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Katharina Bock
Philosemitische Schwärmereien. Jüdische Figuren in der dänischen Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts
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Umschlagabbildung: Umschlagabbildung: „Abraham empfängt die Verheißung“, in: Das Neue Testament unsers Herrn und Heilandes Jesu Christi nebst dem Psalter nach der deutschen Übersetzung D. Martin Luthers. Durchgesehen nach dem von der Deutschen evangelischen Kirchenkonferenz genehmigten Text. Illustrierte Ausgabe mit hundert Bildern nach Schnorr v. Carolsfeld. Preußische Haupt-Bibelgesellschaft Klosterstr. 71. Berlin 1908, S. 275 (Römer 4).
Dr. Katharina Bock
Humboldt-Universität zu Berlin
Sprach- und literaturwissenschaftliche Fakultät
Nordeuropa-Institut
10099 Berlin
https://orcid.org/0000-0003-1151-6566
DOI: https://10.2357/9783772057472
Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2019 von der Sprach- und literaturwissenschaftlichen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin als Dissertation angenommen.
Gedruckt mit Unterstützung des Förderungsfonds Wissenschaft der VG WORT.
© 2021 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG
Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen
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ISSN 1661-2086
ISBN 978-3-7720-8747-9 (Print)
ISBN 978-3-7720-0135-2 (ePub)
Inhalt
Danksagungen
1 Einleitung1.1 Ausgangspunkt und Fragezeichen1.2 Exkurs: Gedanken über die Verwendung geschlechtergerechter Sprache1.3 Dänemark und die Juden in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts1.4 Jüdische Figuren in der dänischen Literatur1.4.1 Vorläufer1.4.2 Textauswahl und Aufbau der Arbeit1.4.3 Forschung1.5 Theoretisch-methodische Zugänge1.5.1 Literaturwissenschaft und Antisemitismusforschung1.5.2 Kulturpoetik und Zirkulation1.5.3 Widerstände und die Lust am Text1.6 Philosemitismus als literarischer Diskurs
2 Bernhard Severin Ingemann: Den gamle Rabbin (1827)2.1 Den gamle Rabbin – Kontext und Einstieg2.2 Prototypen2.2.1 Die ‚schöne Jüdin‘2.2.2 Der ‚edle Jude‘2.3 Jüdische und christliche Welten2.3.1 Ausgrenzung I: Im Hause des reichen Juwelenhändlers2.3.2 Ausgrenzung II: Im Hause des assimilierten Juden2.3.3 Ankommen: Im Hause der guten Christen2.4 Der Künstler als Heiland2.4.1 Erkennen2.4.2 Erschaffen2.4.3 Erlösen2.5 Exkurs I: Hans Christian Andersen: Jødepigen (1855)2.6 Märchenhafte Novelle2.7 Ewiges Wandern – Ahasverus2.8 Exkurs II: Hans Christian Andersen: Fodreise (1829)2.9 Jüdische Figuren als Türöffner und Alleskönner
3 Steen Steensen Blicher: Jøderne paa Hald (1828)3.1 Blichers Juden in Jütland3.2 Jøderne paa Hald – Aufbau und Rahmen3.3 Ahasverischer Spuk3.4 (Un-)echte Judenbilder3.4.1 Salamiel Lima3.4.2 Joseph Lima3.4.3 Der Unbekannte3.5 Sulamith – die orientalisierte Jüdin3.5.1 „So komme, mein Geliebter, in seinen Garten“3.5.2 Musik als Ausdruck der Seele3.6 Erneuerung des Judentums3.7 Geglückte Akkulturation I: Typisch dänisch!3.8 Geglückte Akkulturation II: Typisch holländisch!3.8.1 Holländisches Eisvergnügen3.8.2 Das Eis als Ort der Konversion3.9 Überkreuzungen3.9.1 Johan und die jüdische Familie3.9.2 Johans Eltern3.10 Literarische Selbstreflexivität3.11 Assoziationsüberschuss
4 Thomasine Gyllembourg-Ehrensvärd: Jøden (1836)4.1 Gyllembourg – die anonyme Realistin4.2 Jøden – Liebe, Kapital und ein bis zwei Juden4.2.1 Wohlstand und Emanzipation4.2.2 Religion – die Ringparabel4.2.3 Falsches Pflegekind – echter Sohn4.2.4 Erkennbarkeit des Juden4.2.5 Schweigen über die Herkunft
5 Carsten Hauch: Guldmageren (1836/1851)5.1 Hauch – vergessenes Monument5.2 Guldmageren – Einstieg5.3 Guter Jude, schlechter Jude5.3.1 Gerettet – ungerettet5.3.2 Verbessert – unverbesserlich5.3.3 Protestantisches Bürgertum vs. katholischer Adel5.4 Benjamin de Geer – der Alchemist5.4.1 Faszination Alchemie5.4.2 Doppelt gefährdet: Alchemist und Jude5.4.3 Der Weg des Steins der Weisen: Antike – Judentum – Christentum5.5 Liebe = Christentum5.5.1 Freisleben und Felicitas5.5.2 De Geer und Manon Verdier5.5.3 Theodor und Manon5.6 Von schönen Jüdinnen, die gar keine Jüdinnen sind5.6.1 Südamerika als Orient5.6.2 Veronica und Isak5.6.3 Manon und De Geer5.7 Jüdische Figuren als Verstärker
6 Frederik Christian Sibbern: Udaf Gabrielis’s Breve til og fra Hjemmet (1850) 6.1 Unsterblichkeit als Kapital 6.2 Der Jude als religiöses Monument 6.3 Der Jude als Irritationsmoment
7 Hans Christian Andersen: Kun en Spillemand (1837)7.1 Jüdische Figuren bei H.C. Andersen7.2 Der Autor im Fokus7.3 Kun en Spillemand auf der Couch7.4 Der Text im Fokus7.5 Kun en Spillemand – Einstieg7.5.1 Begehren7.5.2 Kunst und Körper – noch einmal Roland Barthes7.6 Christian7.6.1 Der jüdische Paradiesgarten7.6.2 Hochzeit spielen7.6.3 Pate und Dämon7.6.4 Teufelsgeiger7.6.5 Verhinderter Künstler7.6.6 Musikalische Erweckung7.6.7 Religiöse Verwirrung7.7 Naomi7.7.1 Traumata7.7.2 Konfrontation mit dem Jüdischsein7.7.3 „Die Beste“ – Konfirmation einer Freidenkerin7.7.4 Ausgrenzung als Jüdin?7.7.5 Ausgrenzung als Frau!7.7.6 „Zigeunerblut“ und „Judenblut“7.7.7 Ambivalentes Begehren7.8 Naomi und Christian7.8.1 Musik und Queerness7.8.2 Bändigung7.8.3 Herstellung der Ordnung
8 Hans Christian Andersen: At være eller ikke være (1857) 8.1 Jüdische Geschwister: Esther und Julius 8.2 Sex und Religion 8.3 Alles auf Anfang?
9 Schlussbemerkungen 9.1 Rückblick 9.2 Philosemitisches Begehren
Abstract & Keywords
Literaturverzeichnis
Personenregister
Danksagungen
Ich möchte mich bedanken bei Stefanie von Schnurbein, meiner Doktormutter, der besten, die ich mir denken kann. Für die fachliche Betreuung, natürlich, vor allem aber für die menschliche Betreuung, die außergewöhnlich war, und die mir immer wieder den Mut gegeben hat, diese Arbeit zu schreiben. Ich danke meinem Zweitgutachter Joachim Schiedermair für die angenehme Zusammenarbeit, für anregende Gespräche und die sehr wertvollen Hinweise für diese Publikation. Ich bedanke mich beim Evangelischen Studienwerk Villigst für die Unterstützung meiner Arbeit durch das Promotionsstipendium und für die außergewöhnlichen und anregenden Begegnungen. Es steckt viel Villigst in dieser Arbeit.
Viele Menschen haben mich in den letzten Jahren begleitet. Fürs Zuhören und gemeinsame Nachdenken über meine Ideen und Fragen danke ich „dem Oberseminar“ am Nordeuropa-Institut, insbesondere Frauke Ebert, Natia Gokieli, Christina Just, Janke Klok, Lill-Ann Körber, Marie Lindskov Hansen, Dörte Linke, Matthias Mergl und Doreen Reinhold. Gleiches gilt für das Selma Stern Zentrum für jüdische Studien Berlin-Brandenburg und das Villigster Forschungsforum zu Nationalsozialismus, Rassismus und Antisemitismus in seinen verschiedenen Besetzungen; insbesondere Mirjam Wenzel, der Philosemitismus-Stichwortgeberin, sei hier gedankt. Christina-Maria Bammel, Christhard Hoffmann und Klaus Müller-Wille danke ich für die Unterstützung bei der Bewerbung um ein Stipendium. Florian Brandenburg für die große Hilfe bei den ersten Schritten zu dieser Arbeit. Clemens Räthel für seinen scharfen Blick, seine frohstimmende Kritik und den erbaulichen Austausch über Musik. Für praktische Hilfe und Unterstützung danke ich Marzena Dębska-Buddenhagen, Uta Kabelitz und Tomas Milosch.
Fürs kritische Lesen erster Kapitelentwürfe, für Hilfe mit renitenten Computerprogrammen, Arbeitsstrukturierungsratschläge, guten Zuspruch und gedeckte Tische danke ich Hanna Acke, Peter Baer, Katharina Brechensbauer, Frank Dietrich, Christoph Erlenkamp, Anja Godolt, Ulrike Hempel, Heike-Rose Janietz, Angela Nikolai, Katharina Pohl, Jonas Sandmeier und Clara Taborda.
Ich danke Frau Büchler, die plötzlich da war und blieb und mir in jeder Hinsicht half, mit Fragen und Zuhören, Reden und Schweigen an den richtigen Stellen und zur richtigen Zeit.
Ich möchte meinen Eltern Peter Bock und Margrit Schugk-Bock danken, die mich trotz ihrer eigenen so schweren, allzu schweren Sorgen unterstützt haben, wo und wie sie konnten.
Am allermeisten aber danke ich meinem geduldigen und ungeduldigen Mann und Freund Manuel Winterscheid. Für sein Drängen und Nerven, fürs Lesen und Fragen, für seine Zusage an mich, für seine Forderung nach meiner Stimme, fürs Schubsen, Umarmen und Festhalten. Danke!
1 Einleitung
Philosemitische Schwärmereien – der Titel wirft Fragen auf. Was ist eigentlich Philosemitismus? Und was genau ist hier mit ‚Schwärmerei‘ gemeint? Hat nicht Martin LutherLuther, Martin seine religiösen Gegner als Schwärmer diffamiert? War nicht noch in der deutschen Aufklärung der Vorwurf, ein Schwärmer zu sein, wenig schmeichelhaft? Und ist es überhaupt angemessen, den Begriff auf die dänische Literatur des frühen und mittleren 19.Jahrhunderts zu beziehen? ‚Schwärmerei‘ hat viele Konnotationen, von religiöser über fanatische Schwärmerei für einen unvernünftigen Irrglauben über eine krankhaft wirkende Unruhe bis hin zu einem ausschweifenden, bacchantischen Lebensstil (vgl. GrimmGrimm, Jacob und Wilhelm 1854–1961: 2292–2293). Als Teil des Titels für meine Untersuchung verwende ich den Begriff im Sinne einer moderaten, einer sinnlichen, jedoch nicht unbotmäßigen Form der Schwärmerei, wie sie im Wörterbuch der Brüder Grimm als dritte Bedeutungsnuance mit einem Zitat von Wieland umschrieben wird: „gerade diese schwärmerey, diese schöne seelentrunkenheit, die uns die gegenstände unsrer bewundrung, unsrer liebe, unsers verlangens, in einem so zaubrischen lichte zeigte“ (1854–1961: 2292). Diese Beschreibung, dem Kontext der spätaufklärerischen Schwärmerdebatte entnommen, hat ihren ursprünglichen Charakter als Kampfbegriff zur Diffamierung ideologischer Gegner zu diesem Zeitpunkt bereits weitestgehend verloren. Stattdessen öffnet sich nun, am Übergang zur Romantik, einer nachfolgenden Schwärmergeneration „die Pforte […] der Kunst“, so der Literaturwissenschaftler Manfred Engel. „In der nun anbrechenden neuen Zeit wird auch der Schwärmer in neuer Gestalt und glänzend rehabilitiert wiedergeboren: nämlich als Romantiker“ (2009: 66). Die Schwärmerei kann also, Engel folgend, als Kern der Romantik begriffen werden – und um die Literatur der dänischen Romantik geht es in der vorliegenden Untersuchung im Wesentlichen.1 Obwohl zunehmend positiv besetzt, behält der Begriff ‚Schwärmerei‘ auch im 19.Jahrhundert die einstigen Konnotationen seiner Geschichte bei: Religiöses und Metaphysisches schwingt in ihm ebenso mit wie Diskurse von Liebe, Ästhetik und Moral und schließlich „[f]ast alles, was mit dem nüchternen Verstandesblick auf die Erfahrungswelt nicht konformiert“ (Engel 2009: 58). Zugleich soll die Verwendung des Begriffs bereits im Titel dieser Arbeit anzeigen, wo der Philosemitismus, von dem hier weit häufiger als von der Schwärmerei die Rede sein wird, einzuordnen ist: nämlich im Bereich der Kunst, explizit der Literatur, und stets außerhalb eines „nüchternen Verstandesblicks“. Die Rede ist hier also von einer Schwärmerei, die ihr begehrtes Objekt verklärt und der als Wirklichkeit erlebten Erfahrungswelt enthebt. Wobei nicht außer Acht gelassen werden soll, dass sie zugleich normativ auf diese Erfahrungswelt einwirkt. Das Objekt ist im Falle der vorliegenden Untersuchung das Judentum beziehungsweise dessen Vertreterinnen und Vertreter: Juden und Jüdinnen, reale und fantasierte.
In den folgenden Abschnitten werde ich zunächst die Problemstellung und meine Fragestellung formulieren. Im Anschluss daran erläutere ich in einem kurzen Exkurs, wie in dieser Arbeit gegendert wird. Damit diese Frage von jedem Punkt der Arbeit aus geklärt werden kann, findet die Erläuterung nicht in einer Fußnote, sondern unter einem eigenen Gliederungspunkt statt. Es folgen eine historische und eine literaturgeschichtliche Kontextualisierung sowie die Erläuterung meiner Literaturauswahl und ein Überblick über die Forschungsliteratur. Danach stelle ich meine methodisch-theoretischen Zugänge vor und nehme abschließend eine ausführliche Diskussion des Begriffs ‚Philosemitismus‘ vor.
1.1 Ausgangspunkt und Fragezeichen
Ab den späten 1820er-Jahren tauchen jüdische Figuren in den Erzähltexten aller namhaften dänischen Autoren auf, und dieser Trend setzt sich bis in die 1850er-Jahre fort. Wobei von einem Trend zu reden übertrieben scheinen mag, schließlich hält sich die Zahl der Werke über jüdische Figuren in einem überschaubaren Rahmen, und kaum ein Autor oder eine Autorin hat mehr als einen solchen Erzähltext veröffentlicht.1 Dabei fällt besonders die Art und Weise, wie hier über Juden geschrieben wird, ins Auge. Viele dieser Romane und Erzählungen weisen bereits in ihrem Titel die Juden als Hauptfiguren der Erzählung aus. Wenngleich keine dieser Figuren frei von stereotypen und ambivalenten Zuschreibungen ist, fällt doch auf, dass die Erzählstimme sich durchweg empathisch und mit Sympathie den jüdischen Figuren zuwendet. Wie fern jüdischer Lebenswelten und wie problematisch die schwärmerische Zuwendung zu den begehrten Objekten auch sein mag, die Erzählinstanzen nehmen stets eine Haltung der Bewunderung und der Identifikation mit den jüdischen Figuren ein und erzeugen beim Lesepublikum auf diese Weise gleichfalls Sympathie. Diese Besonderheit der ausgewählten Texte begründet den ersten Teil des Titels dieser Arbeit, den Gebrauch des Adjektivs ‚philosemitisch‘. Als höchst ambivalenter und umstrittener Begriff erfordert seine Verwendung eine kritische Reflexion, die in Kapitel 1.6 vorgenommen wird. Zunächst einmal soll der Begriff ‚Philosemitismus‘ als heuristisches Werkzeug dienen, um benennen zu können, was die ausgewählten Texte miteinander verbindet und was sie für eine literaturwissenschaftliche Untersuchung interessant macht.
Anders als der Antisemitismus ist der Philosemitismus in der Forschung ein relativ wenig bearbeitetes Thema.2 Dabei steigt mit der Aufklärung und der zunehmenden Forderung nach der rechtlichen Gleichstellung der Juden in Europa ab etwa 1780 die Produktion philosemitischer Texte deutlich an. Um 1800 herum entwickelt sich eine kontrovers geführte öffentliche Debatte über die Möglichkeit und vermeintliche Unmöglichkeit einer rechtlichen Gleichstellung der jüdischen Minderheiten in den verschiedenen europäischen Staaten. Dänemark ist eines der ersten europäischen Länder, in dem die rechtliche Gleichstellung der jüdischen Bevölkerung umgesetzt wurde, 1814 erhielten die dänischen Juden die Bürgerrechte. 1849 wurde eine neue dänische Verfassung verabschiedet, in der dann auch das Recht auf freie Religionsausübung für alle religiösen Minderheiten verankert wurde. Literatur ist Teil des Diskurses über Juden und Jüdinnen, mehr noch, sie ist diskurskonstituierend (vgl. z.B. Belsey 2000: 51–52). Ein Merkmal philosemitischer Literatur ist, dass sie oftmals eine Reaktion auf den gleichzeitig vorhandenen judenfeindlichen und emanzipationskritischen Diskurs darstellt, ihn also reflektiert, in sich aufnimmt und ihm zugleich eine eigene Position entgegensetzt, die ihrerseits prägend und verändernd auf den Diskurs wirkt. Die vorliegende Untersuchung soll ein Beitrag sein, die bestehende Forschungslücke zu schließen, wobei der Philosemitismus weder als vorwiegend dänisches noch als vereinzelt auftretendes und somit irrelevant erscheinendes Phänomen betrachtet werden soll. Die Fragestellung, die mich durch diese Arbeit leitet, ist stets diese: Was bewirken die jüdischen Figuren im Text, welche Erzählmöglichkeiten eröffnen sie? Und im Anschluss daran interessiert die Frage: Wann, wie und warum wird über jüdische Figuren geschrieben und wie wird Wissen über Jüdinnen und Juden durch die Literatur in Frage gestellt oder verfestigt? Dabei richtet sich mein Blick bei der Suche nach Antworten nicht allein auf die jüdischen Figuren, sondern auch auf diejenigen Figuren und Handlungsstränge, die zunächst einmal nichts mit den Juden und Jüdinnen zu tun zu haben scheinen. Gerade hier, in den scheinbaren Zusammenhanglosigkeiten zwischen den geschilderten Ereignissen und den jüdischen Figuren, finden sich oftmals die eindrücklichsten und überraschendsten Erklärungen für die literarische Attraktivität jüdischer Figuren.
1.2 Exkurs: Gedanken über die Verwendung geschlechtergerechter Sprache
Wo es um zugestandene oder verwehrte Gleichstellung von Juden und Jüdinnen und um die wertschätzende oder auch abwertende literarische Darstellung von jüdischen Figuren geht, liegt es auf der Hand, sich auch auf der Metaebene mit der sprachlichen Gerechtigkeit in dieser Arbeit zu befassen. Daher ist es notwendig, diese Untersuchung mit einigen kurzen Überlegungen zur Verwendung geschlechtergerechter Sprache zu beginnen. Bei der Bezeichnung der Leserinnen und Leser verwende ich inkonsequent mal die maskuline, mal die feminine Form, wechsle diese aber auch ab mit anderen Formen der geschlechtergerechten Sprache wie ‚Leser*innen‘, ‚Lesende‘ oder ‚Lesepublikum‘. Ich möchte einerseits den Lese- und Gedankenfluss nicht stören, andererseits möchte ich Geschlechtervielfalt sprachlich sichtbar machen. Eine einzige durchgängige Form hat entweder den Nachteil, Teile des Lesepublikums auf Dauer eben doch unsichtbar zu machen, wie die konsequente Verwendung des Maskulinums, oder aber den Schreib- und Lesefluss massiv zu behindern, wie es beispielsweise häufig in grammatischen Konstruktionen der Fall ist, in denen die Sternchenform ‚Leser*in‘ mit einem Artikel oder Pronomen in Verbindung steht, beispielsweise in einem Satz über den*die Leser*in und dessen*deren Wahrnehmung eines Textes eines*r bestimmten*r Autors*in. Da die Verwendung geschlechtergerechter Formulierungen die Funktion hat, unsichtbare oder marginalisierte Geschlechter sichtbar zu machen, sehe ich diese Funktion in einem moderat wechselnden Gebrauch verschiedener Sprachformen, die sich vor allem am Lese- und Denkfluss orientieren,1 erfüllt. Komplizierter verhält sich es bei der Verwendung von ‚Juden‘ und ‚Jüdinnen‘ – hier schreibe ich häufig ‚Juden und Jüdinnen‘, sofern tatsächlich Männer und Frauen gemeint sind. Gegebenenfalls verwende ich auch nur die maskuline oder feminine Form. Geht es beispielsweise um Fragen der bürgerlichen Gleichstellung, die nur männliche Juden betreffen, wie das Wahlrecht, oder um religiöse Rituale, die nur von männlichen Juden ausgeführt werden, würde eine automatisierte Nennung von Jüdinnen verschleiern, dass es sich in diesen Fällen um explizit männliche Privilegien und somit auch nur um männliche Personen handelt. Aus demselben Grund ist die Verwendung des Gendersternchen in vielen Fällen nicht angebracht. Erschwerend kommt hier noch hinzu, dass es selbst dort, wo tatsächlich Jüdinnen und Juden gemeint sind, je nach Zusammenhang irreführend wäre, von Jüd*innen zu reden. Denn die geschlechtliche Vielfalt jenseits binärer Vorstellungen, auf die das Sternchen verweist, ist in den (meisten der) untersuchten Texten eben ausdrücklich nicht angelegt. Die Texte erzählen explizit von jüdischen Männer- und jüdischen Frauenfiguren.2 Eine weitere Herausforderung stellt die Bezeichnung der Autor*innen dar – denn zwar ist eine Novelle einer Autorin Teil der Literaturauswahl. Allerdings beziehe ich mich nicht an jeder Stelle tatsächlich auch auf sie. Daher versuche ich, sprachlich deutlich zu machen, wen ich im jeweiligen Fall meine. Wo tatsächlich nur männliche Autoren gemeint sind, benenne ich auch nur sie. In den anderen Fällen verwende ich entweder die maskuline und die feminine Form oder das Gendersternchen.
Meine Entscheidungen für die eine oder andere Form des Genderns sind abhängig vom Inhalt des Satzes, von der Frage, wer tatsächlich gemeint ist oder gemeint sein könnte, von seiner grammatischen Struktur und vom Bemühen, den Lesefluss nicht durch umständliche Formulierungen zu behindern. Es gibt keine einheitliche und zugleich vollkommen befriedigende Weise, Sprache zu gendern. Der Versuch, es trotzdem zu tun, führt nicht nur oftmals zu einem umständlichen Satzbau, sondern ist je nach Kontext sogar falsch oder zumindest irreführend und darüber hinaus tatsächlich kaum konsequent durchführbar. In nahezu jedem scheinbar konsequent gegenderten Text findet sich das eine oder andere unbeabsichtigte generische Maskulinum. Der Sinn des Genderns in der vorliegenden Arbeit soll also zum einen sein, die betreffenden Personengruppen möglichst genau zu benennen. Durch die Unregelmäßigkeiten in den gewählten Formen des Genderns sollen zum anderen die Lesenden animiert werden, aufmerksam zu bleiben und stets selbst zu reflektieren, wer hier eigentlich tatsächlich liest, schreibt, spricht, handelt, ausgegrenzt wird, sich emanzipiert und so weiter. Mit dieser unregelmäßigen und teilweise inkonsequenten, keineswegs aber beliebigen Form des Genderns soll der Versuch unternommen werden, so weit wie möglich sprachliche Geschlechtergerechtigkeit, historische Genauigkeit und gute Lesbarkeit miteinander zu vereinen.