Baiae

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Karl-Wilhelm Weeber

Baiae

Stadt der hundert Genüsse, Herberge aller Laster


Abbildungsnachweis

Titelbild, oben: Wikimedia Commons, gemeinfrei.

Titelbild, unten: PD-old, Wikimedia Commons, gemeinfrei.

Frontispiz: Berthold Werner, Wikimedia Commons, lizensiert unter Creative-Commons-Lizenz „Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 nicht portiert“, http://creativecommons.org/​licenses/​by-sa/​3.0/​legalcode.

Abb. S. 6: Sailko, Wikimedia Commons, gemeinfrei.

Abb. 1: NASA, Wikimedia Commons, gemeinfrei; Abb. 2: Tyler Bell, Wikimedia Commons, lizensiert unter Creative-Commons-Lizenz „Namensnennung 2.0 generisch“ (US-amerikanisch), http://creativecommons.org/​licenses/​by/​2.0/​legalcode; Abb. 3: Entwurf und Zeichnung Prof. Dr. M. Döring; Abb. 4: qgHY7Z6uOQ2tUw at Google Cultural Institute, Wikimedia Commons, gemeinfrei; Abb. 5: © Luigi Novi/​Wikimedia Commons, lizensiert unter Creative-Commons-Lizenz „Namensnennung 3.0 nicht portiert“, http://creativecommons.org/​licenses/​by/​3.0/​legalcode; Abb. 6: Dave & Margie Hill/​Kleerup, Wikimedia Commons, lizensiert unter Creative Commons Attribution-Share Alike 2.0 Generic license, http://creativecommons.org/​licenses/​by-sa/​2.0/​legalcode; Abb. 7, 9, 15, 16, 20: WolfgangRieger, Wikimedia Commons, gemeinfrei; Abb. 8: Massimo Finizio, Wikimedia Commons, lizenisert unter Creative-Commons-Lizenz „Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 2.0 Italien“, http://creativecommons.org/​licenses/​by-sa/​2.0/​it/​legalcode; Abb. 10: Jojo86, Wikimedia Commons, lizensiert unter Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported license, http://creativecommons.org/​licenses/​by-sa/​3.0/​legalcode; Abb. 11: Ra Boe/​Wikipedia, Wikimedia Commons, lizensiert unter Creative-Commons-Lizenz „Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Deutschland“, http://creativecommons.org/​licenses/​by-sa/​3.0/​de/​legalcode; Abb. 12: PD-old, Wikimedia Commons, gemeinfrei; Abb. 13: AlMare, Wikimedia Commons, lizensiert unter Creative-Commons-Lizenz „Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 2.5 generisch“, http://creativecommons.org/​licenses/​by-sa/​2.5/​legalcode; Abb. 14: Andrew Dalby, Wikimedia Commons, gemeinfrei; Abb. 17: Gugerell, Wikimedia Commons, gemeinfrei; Abb. 18: Diana Ringo, Wikimedia Commons, lizensiert unter Creative-Commons-Lizenz „Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0“ Österreich, http://creativecommons.org/​licenses/​by-sa/​3.0/​at/​legalcode; Abb. 19: Sailko, Wikimedia Commons, lizensiert unter Creative Commons Attribution 3.0 Unported license, http://creativecommons.org/​licenses/​by/​3.0/​legalcode; Abb. 21: Sailko, Wikimedia Commons, lizensiert unter Creative-Commons-Lizenz „Namensnennung 3.0 nicht portiert“, http://creativecommons.org/​licenses/​by/​3.0/​legalcode; Abb. 22: Khs1959, Wikimedia Commons, lizensiert unter Creative-Commons-Lizenz „Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 nicht portiert“, http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.de​legalcode.

112 Seiten mit 24 Abbildungen

Titelbild,

oben: Lawrence Alma-Tadema, Cherries, Öl auf Leinwand, 1873, Privatsammlung (Ausschnitt)

unten: Lawrence Alma-Tadema, A Favourite Custom, Öl auf Holz, 1909,

Birmingham Museum and Art Gallery

Frontispiz:

Giardino, Fresko aus Pompeji, Museo Archeologico Nazionale di Napoli

Abb. S. 6:

Tänzerin, Fresko aus der sog. Villa di Cicerone, Pompeji, Museo Archeologico Nazionale di Napoli

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind

im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2014 by Nünnerich-Asmus Verlag & Media, Mainz am Rhein

ISBN 978-3-945751-00-8

Gestaltung: Bild1Druck GmbH, Berlin

Lektorat: Frauke Itzerott

Gestaltung des Titelbildes: Sebastian Ristow

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015

Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des

Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf fotomechanischem Wege (Fotokopie, Mikrokopie)

zu vervielfältigen oder unter Verwendung elektronischer Systeme zu verarbeiten und zu verbreiten.

Weitere Titel unseres Verlagsprogramms finden Sie unter: www.na-verlag.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Einladung nach Baiae – litora mundo hospita

Auf in den Wonnekessel! – peregrinatio

„Lustbesitz“ mit herrlichem Ausblick – villa

Mit Muränen auf Du und Du – piscina

Wasserkuren und Wellness – aqua

Speisen in edlem Ambiente – convivium

Feiern mit dem Trinkkönig – comissatio

Wein, Flirten und mehr – vinum

Bajanische Austern – palma mensarum

Gartenfeste und Strandpartys – acta

Bootsfahrten auf einem Rosenmeer – navigatio

Eine fragwürdige Sexualmoral? – libido

Mord in Baiae – matricidium

Literaturhinweise

Weitere Bücher


Einladung nach Baiae –

litora mundo hospita

Capri und Neapel, Ischia und Sorrent – das sind wohlklingende Ortsnamen. Man hat keine Mühe, sie mit landschaftlicher Schönheit, mediterranem Lebensgefühl und touristischer Attraktivität zusammenzubringen.

 

Aber Baiae? Oder in der heutigen Schreibweise: Baia? Das ist eher etwas für Eingeweihte, zumal der Ort auch neben den ausgetretenen Pfaden des internationalen Fremdenverkehrs liegt. Wer die Schönheit Kampaniens genießen will, fährt auf die gegenüberliegende Seite des Golfes von Neapel, auf die Halbinsel von Sorrent; wer wunderbare archäologische Stätten bewundern will, sucht Pompeji auf und Paestum. Auch Baiae hat Überreste zu bieten, die in einem Parco Archeologico liegen und durchaus einen Besuch lohnen. Aber spektakulär sind sie, abgesehen von beeindruckenden Kuppelbauten, die sich einst über Thermalwasserbecken spannten, nicht. Wer mehr sehen will als den einstigen Thermalbezirk im Zentrum, braucht eine Taucherausrüstung. Große Teile der Stadt liegen heute auf dem Grund des Meeres. (Abb. 1)


Abb. 1 Was vom mondänen Kurort übrig ist:

Baiaes Parco Archeologico

In der Antike dagegen genoss Baiae einen geradezu legendären Ruf. Dank seiner heißen Quellen und landschaftlichen Reize entwickelte es sich zum berühmtesten Kurort der römischen Welt und gleichzeitig zu einem mondänen Ferienparadies, in dem sich zur Saison die High Society Roms traf. Viele Prominente besaßen hier prächtige Landsitze. Die Lage am Meer und gleichzeitig an zwei Seen bot touristisch eine Menge: nächtliche Bootsfahrten, Strandpartys und manches mehr, darunter auch amouröse „Wellness“. Amor und Venus hatten hier leichteres Spiel als anderswo, da sind sich alle Quellen einig. Für Vergnügungswillige war Baiae ein Kultort, für Moralisten ein Sündenbabel, um das man lieber einen großen Bogen machen sollte. Diejenigen indes, die die Einladung an die litora mundo hospita, „das gastliche Gestade für die ganze Welt“ (Stat. silv. III 5, 75), annahmen, waren deutlich in der Mehrheit. (Abb. 2)



Abb. 2 Blick aus dem Weltraum auf das

„Gastliche Gestade für die ganze Welt“

Dieses Buch will einen Einblick in die bunte Lebens und Genusswelt der feinen Gesellschaft geben, die sich hier ein Stelldichein im Zeichen besonderer licentia, „Ausgelassenheit“, gab, und zumindest die wichtigsten jener „hundert Genüsse“ nachzeichnen, die die Stadt, glaubt man dem Dichter Martial, ihren Besuchern bot. Es ist eine kulturgeschichtlich, keine archäologisch orientierte Darstellung.

Vieles von dem, was die Spaßgesellschaft Baiaes ausmachte, lässt sich auf die gesamte römische Zivilisation übertragen. Das zeigt sich schlaglichtartig an dem berühmten Zweizeiler, mit dem ein Römer sein erfülltes Freizeitleben als Grabinschrift (!) zusammengefasst hat:

balnea, vina, Venus corrumpunt corpora nostra,

set vitam faciunt: balnea, vina, Venus (CIL VI 15258).

Die Bäder, die Weine und die Liebe:

Sie ruinieren unseren Körper.

Aber sie machen das Leben aus: Die Bäder,

die Weine und die Liebe.

Das hört sich an, als hätte der Verfasser regelmäßig in Baiae Urlaub gemacht. Denn es sind eben diese drei Hauptattraktionen, für die der Nobelkurort – je nach Standpunkt – berühmt oder berüchtigt war. Als Slogan für ihren mondänen „Lustort“ – so die Bezeichnung Baiaes in älteren historischen Werken – hätten die PR-Verantwortlichen den Zweizeiler aber wohl doch nicht gewählt. Denn zumindest die heißen Quellen ihres Heilbades dienten ja der Gesundheit und dem Wohlbefinden der Badegäste – und nicht dem „Ruin“ ihres Körpers.

Auf in den Wonnekessel!–

peregrinatio

Es klingt wie aus einem touristischen Werbeprospekt, wenn der Dichter Statius die Eröffnung der Via Domitiana im Jahre 95 mit der Feststellung bejubelt, dass, „wer den Tiber am frühen Morgen verlässt, am Abend schon auf dem Lucriner See Boot fahren kann“ (Stat. silv. IV 3, 112 f.). Das war schon ein bisschen übertrieben; der normale Reisende schaffte die Strecke von der Hauptstadt in den berühmten kampanischen „Wonnekessel“ – eine Formulierung Ciceros (crater ille delicatus, Cic. Att. II 8, 2) – sicher nicht an einem einzigen Tag. Gleichwohl verkürzte die neue Straße, die von der Via Appia bei Sinuessa abbog und an der Küste bis nach Cumae führte, die Reisezeit erheblich, weil sie den lästigen Umweg über Capua überflüssig machte. Der Hofdichter Domitians konnte sicher sein, dass die feine Gesellschaft der Hauptstadt in seinen Jubel einstimmte und die kleinen Korrekturen an der Wirklichkeit großzügig übersah – jedenfalls alle, die in der Ferienregion am Golf von Neapel einen Landsitz hatten und einige Wochen des Jahres dort verbrachten. Und das waren viele. Kampanien war das Zentrum der Villeggiatur der römischen Oberschicht. (Abb. 3)


Abb. 3 „Freizeitlandschaft“ mit Meer und

Seen am Golf von Baiae –

Topografisches Modell von M. Döring

Der moderne Begriff „Villeggiatur“ (italienisch: villeggiatura) bezeichnet den Urlaubsaufenthalt römischer Aristokraten auf Landgütern (villae), die sich als Leuchttürme der Zivilisation aus ihrer ländlichen Umgebung abhoben. Die meisten Landsitze dienten nicht mehr als Herrenhäuser auf einem agrarisch genutzten Grundbesitz, sondern waren luxuriös ausgestattete Refugien, in denen man sich vom Arbeits- und Alltagsstress der anstrengenden Großstadt Rom entspannte – für einige Tage oder auch einige Wochen.

Die Reise zur Ferienvilla und der Aufenthalt dort wurden häufig als peregrinatio bezeichnet. (z. B. Cic. Att. II 4, 3; II 6, 1). Darin steckt das Adjektiv peregrinus, „fremd“. Es ist also der Wechsel aus der gewohnten in eine fremde, jedenfalls nicht alltägliche Umgebung, die die Vorstellung von der peregrinatio prägt, ein wohltuender Ortswechsel, ein Herauskommen aus dem Alltagstrott, lateinisch gesprochen eine mutatio loci, von der sich viele trotz der damit verbundenen Reisestrapazen Erholung, Abschalten oder „Durchatmen“ versprachen. Dabei brauchte man, sobald man die villa erreicht hatte, auf den gewohnten Komfort nicht zu verzichten. Nicht wenige Angehörige der Elite besaßen mehrere villae in verschiedenen Gegenden. „Der Wechsel von Landschaft und Klima ist reizvoll“, stellte der Jüngere Plinius fest, „und auch schon das Reisen (peregrinatio) selbst von einer Besitzung zur anderen“ (Plin. ep. III 19, 4).

Allein war man indes selten. An landschaftlich schönen Orten – amoenitas, „Anmut“, „Schönheit“ ist das einschlägige Zauberwort – gab es geradezu eine Cluster-Bildung luxuriöser Landsitze, sodass niemand auf das übliche gesellschaftliche Leben mit Gastmählern, Gelagen und Partys in freier Natur verzichten musste – sofern er das wollte. Cicero siedelt einige seiner wichtigsten Abhandlungen als Gesprächsrunden in gerade so einem Urlaubsambiente an. Die villa ist damit auch ein Ort des geistigen Austausches und des intellektuellen Diskurses, wobei man die Zahl derer, die daran Interesse hatten, nicht allzu hoch veranschlagen sollte.

Wenn sich das otium, die „Freizeit“, vieler Römer der Oberschicht auf Kampanien konzentrierte, die südlich an Latium angrenzende Landschaft, so hatte das gute Gründe. Da war zum einen das angenehme Klima mit milden Wintern und nicht zu heißen Sommern. Dazu kamen die Nähe des Meeres, die erheblich zum landschaftlichen Reiz, eben der amoenitas, beitrug, sowie der fruchtbare vulkanische Boden, der eine reiche Vegetation sprießen ließ und unter anderem die berühmten kampanischen Rosen und den nicht minder berühmten kampanischen Wein hervorbrachte: Der „Falerner“ genoss einen legendären Ruf; er konnte es mit den besten Weinen der damaligen Welt aufnehmen.

Kein Wunder, dass diese Landschaft das Epitheton „glücklich“ trug: In der Bezeichnung felix Campania spiegelt sich auch die agrarische Üppigkeit. Im „glücklichen Kampanien“ herrschte, „wie die Alten es ausdrückten, ein gewaltiger Wettstreit zwischen Vater Liber (Bacchus, Gott des Weines) und Ceres, der Göttin des Getreides“ (Plin. NH III 60). Die Schriftsteller überboten sich geradezu in den laudes Campaniae, dem „Lobpreis auf Kampanien“. Der Grieche Polybios rühmt die „Fruchtbarkeit und Schönheit, die Lage am Meer und die Hafenplätze dieses vor allen anderen ausgezeichneten Landstrichs“ (Polyb. III 91), der Römer Florus preist Kampanien sogar als „herrlichste Gegend nicht nur Italiens, sondern auf dem ganzen Erdkreis“: „Nichts ist linder als das dortige Klima, zweimal ruft das Wetter dort durch seine Blumenpracht den Frühling hervor“ (Flor. I 11, 3).

Hinzu kommt das mythologische Erbe Kampaniens. Dort ist die Sibylle von Cumae zu Hause, die den römischen Stammvater Aeneas einst in die Unterwelt begleitet hat, dort sind, hält man sich an Vergils Nationalepos, schicksalhafte Entscheidungen für den Aufstieg Roms zur Weltmacht getroffen wurden. Die dramatische Szenerie dafür waren die Phlegräischen Felder, wo die Erde brodelte und heiße Dämpfe die Nähe des Eingangs zur Unterwelt anzuzeigen schienen. Cumae, Kap Misenum und der Averner See sind in der „Aeneis“ zentrale Orte für die Urgeschichte Roms. Dort gingen die Trojaner, die die Katastrophe ihrer Heimatstadt überlebt hatten, unter Führung des Aeneas an Land, dort weissagte die Sibylle den unaufhaltsamen Aufstieg Roms als zweites Troja (Stärk, Kampanien 37 ff.). Das war klassisches rus Maronianum, „Vergil-Land“, dessen „historische“ Stätten zum Besuchsprogramm patriotischer Römer und neugieriger Touristen zählten. Sie wollten die Stätten, die ihnen aus der Aeneis-Lektüre, einem Klassiker der Höheren Schule, vertraut waren, mit eigenen Augen sehen und erkunden.

Und es war zudem altes Kulturland, dessen blühende Städte von Griechen gegründet worden waren, wo griechische Kultur seit dem 8. Jh. v. Chr. Einzug gehalten und tiefe Spuren hinterlassen hatte. In manchen Gegenden sprach man noch lange nach der römischen Eroberung griechisch; besonders Neapel galt als Graeca urbs (Tac. ann. XV 33, 2; vgl. Vell. Pat. I 4, 2), als Stadt mit griechischem Flair, griechischer Bildung und griechischer Lebensweise – Klein-Griechenland gewissermaßen mit all den positiven kulturellen Assoziationen, die sich damit verknüpften. Auch das hatte seine touristischen Reize, sodass Statius für Kampanien als Alterswohnsitz gegenüber seiner etwas zögerlichen Ehefrau mit variae oblectamenta vitae werben kann, mit „verschiedenen und verschiedenartigen Annehmlichkeiten des Lebens“ (Stat. silv. III 5, 95).

Dort sein Alter zu verbringen, wo andere Urlaub machen – das war schon in römischer Zeit eine Aussicht, die viele faszinierte. Und die nicht nur Statius veranlasste, sich dauerhaft in Kampanien niederzulassen (zumal das seine Heimat war), sondern auch manchen reichen Römer, der der Hauptstadt auf immer Ade sagte und sein Feriendomizil zum „Erstwohnsitz“ umwidmete. Damit war man zwar nicht mehr „in“ und verlor an politischem und gesellschaftlichem Einfluss, aber man gewann dauerhaft an Lebensqualität – ein secessus, „Rückzug“, in eine zauberhafte Landschaft, in der eine attraktive Natur und eine attraktive Kultur zu einer seltenen Einheit verschmolzen.

Schließlich das heitere, beschwingte Lebensgefühl, das diese Landschaft verkörperte! Die griechisch inspirierte Leichtigkeit des Seins, das Savoirvivre, die Neigung zum Hedonismus als Lebenseinstellung – nicht zufällig war Neapel eine Hochburg der epikureischen Philosophie –: Das war ein geistig-moralisches Klima, das auf viele Besucher anziehend wirkte, mochte da auch manche Klischeevorstellung die Realität überlagern. Dieses Phänomen ist der heutigen Welt ja nicht ganz unbekannt und wird von der Tourismus-Industrie nach Kräften gefördert. Entscheidend für die Stimmung und das Lebensgefühl sind nicht unbedingt die Eindrücke, die der Besucher bei der peregrinatio erhält, sondern die Vorprägungen und Erwartungen, die er in den Urlaub mitbringt. Was nicht kompatibel ist, wird mittels selektiver Wahrnehmung kompatibel gemacht.

 

Es gab indes auch erbitterte Gegner des kampanischen way of life. Das waren die Moralisten, die vor der verweichlichenden Wirkung der tryphé warnten, der Neigung zur Üppigkeit, Schwelgerei und Ausschweifung, die solchen von der Natur verwöhnten Landstrichen angeblich eigen waren. Wo es dem Menschen allzu leicht gemacht werde, da schlage er schnell über die Stränge, ja versinke in gefährlicher luxuria, „Genusssucht“. Ein Klischee, mit dem man hin und wieder auch Politik machen konnte, indem man die Bewohner und Besucher Kampaniens als wenig verantwortungsvolle und obendrein arrogante Genussmenschen verunglimpfte. Cicero war da keine Ausnahme. Obwohl er selbst Besitzer mehrerer Villen im kampanischen crater delicatus, „Wonnekessel“, war, bediente er in der Rede de lege agraria aus politischem Opportunismus die weit verbreiteten Vorurteile: „Die Campaner waren stets übermütig infolge der Güte ihrer Äcker (…). Mit diesem Überfluss an allem hängt ihre bekannte Anmaßung hauptsächlich zusammen“ (Cic. leg. agr. II 95).

Bei Moralisten erfreute sich diese Umwelttheorie großer Beliebtheit: „Eine allzu reizvolle Landschaft (amoenitas nimia) verweichlicht die Sinne“, weiß Seneca, „und ohne Zweifel hat eine Gegend beträchtlichen Einfluss darauf, die Körperkraft zu schwächen“ (Sen. ep. 51, 10). Als Beweisinstanzen dienen ihm das Vieh und der Soldat – beide entwickeln, wenn sie durch eine raue Gegend gefordert werden, eine größere Fähigkeit zur Ausdauer, Strapazen zu ertragen. Ein einziges Winterlager in Kampanien habe ausgereicht, um Hannibals Kräfte zu zerrütten, analysiert Seneca reichlich kühn; die fomenta Campaniae, die „Üppigkeit Kampaniens“, hätten den großen Karthager eher besiegt als die Schneefelder der Alpen (Sen. ep. 51, 5). (Abb. 4)

Das klingt nach einem überzeugenden geschichtlichen Beispiel, steht aber auf historisch wackligen Beinen und illustriert eigentlich nur, wie konsequent Seneca die moralisierende Umwelttheorie vertritt. Wenn sich diese von Simplifizierungen und Klischees nicht freie Deutung dann noch mit der von der Antike geliebten Pauschal-Etikettierung von Völkern und Landschaften – konkret der vermeintlichen levitas Graeca, „griechischen Leichtfertigkeit mit Tendenz zur Haltlosigkeit“ – verband, war eine Legende gezimmert, die die Rezeption nachhaltig beeinflussen sollte. Kampanien – das war dolce vita, angenehm, aber nicht sehr seriös, verlockend, aber auch verführerisch, ein paradiesisches Land mit diabolischem Potential, um es in christlicher Diktion zu formulieren. Tatsächlich nahmen die Kirchenväter einen zentralen paganen „Verunglimpfungstext“ wie Senecas 51. Brief nicht ungern in ihr moralisches Arsenal auf und erwiesen sich als ebenso gelehrige wie dankbare Verwerter „geopsychologischer Plattitüden“ (Stärk, Kampanien 112).



Abb. 4 Reizvolle Landschaft mit Ruinen-Romantik.

Baiae im 19. Jh.; Gemälde von

William Turner

Echte Kampanien-„Fans“ – und die waren deutlich in der Mehrheit – ließen sich von griesgrämigen moralisierenden Bedenkenträgern wenig beeindrucken. Ihr „Schlachtruf“ hieß: nunc Campaniam petamus, „auf jetzt nach Kampanien!“, wenn ihnen der Sinn nach delicata, einem kultivierten Urlaubserlebnis in anmutiger Landschaft, stand (Sen. tr. an. II 13). (Abb. 5)

Zum führenden Ferienort Kampaniens entwickelte sich im 1. Jh. v. Chr. Baiae, ein Ortsteil von Cumae. Neben den allgemeinen Vorzügen Kampaniens verfügte die regio Baiana zusätzlich über ein wertvolles, hochattraktives Alleinstellungsmerkmal. Das waren die heißen Dampf- und Wasserquellen, die der Erde hier entwichen. Die aquae calentes, das warme Thermalwasser Baiaes, wurden schon früh zu therapeutischen Zwecken genutzt. Baiae war zu Beginn seiner fulminanten Entwicklung ein Heilbad – freilich eines, das vor allem gutbetuchte Besucher anzog. Diese Tendenz dynamisierte sich in atemberaubendem Tempo, als die Gegend auch als Standort von villae entdeckt wurde und im 1. Jh. v. Chr. jede Menge reicher Römer als aedificatores, „Bauherren“, anlockte, die sich von den besonderen landschaftlichen Reizen faszinieren ließen: Der Ort lag nicht nur am Meer, sondern verfügte auch über zwei Binnenseen, den Averner See und den nur durch eine schmale Küstenstraße, die via Herculanea, vom Meer getrennten Lucriner See. Das lud zu Segeltörns entlang der Küste, aber auch zu Gondelfahrten auf geschützten Binnengewässern ein. Kaiser Nero war nicht der Einzige, der es liebte, am Golf von Baiae entlangzusegeln und in Ausflugslokalen am Strand Halt zu machen, die einen nicht nur guten Ruf genossen (Suet. Nero 27, 3). Aber gerade das – das Flair des Verruchten – gehörte ebenfalls zum Markenkern Baiaes und zog deutlich mehr Urlauber an, als es abschreckte.



Abb. 5 Luftaufnahme vom kampanischen

„Wonnekessel“

Viele Prominente besaßen hier Landsitze, die sie im Frühling und Herbst für einige Tage oder Wochen aufsuchten. Dann war Saison in Baiae und manch einer kam sich vor wie in einer pusilla Roma, in „Klein-Rom“, wie Cicero scherzhaft das rege gesellschaftliche Leben auf seinem Cumanum beschreibt (Cic. Att. V 2, 2). Man feierte Feste, unternahm Ausflüge, genoss die freien Tage – und erfreute sich an den vielen unterschiedlichen Freizeit- und Erholungsangeboten, die allein schon das Element aqua bereithielt, das warme der Quellen ebenso wie das kühlere des Meeres und der Seen. Die feinen Herrschaften aus Rom brachten zahlreiche Bedienstete mit. Es strömten auch Besucher nach Baiae, die nicht den führenden Gesellschaftsschichten angehörten, neben gut situierten Badegästen und Touristen auch Geschäftemacher, die von der Kaufkraft der Reichen zu profitieren hofften, darunter hier und da auch ein Bankrotteur, der sich auf der Flucht vor seinen Gläubigern nach Baiae absetzte (Juv. XI 47 ff.). Vielleicht hoffte er darauf, in dem Badeort neue „Quellen“ anzuzapfen und potente Geldgeber in Ferienlaune für sich interessieren zu können.

Im Ganzen war Baiae ein ausgesprochen vornehmes Pflaster, ein Wellness-Dorado der Oberschicht mit interessantem Flair, kein bürgerlichbeschaulicher Kurort, sondern eher der Schauplatz eines mehr oder weniger kultivierten High Life. Der Höhepunkt seiner Popularität lag im 1. und 2. nachchristlichen Jh. Kaiserliche Villen und Besuche gaben dem Nobelort weiteren Aufschwung. Für ein besonderes Spektakel sorgte Kaiser Caligula, als er im Jahre 39 n. Chr. eine doppelte Reihe von Lastschiffen quer über den Golf zwischen Baiae und Puteoli als schwimmende Brücke ankern und darüber eine Erdschicht legen ließ. An einem Tag überquerte er so den sinus Baianus zu Pferd, am zweiten „stand er in der Tracht eines Wagenlenkers auf einem Zweigespann“ und begab sich erneut auf die künstlich angelegte Strecke (Suet. Cal.19, 2) – eine aufwendige Show, die man nicht gut finden musste, die aber als Event bestens zum etwas verrückten Baiae passte und sicher jede Menge Zuschauer angelockt hat.

Für das 3. Jh. n. Chr. liegen nur wenige Nachrichten vor. Die allgemeine Wirtschaftskrise hat offenbar auch Baiae nicht verschont. Ein erneuter Aufschwung ist für das 4. Jh. n. Chr. festzustellen, auch wenn das Nobelbad damals nicht mehr den Glanz und Glamour wie zu seinen besten Zeiten ausstrahlte. Aber immerhin blieben die bunten Boote auf den Gewässern um Baiae ein vertrauter Anblick – und es waren wohl nach wie vor hauptsächlich begüterte Aristokraten, die hier ihren Urlaub verbrachten (Amm. Marc. XXVIII 4, 18) oder sich dauerhaft in einer der prächtigen Villen eingerichtet hatten, die das spezifische Ambiente dieses vornehmen Ferienortes repräsentierten.

Damals war Baiae schon längst zur Legende geworden: Ein Heilkurort der Luxusklasse, in dem Bacchus und Amor um die Gunst der Gäste wetteiferten, Tummelplatz eines süßen Lebens, dem sich die allermeisten Besucher nicht entziehen wollten. Genötigt wurde indes niemand, sich von der licentia, „Ausgelassenheit“, „Freizügigkeit“, des Ortes mitreißen zu lassen. Symmachus, ein „später“ Besucher Baiaes im 4. Jh. n. Chr., war mächtig stolz auf sich, dass er den Verlockungen widerstanden habe (Symm. ep. VIII 23, 3), die Baiae in so reicher Zahl zu bieten hatte. Martial rühmt die centum deliciae Baianae, die „hundert Genüsse Baiaes“ (Mart. I 59, 1 f.), Seneca dagegen schmäht den Ort als deversorium vitiorum, „Heimstätte aller Laster“ (Sen. ep. 51, 3).

Das sind im Grunde keine Widersprüche; entscheidend ist der Standpunkt des Betrachters. Mit der Warnung vor den moralischen Abgründen, die sich in Baiae tatsächlich oder vermeintlich auftaten, hat die Moralisten-Fraktion um Seneca schon große Rezeptionserfolge erzielt. Grund genug, die Perspektive auch derer nachzuzeichnen, die leuchtende Augen bekamen, wenn von Baiae die Rede war. Wir stellen im Folgenden die voluptates, „Genüsse“, vor – keine hundert, aber doch die wichtigsten.

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