Czytaj książkę: «Synthese», strona 2

Czcionka:

Über das Erstaunen

Letzten Herbst, an einem Montag um die Mittagszeit, bekomme ich einen Anruf von meinem Vater. Kaum hat er meinen Namen gesagt, mit einem zu schrillen Fragezeichen, wird mir klar, es ist ein Notfall. Er will wissen, ob es mir gut geht. Sofort dreht mein Herzschlag durch. Während er spricht, betrachte ich Anouk, erstarrt in ihrer Pose à la Verzückung der Heiligen Theresa. Das Licht streift sacht die Falten der Kutte, die ihren Körper und einen Teil ihres Kopfes verdeckt. Ich lasse den zweiten Scheinwerfer in der Schwebe, den ich zuerst verschieben wollte, um den mystischen Ausdruck ihres Gesichts besser sichtbar zu machen. Ich höre fast nichts. Aber das ist ziemlich egal. Mein Vater weiß nicht, wie er’s sagen soll. Er weint. Er stammelt, dass meine Mutter in der Notaufnahme ist.

Mein letzter Besuch im Haus meiner Eltern ist über zwei Jahrzehnte her, ich hatte seither nie wieder mit meinem Vater gesprochen.

Unsere letzte Auseinandersetzung war kurz. Brutal.

Ich war gerade zu Hause angekommen, stand noch in Mantel und Stiefeln in der Diele, schon unangenehm berührt durch die Wolke Zigarettenrauch, die seit Ewigkeiten im Haus hing. An dem schmierigen Gesichtsausdruck meines Vaters hatte ich gleich erkannt, dass er schon jetzt, vorm Abendessen, betrunken war. Meine Mutter war noch nicht aus ihrem Sessel aufgestanden, um mich zu begrüßen. Und sofort brach der Ausnahmezustand aus.

Eine Woche zuvor hatte die Lokalzeitung ein Porträt von mir gebracht, in dem meine Aktivitäten in Europa und vor allem mein Mitwirken an einem Gruppenfoto vorkamen: ein gemeinsames Aktfoto von lauter Models, als Aktion für den Tierschutz. Wir waren etwa dreißig Frauen vor weißem Hintergrund, weiches Licht, ungeschminkt, allesamt stehend, ohne wirklich zu posieren. Das Foto wirkte nüchtern; mein Vater fühlte sich trotzdem gedemütigt. Dass der Körper seiner Tochter den Augen der Allgemeinheit dargeboten wurde, war ihm zutiefst peinlich. Er sah keinerlei Unterschied zwischen den Pornofotos, die im Hustler standen, und den stilisierten Bildern, bar jeder erotischen Geste, die in den größten Modezeitschriften erschienen. Ich stand nackt in seinem Lokalblatt, und meine überklebten Brustwarzen verschärften die Beleidigung nur. Mein Vater fixierte mich voller Verachtung, während er seine Wut herausschrie, und schließlich zerknüllte er die Zeitung und warf sie mir vor die Füße. In seinem Furor spuckte er sogar auf den Küchenboden und verkündete mit ernster Stimme: Du ekelst mich an. Dann stapfte er schwerfüßig in sein Zimmer. Meine Mutter hatte sich nicht gerührt, nichts erwidert; sie betrachtete die Plastiktischdecke zwischen ihren Händen und kratzte sich den linken Handrücken mit den Fingern der Rechten. Ich war dermaßen baff, dass mir darauf nichts einfiel. Mir fehlte die Kraft, mich zu verteidigen oder irgendetwas zu erklären.

Ich ging wieder.

Mein Vater hatte sich nie entschuldigt; vielleicht hatte er seinen Anfall sofort wieder vergessen, betrunken wie er war. Vielleicht hatte er immer schon gefunden, dass ich seine Verachtung verdiente. Auch meine Mutter erwähnte den Vorfall nie mehr. Zwanzig Jahre lang schwieg ich lieber, wie sie. Schweigen rund um den Vorfall. Oder um meinen Alltag. Oder darüber, was ich zu egal welchem Thema dachte. Ich wurde noch viel oberflächlicher als das kommerziellste Bild in der Werbung.

Am Tag also, als meine Mutter ins Krankenhaus kommt, als ich die Stimme meines Vaters höre, noch bevor mir klar wird, dass es sich um einen Notfall handelt, nehme ich den Faden unserer Beziehung genau da wieder auf, wo wir ihn haben fallen lassen: Ich verstumme, erstarre. Unfähig nachzudenken, zu reagieren. Ich habe Angst vor ihm. Angst vor allem, was er sagen könnte.

Und doch sperre ich die Ohren auf und höre zu.


Nach dem Anruf meines Vaters brauche ich einen Moment, um wieder zu Atem zu kommen. Ich befreie Anouk aus ihrer entrückten Pose und nehme ihr das Gewand weg, ohne mein Bild zu vollenden. Nackt steht sie da, tritt unbefangen von einem Bein aufs andere, Mund offen, die Augen noch geschlossen. Ihre Haut, von marmornem Schimmer überzogen, ähnelt jetzt der eines Engels auf einem Grabmal. Ich bin dermaßen durcheinander, dass ich es nicht schaffe, ihr Gesicht zu resetten und so ihren klaren Blick wiederherzustellen.

Oft habe ich gedacht, dass ich einmal so sterben werde, schlagartig, abrupt stoppt ein Angstschub das normale Funktionieren all meiner Organe. Heutzutage gibt es präzise Begriffe dafür. Generalisierte Angststörung; Panikattacke. Als Kind brach ich auf dem Boden zusammen, die Hände zwischen die Schenkel geklemmt, den Kopf an den Knien. Und stets das Gefühl, gleich müsste die Katastrophe kommen.

Damals wusste ich noch nichts von Klimawandel, Terrorismus, beschleunigtem Rückgang der Artenvielfalt oder Nachhaltigkeit und Ressourcenverbrauch. Außerirdische wurden noch nicht diskutiert – und wie sinnvoll oder gefährlich es sei, auf unsere Anwesenheit im Universum aufmerksam zu machen; damals war die Wissenschaft sich einig: UFOs waren Halluzinationen von Hippie-Spinnern, die in dem Jahrzehnt nach Woodstock zu viel LSD genommen hatten. Ich wusste auch nichts von unheilbaren Krankheiten; von Krebs sollte ich zum ersten Mal kurz vor der Pubertät hören, halblaut, wenn es um den Tod meiner Tante Marianne ging, die ich kaum gekannt hatte und mit der mein Vater nicht mehr reden wollte, seit sie bei den Zeugen Jehovas war. Er sagte, es sei gefährlich, ihr zu nahe zu kommen, sie könne uns alle verrückt machen. Ich weiß noch, wie ich meine Mutter weinen hörte, man könne sie doch nicht einfach so sterben lassen, ohne sie noch einmal zu besuchen, das mit der Religion sei ein jugendlicher Fehler gewesen, es gebe doch sowieso weder Gott noch Jehova, aber Mariannes Leiden sei echt, sie habe schon alle Haare verloren und die Augenbrauen und würde schon bald endgültig sterben. Da erfuhr ich, dass der Gott von Jesus eine fiktionale Figur war, die erschreckendste von allen, was mir gleich Lust machte, sämtliche Geschichten über ihn zu lesen.

Nach allem, was man damals hörte, ging die wahre Bedrohung eher von den Haien aus, wie im Film Der weiße Hai, den alle im Autokino gesehen hatten und der in ganz Nordamerika für Albträume sorgte, dabei gab es weiße Haie laut meinem Vater nur in Florida. Es war auch viel von Drogen die Rede, von Heroin vor allem, das in Deutschland jugendliche Prostituierte tötete, sich aber in allen Seitengassen des Planeten verbarg, zwischen den Mülltonnen, in unsichtbaren verrosteten Spritzen, auf die alle kleinen Mädchen in meinem Alter unweigerlich treten und an denen sie augenblicklich sterben würden, noch bevor sie das Leben kennengelernt hatten, laut meinem Großvater, der jetzt, nachdem er sich über dreißig Jahre lang das Hirn weggesoffen hatte, zu den Anonymen Alkoholikern ging.

Auch das Ende der Welt, eingeleitet von einer Atomexplosion, fürchtete man - die einzige der weltweiten Bedrohungen, die auch durch die Gipswände unseres Bungalows eingesickert war. Aber mein Vater glaubte nicht daran. Kirche im Dorf lassen, sagte er. Kein Mensch wäre so verrückt, auf den roten Knopf zu drücken, jeder wüsste doch, dass beide Seiten ihren eigenen roten Knopf hätten, auf den sie drücken könnten. Nach seinem Verständnis hob sich die atomare Bedrohung selbst auf.

Ich hatte also nichts zu fürchten. Eigentlich.

Außer meinem Vater.

Der herumbrüllte, irgendwann würde er meine Mutter noch umbringen oder uns alle oder sich aufhängen oder uns den Kopf abreißen oder die Bude anzünden. Dann erklärte mir meine Mutter, das habe alles nichts zu bedeuten, Dummheiten eines zurückgebliebenen Pubertisten, typische Sprüche von hier, man brauche nicht auf alles zu achten, was er von sich gebe. Auch die Bierflaschen, die er quer durchs Wohnzimmer schmiss, hätten nichts zu sagen. Oder seine fröhlichen Fußtritte, seine schelmischen Kopfnüsse, die es jederzeit ganz spontan hageln konnte, manchmal beim Abendessen, wenn er die Schnauze voll davon hatte, mit uns zusammenzusitzen. Ein Suffkopp eben. Nichts Ernstes. Man solle aus einer Mücke keinen Elefanten machen.

Vielleicht hätte ich auch lernen können, die Schläge und großmäuligen Beschimpfungen meines Vaters einfach hinzunehmen, ohne etwas dabei zu empfinden. Alles lässt sich lernen; man passt sich an alles an. Das sagte meine Mutter ständig. Aber bevor ich mich für das Schweigen entschied, stellte ich zu viele Fragen. Und von allem, was mich faszinierte, war der Tod sicherlich das größte Geheimnis. Ich wollte begreifen, was wirklich hinter dieser ewigen Drohung meines Vaters steckte und was aus den Opfern des Weißen Hais wurde und aus all den anderen Toten, ob sie nun wegen einer Überdosis Heroin gestorben waren oder wegen einer Atomexplosion. Ich wollte den Tod begreifen, der in allen Fernsehsendungen, allen Filmen und sogar meinen japanischen Lieblings-Animes vorkam.

Jean, der jüngere Bruder meiner Mutter, klärte mich dann freundlicherweise auf, als ich fünf oder sechs war. Ich hatte Menschen im Fernsehen gesehen, die zu schlafen schienen, mit geschlossenen Augen und offenstehendem Mund. Ich sah sie jäh umfallen. Und ich begriff nicht, inwiefern der Schlaf des Todes eine schlimmere Strafe sein konnte als ein Fußtritt. Da nahm sich Jean die Zeit, es mir gut zu erklären. Er fragte mich, ob ich schon mal einen Friedhof gesehen hätte. Das hatte ich, auf dem Bildschirm, mit Gespenstern. Er führte aus, dass Sterben bedeutete, in einer Kiste auf einem Friedhof in der Erde vergraben zu werden. Mit Regenwürmern und Ameisen und Spinnen und noch anderen Insekten, je nach Friedhof. Er sprach von der Winterkälte, wenn der Boden gefriert. Von der Überschwemmung der Kiste, wenn die großen Regenfälle kommen. Er sagte: Wenn du einmal in der Kiste eingeschlossen bist, dann bleibst du für immer da. Das ist der Tod. Und jeder Mensch stirbt irgendwann. Da war mein Onkel fünfzehn oder sechzehn. Er hatte Humor. Und er konnte erzählen; er liebte das Fernsehen genau wie ich. Aber ich glaubte damals, er hätte mir gerade die Wahrheit beigebracht.

Die schlimmste Bedrohung von allen war also das Sterben. Und ich würde ihr nicht entgehen.

Da fingen die richtigen Albträume an.

Die Angststörung generalisierte sich.

Ich saß sowieso schon reglos vor dem Fernseher. Von dem Moment an bin ich wohl vollkommen erstarrt. Ich hatte gesehen, wie meine heißgeliebte Hexe die Menschen ringsum mit einer kleinen Bewegung der Nase fixieren, also die Zeit anhalten konnte, und mir fiel sehr schnell auf, dass die Zeit viel langsamer verging, wenn man überhaupt nichts tat, sich nicht bewegte und, noch besser, den Sekundenzeiger der Uhr anstarrte. Wenn ich mich konzentrierte, kam es mir so vor, als dauerte jede Sekunde drei oder vier Mal so lange. Das erklärte auch die Unsterblichkeit der Bilder, die ja absolut fix waren. Vielleicht lag hier das Geheimnis, wie sich das Sterben vermeiden ließ: jetzt schon reglos werden, aber außerhalb der Kiste unter der Erde.


Ein bisschen entspannen konnte ich schon, kurz nach der Schule, um meine Angststörung in Ordnung zu bringen. Bevor mein Vater irgendwann am Abend zurückkam, betrunken oder schlecht gelaunt, also kurz davor, sich zu betrinken. Während meine Mutter am Fenster rauchte, saß ich vor dem Fernseher, ohne mich zu rühren.

Viele der Figuren auf dem Bildschirm faszinierten mich. Ganz besonders Superheldinnen oder Zauberwesen. Alle überlebensgroß. Zum Beispiel Jaime Sommers, die Sieben-Millionen-Dollar-Frau. Die allererste, die mir Lust machte, einzelne Teile meines Körpers durch Roboterorgane zu ersetzen. Ich träumte davon, selbst auch optimiert zu werden, so schnell laufen zu können, dass sich dadurch die Zeit ringsum verlangsamte. Ungefähr damals entdeckte ich auch Wonder Woman. In jeder Folge verblüffte mich ihre unglaubliche Schönheit von neuem. Darin, dass sie fast nichts hatte, erkannte ich eine fantastische Macht. Wonder Woman brauchte keine Hosen, um sich vor den Dornbüschen zu schützen, keinen Mantel, um den Unbilden des Wetters zu trotzen, ihre seidige Haut war ein lebender Schutzschild.

Doch mein Lieblings-TV-Geschöpf war Bezaubernde Jeannie. Der blonde Geist in seiner rosa Flasche. Auch sie trug ein verführerisches Kostüm, das ihren flachen Bauch zeigte. Damals wusste ich noch nichts von Sex; ich sah in diesen Figuren in Bustier und durchsichtigem Schleier nichts erotisch Aufreizendes, ich war ganz einfach geblendet von ihrer Schönheit. Schon das Rosa von Jeannies Kostüm brachte mich zum Strahlen. Ein paar Töne der Musik im Vorspann, ein paar Bewegungen von Jeannies Zeichentrick-Avatar, und ich vergaß die langen Stunden in der Schule, in denen ich nichts gelernt hatte. Die farbigen Glasfenster der Flasche, in die sie hineinfuhr, und die Kissen aus Samt und Seide um sie herum entrückten mich in eine Dimension aus Opulenz und Pracht pur: Luft zum Atmen. Jeannie hatte so eine Leichtigkeit. Eine Art, alles zum Leuchten zu bringen, folgenlos. Ihre Art zu lieben war unvorstellbar tief. Von dieser Art Liebe hatte ich in der wahren Welt noch nie gehört. So glücklich über den anderen zu sein. Sich so nach ihm zu sehnen. Ich brauchte nur die Augen vom Bildschirm zu heben, wenn meine Mutter durchs Zimmer kam, um von neuem die unendliche innere Leere zu spüren, die sie zerfraß. Plötzlich wurde mir schwindlig. Außerhalb des Fernsehens erschien mir alles bedrohlich, undurchschaubar, zu schwer. Da verspürte ich nur noch ein Bedürfnis: tiefer in den Bildschirm einzudringen.


Ich hätte auch gern gewusst, wie man betet. Auf dem Bildschirm sah ich die Fliegende Nonne, deren Begeisterung und gute Laune nie nachließen; auch alle anderen gläubigen Figuren hielten sich so, schauten so, schlossen die Augen und entspannten alle Muskeln ihres Gesichts. Diese geistige Gelassenheit beeindruckte mich.

Aber schon in jungen Jahren habe ich gelernt, dass es bei der Religion auch um Kriege, Sklaverei, Kapitalismus ging, um die Päpste in goldenen Roben, die bezahlt wurden von den Barfüßigen in Afrika und durch den Verkauf von Bildern kleiner Chinesen in der Grundschule auf dem Plateau Mont-Royal in Montréal. Dass im Mittelalter die ganze Welt mit der Geschichte zum Narren gehalten wurde, das Paradies ließe sich erkaufen, wenn man sich nur aufopferte, um die Kirche noch reicher zu machen, die währenddessen kleine Kinder und Behinderte missbrauchte. So wurde zumindest bei den äußerst trinkfreudigen Familienessen geredet, stets mit großer Entrüstung.

Bei den Brocken an christlicher Unterweisung, die ich hie und da aufschnappte, fiel mir schon auf, wie sehr sich die religiösen und die literarischen Figuren, die in Farbe auf dem Bildschirm lebendig wurden, ähnelten. Das Himmelreich mit seinem ewigen Licht hat dieselbe Textur wie eine Filmvorführung.

Jesus von Nazareth lernte ich zuerst im Fernsehen kennen, alljährlich zu Ostern, der Heiland durchbohrte den Bildschirm mit seinen stahlblauen Augen, und er lebte genau dort, hinter derselben Fensterscheibe, wo ich auch die Wechselfälle all meiner anderen Idole verfolgen konnte, Geschöpfe der Fiktion, deren Haut auf dem Bildschirm nicht minder lebendig wirkte als die des Menschensohns. Jesus war, das muss ich dazusagen, der erste Dichter, den ich las, in der Bilderbuchbibel, die mir meine Großmutter geschenkt hatte. Liebt einander. Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt. Ich bin der strahlende Morgenstern. Die Worte Christi klangen für mich ebenso spannend und fesselnd wie Sherlock Holmes‘ Schlussfolgerungen. Meine Großmutter ahnte wahrscheinlich nicht, dass das hübsche orangefarbene Buch seinen Platz unter den Sagen, Legenden und Epen in meinem Bücherregal finden würde, da, wo die einst heiligen Schriften und die verrücktesten Fiktionen Seite an Seite standen. Sie alle hatte ich zuvor in derselben Position gelesen, bäuchlings auf dem Bett, die Füße in der Luft wippend wie ein Flügelpaar, damit meine Aufmerksamkeit auf einer Höhe mit der Fantasie der Autoren blieb und alles auf einmal aufnehmen konnte, ihre weitreichende Weisheit, ihren feinen Humor und ihren galoppierenden Irrsinn.


Das Wort Spiritualität hörte ich zum ersten Mal mit sechzehn, in Paris. Aus dem Mund einer Visagistin, die mir schillerndes Lipgloss auftrug. Sie behauptete, ein Tropfen Glanz genüge, um das heilige Licht der Seele zu offenbaren. Ich verstand damals kein Wort, hob aber die Augenbrauen, damit es so aussah, als sei ich ihrer Meinung.

Zwei Monate früher hatte ich allein in einem Souterrain in einem der südlichen Vororte von Montréal gesessen. Da gab es niemanden, der mich in die Spiritualität hätte einführen können, nur Menschen, deren Sinn für die Existenz über einen Automatismus lief, eine Art des Daseins mangels Alternative, Hauptsache genug Alkohol, um mit den alltäglichen Übeln der Orientierungslosigkeit fertigzuwerden.

Vielleicht hätte ich das Heilige durch eine Begegnung mit der Natur entdecken können. Aber zu ihr hatte ich genauso wenig Zugang. Ringsum herrschte Kahlschlag, für den Bau des Wohngebiets, in dem ich aufgewachsen bin. In der ganzen Gegend gab es keinen einzigen Baum mehr, nur noch wenige Büsche mit ein paar kahlen Ästen, die aussahen wie aus der Reihe tanzende Zaunpfähle. Und wenn mal ein Nachbar im Frühjahr Blumen pflanzte, geschah das beliebig, ohne gärtnerische Sorgfalt, nur lila Stiefmütterchen und Sonnenblumen, schnell von der Sonne verbrannt und noch vor der Sommersonnenwende am Ende. Klar, es gab das Grün der Rasenflächen, glatte, pestizidgesäuberte Rechtecke, die vage an das Vorhandensein von Pflanzen erinnerten, aus der Zeit, bevor alles eingeebnet wurde, um den Horizont des 21. Jahrhunderts zu erschaffen, aber eigentlich sahen sie eher nach Minigolf-Kunstrasen aus.

Weiter weg gab es auch nichts. In dem Gebiet, wo ich geboren wurde, liegen zehn kleine Hügel, was in der städtischen Umgebung aber nicht weiter auffällt. Auf Feldern, im Winter verlassene Brachen, werden Mais und Soja angebaut. Kleine Verkehrsinseln mit Koniferen tüpfeln die Landschaft aus Autobahnen, Fabriken, Einkaufszentren und Einzelhandel. Dazwischen erheben sich Strommasten aus dem Asphalt, deren Kabel mehr schlecht als recht die wild zusammengewürfelten Bauten verbinden. Eine Flutwelle aus Aluminium und Neon aus der übelsten Architekturperiode der Moderne, Anfang der Siebziger bis Ende der Achtziger, hat das Reich der Bungalows und Lagerhallen überspült, alles ohne Sinn und Verstand, ohne ästhetische oder urbanistische Kriterien hochgezogen von Horden halb besoffener Bauarbeiter.

Was ich als erstes von unserem Planeten kennenlernte, war ein Wohnkonglomerat aus Hunderten Einfamilienhäusern, eine Monokultur aus Backstein und Aluminium. Dort kann man sich verlaufen, ohne jemals auf einen Eckladen zu treffen, es gibt nichts als identische Häuser bis in alle Ewigkeit, bis zur Autobahn, die viele dieser kleinen Schlafstädte miteinander verbindet. Damals war es auch genau das, ein Ort, wo das Format des Schlafzimmers für jeden Einzelnen die Ausdehnung der zu erforschenden Welt begrenzte und das es zu überwinden galt. Meine Welterfahrung war von meinem unablässigen Freitauchen in der Fiktion geprägt, einen Ellbogen aufs Kopfkissen gestützt, während ich mich in einen Roman versenkte, oder das Gesicht von den bewegten Lichtern auf dem Bildschirm erleuchtet.

Das Meer habe ich schon auch gesehen, also, was man halt davon sehen konnte zwischen den vielen neonfarbenen Sonnenschirmen, den Strandtüchern und den eingecremten Körpern der Touristen, die millionenfach zum Sommerurlaub an die Strände der amerikanischen Ostküste gefahren waren. Der echte Ozean gehörte den Feriengästen, deren hin und her geschriene Dialoge das Rauschen der Wellen übertönten. Manchmal habe ich die klar gezogene Linie zwischen dem Himmel und dem Meer gesehen, manchmal sogar Wolken, die direkt darüber hingen, aber was ich sah, konnte mich nie begeistern, vielleicht weil ich gleich wieder von meinem Vater angerempelt wurde oder einer Horde aufgeregter Kinder oder von deren Eltern, die genauso aufgeregt waren und mir immer wieder ihre Anwesenheit aufdrängen mussten. Nur wenn ich mich in einen Roman vertiefte, konnte ich sie vergessen.

Da lernte ich bereits, mich der Welt zu entziehen, um zu einem erhabenen Blickwinkel zu finden.


Genauer gesagt, hatte ich das Wort Spiritualität zum ersten Mal im Fernsehen gehört, ohne je irgendwen zu fragen, was das wohl bedeuten mochte. Es klang für mich wie Spirituosen, und was das bedeutete, wusste ich – dass Besuch im Anmarsch war und die Bar aufgefüllt werden musste. Und dass bunte, lebhafte, oft streitlustige Diskussionen mich bis spät in die Nacht am Fernsehen hindern würden.

Zu uns nach Hause wurden ausschließlich Arbeitskollegen meines Vaters eingeladen, inklusive Ehefrauen. Von diesen Pflichtterminen bekam meine Mutter schon eine Woche vorher schlechte Laune. Am Abend davor öffnete sie die Fenster und ließ ein wenig Rauch hinaus; am Morgen danach begutachtete sie seufzend die Schäden, baute sich mit verschränkten Armen, eine Hand vor den Mund geschlagen, vor den Sofas mit den Weinflecken und den Brandlöchern auf. Da blieb sie stehen und atmete geräuschvoll aus. Es gab schon eine Phase, da schienen ihr die Besuche zu gefallen, in der ersten Stunde, wenn der Alkohol ihr Unbehagen betäubte und ihre Bemühungen, gesellig und aufgekratzt zu wirken, dazu führten, dass sie es auch ein bisschen wurde, nach ein paar Lachsalven. Aber dann biss sich mein Vater sehr bald mit seinem Gast an gewerkschaftlichen Themen fest, und die Gattinnen mussten in die Küche, das Essen fertigmachen. Meine Mutter hasste die Nähe zu diesen Frauen, die sie Megären nannte; früher oder später schnitten sie unweigerlich heikle Themen an, was meine Mutter eisig werden ließ, bis die Stimmung hinüber war. Ende der Siebziger, Anfang der Achtziger ging es meist um Scheidung oder Depressionen. Die Megäre leitete ihren Redebeitrag damit ein, wie gut es ihr tue, endlich mal aus ihrem Alltag rauszukommen und neue Leute kennenzulernen. Das letzte Jahr sei ja gar nicht einfach gewesen. Weil ihre Schwester oder ihre beste Freundin nach der Scheidung in Depressionen verfallen sei. Meine Mutter zeigte mit einem Nicken ihr Mitgefühl an. Sie sagte: Das Leben ist nicht leicht, ich sag’s dir. Sie versuchte es mit Zustimmung, füllte das Glas der unbekannten Gattin auf, trank ihres aus. Dann wandte sich das Gespräch unweigerlich der Eigenständigkeit zu, die Megäre erklärte, ihre Schwester oder beste Freundin habe nicht daran gedacht, sich für die Ehe abzusichern oder sich auf den Arbeitsmarkt zu begeben, sie habe in gewisser Weise die Katastrophe herausgefordert, heutzutage sei es doch naiv, ohne Absicherung eine Partnerschaft einzugehen. Nun ging meine Mutter bei keinem Thema so verlässlich in die Luft wie bei allem, was mit Feminismus zu tun hatte. An den Abenden, wenn die Streitereien erst spät anfingen, wenn sie also längst betrunken war, dauerte es nicht lange, bis meine Mutter sämtliche Feministinnen als hirnlos bezeichnete. Für sie stellte dieser Druck, sich auf den Arbeitsmarkt zu begeben, eine neue, noch perfidere Form der Knechtung dar. Sie ließ sich zu der Erklärung hinreißen, es sei immer dasselbe, vom Regen in die Traufe, erst hätte man die Frauen dazu gezwungen, dem Mann zu gehorchen, sie dazu gedrängt, ein Baby nach dem anderen für die Kirche zu produzieren, und jetzt wolle man sie ausbluten lassen, um die Wirtschaft in Gang zu halten. Und wenn sich die Frauen jetzt unbedingt auf dem Arbeitsmarkt durchboxen wollten, würden sie bald alle in Depressionen verfallen. Oft riss sie meinen Vater und den Gast mit ihren Reden mit, sie fanden sie irre komisch. Und schon steuerten sie ihre Anekdoten vom Arbeitsplatz bei: Die Frauen bewährten sich überhaupt nicht, ihretwegen gehe alles langsamer voran, sie seien weder für körperliche noch für geistige Arbeit geeignet. Wenn sie wenigstens noch einen schönen Hintern hätten! Dann knallte es erst recht. Meine Mutter versuchte klarzustellen, sie verteidigte die Intelligenz und das Können der Frauen, es sei doch keine Frage von Fähigkeiten, sondern von Pflichten und Bedingungen, Machtspielen, Missbrauch; sie sprach von der ungerechten Gehaltslücke, und mein Vater brüllte, das sei überhaupt keine Ungerechtigkeit, sondern eher Gerechtigkeit. Jeder würde halt nach seinen Fähigkeiten bezahlt.

Und hieb mit der Faust auf den Tisch.

Meine Mutter zog sich sofort ins Schweigen zurück, ging mit einer Flasche Wein in die Küche und blieb für den Rest des Abends an der Spüle stehen, wo sie aus dem Fenster schaute und sich immer wieder mit zitternden Fingern die Augenbrauen glattstrich.


Ich war bereits für die Weltabkehr konfiguriert, für eine Hingabe an die Spiritualität oder zumindest das Vergöttern. Wäre ich hundert Jahre früher geboren, wäre es garantiert aufgefallen, wie ich vor dem Bildschirm dahinschmolz, mit immer größeren Augen jedes neue Bild betrachtete, ohne jemals zu blinzeln, na ja, fast. Ich weiß, es gab damals noch kein Fernsehen, es hätte sich schon etwas anderes zum Betrachten gefunden. Die Bilder in der Kirche vielleicht oder die Beschreibungen in der Bibel.

Das Fernsehen faszinierte mich ganz intuitiv, aber es brauchte nicht viel, und ich lernte, auch feststehende Bilder zu verehren.

Das allererste, was mich packte, war das Cover einer LP.

Es war ein Foto von Olivia Newton-John, mit vor der Brust verschränkten Armen, auf ihrem Album If You Love Me, Let Me Know. Das war meine erste Platte, ein Geschenk meiner Großmutter, die das Bild wohl unbedenklich fand, mit den Bäumen im Hintergrund und dieser brav daherkommenden, weitgehend ungeschminkten blonden Puppe im Jeanshemd.

Ich war sieben Jahre alt.

Ich habe Olivia sofort geliebt.

Es kam mir vor, als schenkte sie mir ein strahlendes Lächeln. Erst viel später wurde mir klar, dass sie gar nicht lächelte, jedenfalls nicht auf diesem Foto, alles lief über die Intensität ihres Blicks, der unverwandt auf mich gerichtet war. Ich weiß nicht, warum ich den Eindruck hatte, ihr Gesicht würde wirklich leuchten. Oder warum ich anfing, zwanghaft Fotos von ihr zu sammeln, Hunderte, aus Zeitungen und Zeitschriften ausgeschnitten oder ausgerissen, und das fast zehn Jahre lang.


Meine Mutter hat nie begriffen, warum ich lieber Fotos von Olivia sammeln als mit meiner Barbie spielen oder draußen mit den Nachbarsmädchen Seilspringen wollte, die ich auch zu uns ins Planschbecken hätte einladen können. Sie begriff auch nicht, warum ich keine Lust auf das Riesending hatte, das unseren Garten praktisch ausfüllte und das ich immer schon nach drei oder vier Minuten mit brennenden Augen verlassen musste, weil das Wasser dermaßen gechlort war.

Ich weiß nicht, wie ich das Sammeln gelernt habe; ich weiß nicht mal, ob ich es bewusst lernte. Ich wollte so viel Zeit wie möglich mit Olivia verbringen und ihr dort begegnen, wo sie war, in der Welt der Bilder. Auf meinen Lieblingsfotos strahlte Olivia eine unerhörte Lebensfreude aus. Diese faszinierende Hingerissenheit war mir völlig neu. Alles an ihr schien zu leuchten. Ihre Schönheit, ihre Stimme, ihre Energie auf dem Bildschirm. Auf jedem ihrer Bilder konnte ich etwas mehr von ihrer Herrlichkeit entdecken. Um ihr wirklich zu begegnen, musste ich also an sämtliche Bilder von ihr herankommen.

Olivia war das Idol der Idole meiner Kindheit, mit ihrem absoluten Lächeln auf den Plattencovers und den Postern überall in meinem Zimmer. Sie war allgegenwärtig, mit neuen Filmen, neuen Platten, neuen Videos oder Fernsehshows. Jede Woche erschienen Fotos von ihr im Magazine illustré oder den anderen Zeitschriften, in denen ich im Supermarkt blättern konnte. Mit einer unauffälligen Technik schaffte ich es, die begehrten Seiten verstohlen herauszureißen und meiner Sammlung hinzuzufügen. Natürlich wusste ich, dass ich keine Seiten aus Zeitschriften herausreißen durfte und dass ich Gefahr lief, erwischt zu werden, aber ich konnte einfach nicht wieder gehen ohne mein kleines Stückchen Olivia.

Damals hatte ich noch keine Ahnung vom Talent der Fotografen. Oder von den Möglichkeiten der Bildkomposition. Ich merkte aber schon, dass unsere Erinnerungsfotos von Reisen oder von Weihnachten nichts mit Olivias Plattencovers zu tun hatten. Da sah ich immer traurig und missgestalt aus, meine Mutter genauso. Verschwommen. Und vielleicht dachte ich, dass das eine das andere erklärte, dass unsere Hässlichkeit auf den Fotos, die mein Vater machte, sich mit der außergewöhnlichen Schönheit Olivias auf ihren Werbefotos vergleichen ließe. Ihr unglaubliches Lächeln zeigte einfach, wie viel lebendiger sie war als wir, dass es ein Anderswo mit lebhafteren Farben gab und vergnügten Menschen, die sich ihres Lebens freuten. Ich musste eben besser werden, um eines Tages auf unseren Reisefotos auch so auszusehen wie sie. Und deshalb lag es in meinem Interesse, ihre Kunst des Großartigseins zu studieren.

Ich wusste nicht, was es bedeutete, ein Vorbild zu haben. Aber ich weiß, dass ich unbedingt wie Olivia sein wollte. Und das hatte nichts mit ihren perfekten Zähnen oder ihren blauen Augen zu tun. Derlei Details von Textur oder Form nahm ich gar nicht wahr. Was ich wollte, war diese selbstsichere Körperhaltung, dieser Blick geradeaus; ich wollte so strahlend werden, dass egal welche Aufnahme von egal wem nichts anderes hätte zeigen können als diese Vollkommenheit des Daseins.

Das hätte ich meiner Mutter nie erklären können, aber wenn ich meine Sammlung der still lächelnden Olivia ansah, fühlte ich mich sicher. Vaters Wut und Mutters Verzweiflung waren egal, Olivia war und blieb strahlend.


Meine Mutter war ernsthaft irritiert von meiner Verehrung für Olivia. Vielleicht spürte sie meinen Hang zum Mystischen und fühlte sich an ihre Jugend bei den katholischen Nonnen erinnert, daran, wie stur sie darauf beharrten, etwas zu verehren, das für meine Mutter nicht existierte; etwas, das ihnen das Recht gab, ihr mit einem Stock auf die Hände zu schlagen und sie verächtlich, von oben herab zu behandeln. Etwas, das sie jeden Morgen auswendig in der Kirche wiederholen musste, ohne ein Wort zu begreifen, ohne irgendein Gefühl außer Langeweile und dauerhaftem Druck.

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