen des Opfers und des Angeklagten. Der Sohn und die Tochter, Allan und Lisa Talbot, waren anwesend; Rikki, die andere Tochter, würde später kommen. Corey Lanier, die Polizeireporterin der L.A. Times, saß allein auf der hintersten Bank, den Kopf über ein Notebook gebeugt. Lanier war bereits bei den Eröffnungsplädoyers hier gewesen, als Marquez eine Kurzfassung ihrer Beweisführung geliefert hatte, warum also sollte die Reporterin Kates Aussage hören wollen, in der jedes Detail noch einmal lang und breit durchgekaut wurde?

Marquez hatte ihre Eröffnung relativ kurz gehalten; ihre Strategie baute darauf, dass den Geschworenen vor Prozessbeginn relativ wenige Informationen zur Verfügung gestanden hatten, so dass die Beweise, die sie dem Gericht vorlegen wollte, ihre geballte Wirkung entfalten konnten, vor allem, wenn sie von einem überzeugenden Abschlussplädoyer gekrönt wurden. Quantrill hatte sich noch kürzer gefasst als die Staatsanwältin und die schillernde Metapher bedient, die Anklage sei nichts als ein fadenscheiniges Taschentuch aus unbeweisbaren Spekulationen, das bei einem einzigen kräftigen Niesen in der Mitte durchreißen würde.

Der Grund für Laniers Anwesenheit musste Gregory Quantrill sein. Obwohl Kate vorbereitet war, und sie war gründlich vorbereitet – auch wenn Aimees irritierendes Verhalten keine große Hilfe gewesen war –, würde es verflixt schwer werden, seinem Kreuzverhör standzuhalten. Eine Mordklage ohne Geständnis war eine harte Nuss – und die Glaubwürdigkeit der Ermittler anzugreifen war die Lieblingsbeschäftigung von Strafverteidigern. Die Gegenseite würde sich darauf konzentrieren, mit abgedroschenen juristischen Manövern die Fähigkeiten des Verteidigers in einem günstigen Licht erscheinen zu lassen, eine Strategie, die Strafverteidigern Zehntausende von Dollars einbrachte; die Verteidigung in einem Mordfall kostete eine schöne Stange Geld. Corey Lanier war nur aus einem Grund hier: Sie witterte ein Gerichtsdrama, also eine Story. Das Kreuzverhör der leitenden Kriminalpolizistin würde zeigen, ob die Story etwas taugte …

Marquez fragte: »In wie vielen Fällen haben Sie, grob geschätzt, ermittelt im Laufe Ihrer –«

»Euer Ehren«, fiel Quantrill ihr ins Wort. Er erhob sich und präsentierte seine stattliche Größe von eins neunzig. »Die Verteidigung erklärt sich dazu bereit, der Qualifikation und Berufserfahrung des Detectives uneingeschränkt Glauben zu schenken, so dass wir diesen Teil der Aussage überspringen können.«

Richter Terrell hob seine bleistiftdünnen Augenbrauen und wartete auf Marquez’ Reaktion, doch diese warf Kate lediglich einen verwirrten Blick zu. Ungläubig erwiderte Kate den Blick. War ihr plötzlich das kleine Einmaleins ihres Jurastudiums entfallen? Sie erwog doch nicht ernsthaft –

»Euer Ehren«, sagte Marquez mit einem Kopfschütteln, als wäre ihr die passende Erwiderung in letzter Sekunde in den Sinn gekommen, »wir lassen uns auf keine solche Abmachung ein. Die Geschworenen sollen hören, welche Qualifikationen Detective Delafield hat und –«

»Fahren Sie fort«, sagte Terrell kurz angebunden. Quantrill nahm wieder Platz und schenkte den Geschworenen ein entschuldigendes Lächeln, das zu sagen schien: Ich habe mein Bestes gegeben, um Ihnen dieses langweilige Gewäsch zu ersparen.

»Ich war während dieser Zeit an zweihundertfünfzig Untersuchungen beteiligt«, antwortete Kate und versuchte angestrengt, ihre Wut zu verbergen. Aus der Heerschar von Staatsanwälten, die für die Stadt arbeiteten, musste sie ausgerechnet dieses Exemplar abbekommen. Eine Staatsanwältin wie Linda Foster wäre in die Luft gegangen, hätte Quantrill beschuldigt, die Darstellung von Kates Referenzen zu sabotieren – unerlässlich für die Glaubwürdigkeit ihrer Aussage –, und zwar so lange, bis der Richter sie zur Ordnung gerufen hätte.

Zur Beruhigung atmete Kate ein paarmal tief durch und beantwortete eine schier endlose Serie von Fragen zu ihrer Stellung als Rang-drei-Detective und Leiterin der Mordkommission und schließlich zu ihrer Funktion als Ausbilderin für andere Mordermittler. Die ganze Zeit wurmte sie, wie sehr sich Marquez von Quantrill ins Bockshorn hatte jagen lassen.

Es war kein Geheimnis, dass Quantrills Mandanten ausnahmslos steinreich waren. Sein erster bedeutender Fall, bei dem Unsummen von Geld flossen, war die Verteidigung eines Ölmagnaten aus Oklahoma namens Damian Winfield gewesen, angeklagt wegen Mordes und Verabredung zum Mord an seiner Frau und ihrem Liebhaber. Als Nächstes prozessierte er gegen zwei Boulevardblätter wegen Verleumdung von Winfield und ging damit durch alle Instanzen. Anschließend ließ er von einem Ghostwriter einen Bestseller über den Fall schreiben. Der sich ewig hinziehende Prozess war im Gerichtskanal übertragen worden, und die Fernsehreporter hatten Quantrill mit ihrem Speichellecker-Lobgesang auf sein eloquent geführtes, gnadenloses Kreuzverhör, seine Ausstrahlung und sein Charisma zu einem Star gemacht. Über den aktuellen Prozess berichteten sie nur deshalb nicht, weil ihr eilig eingereichter Antrag auf die Übertragungsrechte abgelehnt worden war. In einer Stadt, in der die Nachwirkungen des O.J.-Simpson-Falls noch immer die Atmosphäre in den Strafverfolgungsbehörden vergifteten, standen die meisten Richter Fernsehübertragungen von Prozessen unverhohlen feindselig gegenüber.

Seit Gregory Quantrill diesen Fall übernommen hatte, gab er sich vollkommen siegessicher. Was schlimmstenfalls hieß, dass er etwas wusste, von dem Kate keinen blassen Schimmer hatte. Oder aber, was noch viel wahrscheinlicher war, dass er in den ihm vorgelegten Unterlagen oder bei seinen eigenen Ermittlungen etwas herausgefunden hatte, was berechtigte Zweifel an ihrer Version des Tathergangs zuließ. Und er würde der Jury dieses Bonbon mit Sicherheit nicht vorenthalten. Er musste ja nicht wie Marquez alle zwölf Geschworenen von der Schuld des Angeklagten überzeugen, unter Ausschluss jeden berechtigten Zweifels. Falls Quantrill nicht alle zwölf Jurymitglieder zu einem Freispruch bewegen konnte, genügte es, nur einen einzigen Geschworenen auf seine Seite zu ziehen. Das wäre eine Pattsituation, die wie ein Sieg der Verteidigung interpretiert werden würde. Jedenfalls von allen außer dem Angeklagten und der Familie des Mordopfers, die in einem Berufungsverfahren die ganze quälende Prozedur ein weiteres Mal durchstehen mussten.

Bisher hatten die ersten Zeugen der Anklage ausgesagt, unter anderem die Bereitschaftspolizisten, die als Erste am Tatort eingetroffen waren, und Quantrill beschränkte sich auf ein paar höfliche Nachfragen zu Fundort, Zustand und Position der Leiche. Er hatte noch keine einzige angriffslustige Frage gestellt.

Marquez kam zum Kern der Sache. »Wurden Sie am neunundzwanzigsten Mai des vergangenen Jahres während Ihrer Dienstzeit zu einer Adresse in der Oakview Road gerufen?«

»Das wurde ich.«

»Liegt diese Adresse in Hancock Park?«

»Richtig.«

»Handelt es sich Ihrer Einschätzung nach um eine eher wohlhabende Gegend?«

Kate war klar, dass Marquez den Geschworenen mit dieser Frage vor Augen führen wollte, wie vermögend der Angeklagte war und dass er sich einen Star-Anwalt leisten konnte.

»Es ist eine wohlhabende Gegend.«

»Um wie viel Uhr kamen Sie am Tatort an?«

»Gegen Viertel nach acht Uhr morgens.« Ihr Tatort-Bericht lag ganz oben auf dem Stapel Unterlagen in ihrer Mappe, falls sie um Erlaubnis bitten musste, ihn zu konsultieren.

»Kamen Sie vom Revier?«

»Ich war gerade auf dem Weg dorthin. Ich erhielt eine Nachricht auf meinem Mobiltelefon und fuhr direkt zum Tatort. Dort traf ich Detective Joseph Cameron, der gerade vom Revier kam.«

»Detective Cameron war Ihr Partner?«

»Er war und ist mein Partner.«

»Wie lange arbeiten Sie schon zusammen?«

»Seit drei Jahren.«

»War er vor Ihnen am Tatort?«

»Wir trafen gleichzeitig dort ein.«

»Schildern Sie bitte, was Sie bei Ihrer Ankunft sahen.«

»Die Kollegen von der Streifenpolizei hatten den Tatort bereits abgesperrt –«

»Sie meinen, mit Absperrband?«

»Ja. Und sie hatten alles andere zur Sicherung des Tatorts in die Wege geleitet.«

Die goldene Regel im Zeugenstand lautete, sich kurz zu fassen. Das erforderte konkrete Fragen, die eine knappe Antwort ermöglichten. Aber Marquez schien offene Fragen zu bevorzugen, deren Antworten sie abwürgen konnte. Also beschränkte Kate sich darauf, die Antworten für die Geschworenen so einfach und klar wie möglich zu halten, und ansonsten ihre Reaktionen zu beobachten. Vor allem die von Nummer drei, einem grauhaarigen Mann in einem blauen Polohemd, das über dem Bauch spannte; er schenkte ihr ein leichtes, anerkennendes Lächeln. Sie redete weiter: »Sergeant Fred Hansen leitete die –«

»Haben Sie schon öfter mit ihm zusammengearbeitet?«

»Viele Male. Seit Jahren.« Als Marquez nicht nachhakte, fuhr sie fort: »Officer Dane Garrett schrieb den Tatort-Bericht und vermerkte jeden, der den Tatort betrat, auf einer Liste.«

Während die minutiöse Befragung ihren Lauf nahm, stiegen die Erinnerungen an jenen Morgen in ihr hoch.