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„Is ‚White Collar Crime‘ Crime?“11

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Die Frage bezieht ihre bleibende Aktualität aus der darin anklingenden Annahme, dass das Kriminaljustizsystem kriminelle Handlungen und Personen selektiv erfasst und andere verschont. Das Schlagwort crimes of the powerful12 steht seither als Sinnbild für die zumeist nicht wahrgenommene, nicht verfolgte und nicht bestrafte Kriminalität der Träger:innen sozialer, ökonomischer und politischer Macht.

12 Im Gefolge der 1968er-Studierendenbewegung entwickelt sich in der westlichen Welt eine zunächst vor allem marxistisch inspirierte kritische Kriminologie. Diese sieht in der offiziellen Ideologie der Kriminalitätsbekämpfung eine Verschleierung der Disziplinierung von sozial ohnehin Benachteiligten, die im Interesse der Aufrechterhaltung des gesellschaftlichen Status quo erfolgt. [25] Michel Foucault (1926-1984) sah seinerseits gerade in der vermeintlich zivilisatorischen Entwicklung des Strafrechts von den „grässlichen“ und „pittoresken“ Strafen hin zur disziplinierenden Freiheitsstrafe die Herrschaftslogik des modernen Strafrechts verwirklicht, das sich durch subtilere Kontrollmechanismen fortschreitend der Individuen bemächtige.13 Der vernichtende Zugriff auf den Körper wird danach durch die umfassendere und effektivere Vereinnahmung der Seele ersetzt.

„Das Gefängnis, diese düstere Region im Justizapparat, ist der Ort, wo die Strafgewalt, die ihr Geschäft nicht mehr mit offenem Antlitz zu betreiben wagt, stillschweigend ein Feld von Gegenständlichkeit organisiert, damit die Bestrafung als Therapie und das Urteil als Diskurs des Wissens öffentlich auftreten kann.“14

13 In Großbritannien kritisiert die radikale Kriminologie den professionellen control talk des crime control establishments als ein Muster, das unter dem Deckmantel von Sozialnutzen, Wohltätigkeit und wissenschaftlicher Notwendigkeit operiere.15 Als von Vertreter:innen des left realism entdeckt wird, dass auch die Opfer von Straftaten sozialen Benachteiligungen ausgesetzt sind, gewinnt die Forderung nach Ersetzung des Strafrechts durch andere gesellschaftliche Umgangsformen mit konflikthaften Situationen an Bedeutung. Die vor allem in den USA und Skandinavien starke Bewegung des Abolitionismus (Abolition = Abschaffung, Aufhebung, Beseitigung) knüpft an die Abschaffung der Sklaverei an. Die Assoziation, dass in der Sklaverei wie im Gefängnis Menschen wie Tiere gehalten werden, will gegen das Gefängnis einen ähnlichen Sturm moralischer Entrüstung auslösen wie dies der Roman „Onkel Toms Hütte“ gegen die Sklaverei tat. Der Buchtitel „Überwindet die Mauern!“16 steht hierfür als Programm. Aus der Ablehnung der „durchstaatlichten“ Gesellschaft ergibt sich zudem die antietatistische Grundtendenz, soziale Konflikte, aus denen Kriminalität entsteht, in ihren unmittelbaren gesellschaftlichen Entstehungszusammenhang zurückzuverweisen und auf die Selbstheilungskräfte autonomer zwischenmenschlicher Verständigung zu vertrauen.17 In Deutschland werden diese verschiedenen Tendenzen einer kritischen Deutung der Kriminalitätskontrolle vor allem im Kontext des Labeling Approach (→ § 13 Rn 7 ff.) diskutiert, der auf Kriminalisierungsprozesse anstatt auf kriminelles Verhalten fokussiert ist.18 [26] Kriminalität stellt danach keine Gegebenheit an sich dar, sondern wird durch Diskurse der Ausgrenzung hergestellt. Infolgedessen gilt es, nicht das kriminelle Verhalten, sondern die ordnungsstiftende Funktion des Strafrechts zur erklärungsbedürftigen Variable19 zu machen.

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Inzwischen richtet die kritische Kriminologie ihr Augenmerk auf die zunehmenden Unterschiede von Macht und Wohlstand in einer globalisierten politischen Ökonomie. Risikogeschäfte in internationalen Finanzmärkten, Staatskriminalität und ihre mangelhafte Aufarbeitung, als Polizeiaktionen getarnte militärische Einsätze, die Ursachen des neueren Terrorismus, Umweltschäden, welche von multinationalen Unternehmen zur Gewinnmaximierung systematisch einkalkuliert werden, die Gewalt von Rechtsextremen und die häusliche männliche Gewalt werden auch von der kritischen Kriminologie als bearbeitungsbedürftige Szenarien verstanden.20 Dabei entsteht mitunter ein gewisses Spannungsfeld mit einer staatskritischen, formale Sanktionen ablehnenden Grundeinstellung.

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Weiterentwicklungen des kritischen Ansatzes finden sich in der feministischen Kriminologie (→ § 9 Rn 36 ff.) sowie in der besonders im englischsprachigen Raum verbreiteten Cultural Criminology (→ § 13 Rn 29 ff.). Dabei handelt es sich um eine Heranführung der Kriminologie an die Kulturwissenschaften (cultural studies). Kriminalität und ihre Kontrolle werden dabei als Ausprägungen des kulturellen Lebens verstanden – von Lebensstilen, der Dynamik der Massenmedien, gebräuchlichen Riten und Symbolen. Diese Richtung untersucht etwa, wie Polizei, Justiz und Strafvollzug ihre Autorität in Sprachstil, Auftreten und Gebäuden zum Ausdruck bringen oder welche besonderen Kriminalitätsbilder Massenmedien und Politiker:innen vermitteln. Die kriminologischen Themen werden dabei als Wahrnehmungsphänomene verstanden, denen von Täter:innen, Opfern, Kontrollierenden und Bürger:innen eine womöglich unterschiedliche Bedeutung beigemessen wird.21

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Methodisch hat sich die Kriminologie ebenfalls differenziert. In der beginnenden Moderne an den biologisch-naturwissenschaftlichen Disziplinen orientiert, war sie dem einheitswissenschaftlichen Positivismus verpflichtet, der gesellschaftliche Zusammenhänge nach denselben Regeln wie ein den Kausalgesetzen [27] der Physik unterworfenes Objekt der Natur durch quantitativen Vergleich mit anderen vermeintlich vorgegebenen Objekten zu bestimmen trachtet. Diese Traditionslinie wurde nie aufgegeben, aber durch alternative qualitative anthropologische und kulturwissenschaftliche Sichtweisen ergänzt.

II. Kriminalität

17 Verglichen mit dieser vielfältigen und uneinheitlichen Präsentation des Fachs scheint dessen Gegenstand, die Kriminalität, auf den ersten Blick leichter zugänglich. Wir alle haben dazu illustrierende Alltagsvorstellungen. Indes sollte eine seriöse Bestimmung mehr leisten – und stößt dabei auf erstaunliche Schwierigkeiten. Kriminalität ist nicht direkt anschaubar oder betastbar. Sie verbirgt sich im common sense des Alltagsverständnisses, das wir für eine wissenschaftliche Bestimmung aufbereiten und rekonstruieren müssen. Auf dem Umschlag eines Einführungsbuchs in die Humanmedizin kann das Thema durch die anatomische Zeichnung eines menschlichen Körpers vollständig versinnbildlicht werden. Aber wie sollte man Kriminalität korrekt illustrieren?

18 Das Wort „Kriminalität“ geht zurück auf das lateinische crimen (Anklage, Beschuldigung), eine Ableitung von cernere (auswählen, entscheiden). Es bedeutet ursprünglich etwas, das ausgewählt und beurteilt wird. Später erfolgte die semantische Einengung auf den förmlichen strafrechtlichen Vorwurf und die Handlungen, auf welche sich dieser Vorwurf bezieht. Etymologisch weist der Begriff Kriminalität zunächst auf eine strafrechtliche Attribution und sodann auf die in dieser Attribution als strafrechtlich relevant bestimmten Handlungen hin. „Kriminalität“ hat also einerseits mit dem Vorgang der Zuschreibung dieser Bezeichnung im strafrechtlichen Vorwurf zu tun und andererseits mit dem Verhalten, auf welches sich diese Zuschreibung bezieht. Dieses in der ursprünglichen Begriffsbedeutung angelegte ambivalente Verständnis der Kriminalität als Verhalten und als Zuschreibung wurde in der Kriminologie des ausgehenden 20. Jahrhunderts wiederentdeckt und führte zu einem Grundlagenkonflikt zwischen erklärenden traditionellen Richtungen und der seinerzeit neuen Perspektive des Labeling Approach (→ § 13 Rn 7 ff.).

19 Der Begriff „Kriminalität“ ist einerseits ein ordnender Sammelbegriff, andererseits ein zu emotionaler Distanzierung animierender Unterscheidungsbegriff. Als Sammelbegriff bestimmt er die Gesamtheit der vom Gesetz mit Strafe bedrohten Handlungen unter diesem Gesichtspunkt als artgleich. Als Unterscheidungsbegriff [28] ist Kriminalität negativ besetzt und markiert eine Sinndifferenz zu positiv besetzten Begriffen wie Ansehen, Erwünschtheit oder Privileg. Das Wissen über die ordnende und die orientierende Funktion von Kriminalität wird in einem vorurteilsbesetzten Verständnis erarbeitet und ist als ein generelles und implizites, jedoch bei Bedarf situativ explizierbares Hintergrundwissen den sozialen Akteur:innen präsent. Durch Aktivierung dieses Hintergrundwissens lassen sich wahrgenommene Handlungen in einen Vorrat an Unterscheidungen einordnen und Sinnzuschreibungen vornehmen.

20 Für Begriffe wie Kriminalität ist charakteristisch, dass ihr Bedeutungskern nicht fix bestimmt ist, sondern sich je nach seiner Rahmung in einem spezifischen kulturellen Kontext innerhalb des Begriffshofs verschiebt. Die relative Flexibilität der Bedeutung von Kriminalität wird dadurch gefördert, dass das Thema aus unterschiedlichen Blickwinkeln aufgegriffen wird. Aufklärerische Philosophie, Anthropologie, Soziale Arbeit, Psychologie, Soziologie, Ökonomie und Strafrechtswissenschaft gewinnen ihm jeweils eine andere Bedeutung ab, deren Relevanz begrenzt bleibt. Die Pluralität der wissenschaftlichen Anschauungen bewirkt, dass der Rahmen des Themas sich diesen entsprechend anders spannt. Für die einen geht es um biologische Dispositionen, für andere um das persönliche Umfeld, die Sozialstruktur oder um soziale Reaktionen auf Kriminalität.

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Die offizielle Zuschreibung von Kriminalität erfolgt durch das Strafrecht, dessen Inhalte je nach Zeitalter, Gesellschaft und Rechtskreis unterschiedlich sind. Was hier und heute bei Strafe verboten ist, kann früher und anderswo erlaubt (gewesen) sein und morgen erneut gestattet werden und umgekehrt. Die aufklärende Lehre des Sokrates (469-399 v. Chr.) – im antiken Griechenland als kriminelle Verführung der Jugend geahndet – erscheint uns heute als Tugend. Der strikte Befehlsgehorsam der Nazi-Schergen offenbart sich heute als Banalität des Bösen (Hannah Arendt, 1906-1975).

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Die Bestimmung von Kriminalität durch das Strafgesetz ist generell-abstrakt. Um diese Bestimmung konkretem Verhalten zuordnen zu können, muss das Strafgesetz von den Instanzen der Strafjustiz auf solches Verhalten angewandt werden. Die konkretisierende Rechtsanwendung ist mit den Vagheiten der Sprache behaftet. Entscheidungen könnten stets abweichend getroffen und anders begründet werden. Das staatliche Entscheidungsmonopol über die offizielle Bestimmung von Kriminalität hindert nicht daran, dass wir alle unsere eigenen Vorstellungen über Anwendungen des Strafrechts bilden, wobei diese unterschiedlich ausfallen mögen. Nicht nur der Verlauf der Strafzone ist verschieden [29] bestimmbar. Auch die Bedeutungen, welche den als verboten geltenden Handlungen zugewiesen werden, sind perspektivenhaft unterschiedlich: Was sich für die Polizei als beschädigende Eigentumsverletzung darstellt, verstehen Sprayer:innen als subversive Kunst. Dazu variieren die Auffassungen über die Sinnhaftigkeit und Angemessenheit des strafrechtlichen Verbots in Zeit und Raum sowie innerhalb einer Gesellschaft, wie Kontroversen um die Reichweite der Zulässigkeit von Sterbehilfe und Schwangerschaftsabbruch zeigen.

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Wie bei der Zuschreibung von Kriminalität ergibt sich eine verwirrende Vielfalt von Aspekten und jetzt auch kniffligen Fragen, wenn wir Kriminalität als konkretes Verhalten verstehen, auf welches sich diese Zuschreibung bezieht. Was eigentlich macht „kriminelles Verhalten“ aus, wenn nicht seine strafrechtliche Ausweisung als Rechtsbruch? Und was verbindet so disparate Handlungen wie Ladendiebstahl und Eifersuchtsmord außer dem oberflächlichen Band des strafrechtlichen Verbots? Ist die unentdeckt bleibende Straftat (→ § 17) oder das Delikt, von dessen Bestrafung man sich bei der Staatsanwaltschaft freikauft (§ 153a StPO), Kriminalität? Ist es überhaupt möglich, ein kriminelles Verhalten zu studieren, wo doch seine kennzeichnende Eigenschaft „kriminell“ nicht im Verhalten angelegt ist, sondern durch Zuschreibung erfolgt?

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Wenn wir unterstellen, dass der Verhaltensaspekt von Kriminalität als solcher studiert werden kann, bleibt zu klären, mit welcher Brennweite wir uns diesen vor Augen führen wollen. Mikroskopisch stellt sich etwa die Frage: Warum brechen bestimmte Personen das Recht und andere nicht? Mesoskopisch interessiert vor allem das Entscheidungsverhalten von Polizei und Justiz. Makroskopisch sind Einflüsse der Gesellschaft und ihrer Struktur auf Menge und Form der registrierten Kriminalität von Interesse. Innerhalb dieser Möglichkeiten ist abermals zu differenzieren, etwa danach, was genau an kriminellem Verhalten zu erklären sei: Die einzelne Verhaltenssequenz, die auf solches Verhalten bezogene charakterliche Anlage, die Rückfälligkeit, der kriminelle Lebensstil, der Einstieg, das Verbleiben oder der Ausstieg aus einer kriminellen Karriere?

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Die Bandbreite der Verständnismöglichkeiten von „Kriminalität“ ist nicht verwunderlich. Auch „Familie“ bedeutet für die katholische Kirche nicht dasselbe wie für die alleinerziehende Mutter, in Deutschland nicht dasselbe wie in der Türkei oder Kolumbien und in der Spätmoderne etwas anderes als im Mittelalter. Der Grund für die Bedeutungsvielfalt besteht darin, dass Kriminalität keine ontologische Realität besitzt: Ihr Wirklichkeitsbezug erschöpft sich in der Anwendung des Begriffs auf spezifische Handlungen, die damit als kriminell [30] erscheinen. Die Handlungen selbst sind nicht „in sich“ kriminell. Vielmehr werden in Zeiten und Gesellschaften unterschiedliche Anwendungen des Begriffs Kriminalität praktiziert, wobei teilweise durchaus Bagatellen erfasst und manches extrem sozialschädliche Verhalten ausgespart wird. Die Kriminalität ist, kurz gesagt, ein Produkt der Gesellschaft und drückt deren jeweilige kulturelle Einschätzung aus.

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Die Gesellschaft ist die Aushandlungsinstanz von Kriminalität. Die soziale Interaktion über Normalität und Normabweichung, Erwünschtes und Geächtetes, Toleranz und Repressionsbedürftigkeit bestimmt die Inhalte der Kriminalität. Diese ist nicht ohne ihren Charakter als Abweichung von einem gesellschaftlich definierten Normalitätsmaßstab definierbar, also selbst gesellschaftlich geprägt. Sie ist Teil des kollektiven Sinnsystems der Sozialwelt, in der Bedeutungen verliehen und Sinn erzeugt wird. Mehr noch: Kriminalität ist ein Spiegel der Gesellschaft. In der jeweiligen inhaltlichen Bestimmung der Kriminellen drückt sich pars pro toto die jeweilige Gesellschaft in ihrem Normalitätsverständnis und ihrer Toleranzbereitschaft aus. Der Charakter der Kriminalität als Werk und Spiegel der Gesellschaft ist die Basis, auf der die miteinander wetteifernden Grundverständnisse der Kriminologie entwickelt und eigene Positionen bezogen werden können.

III. Der Verbrechensbegriff

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Mit dem Begriff des „Verbrechens“ ist anders als im Strafrecht keine Abgrenzung zum Vergehen (§ 12 StGB) gewollt, sondern eine diffuse Sammelbezeichnung angesprochen, deren Inhalt klärungsbedürftig ist. Angesichts dessen bestehen verschiedene Verbrechensbegriffe, die je verschiedene klärende Antworten geben.22

28 Dem formellen oder legalistischen Verbrechensbegriff zufolge sind Verbrechen alle von gesetzlichen Normen mit Strafe bedrohten Verhaltensweisen. Was Verbrechen ist und was nicht, hängt damit stets von den jeweils in einer Gesellschaft geltenden Strafgesetzen ab. Diese Definition von Verbrechen ist klar und gut abgrenzbar. Andererseits kann sie nicht erfassen, dass sich die gesellschaftlichen Vorstellungen davon, was Kriminalität ist, im Laufe der Zeit wandeln. [31] Damit wird die Bestimmung des Forschungsgegenstandes von den Wertungen der Gesetzgebung abhängig.23

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Dagegen wenden sich die materiellen Verbrechensbegriffe mit dem Versuch, das Wesen des Verbrechens aus seiner strafrechtlichen Bestimmung zu lösen. Welche Kriterien stattdessen heranzuziehen sind, wird unterschiedlich beantwortet. Nach dem natürlichen (oder naturrechtlichen) Verbrechensbegriff lassen sich Handlungen, die epochen- und kulturübergreifend als verwerflich angesehen werden, von solchen unterscheiden, die erst durch gesetzliche Regelungen als solche definiert werden. Den delicta mala per se (in sich schlechte Taten) stehen die delicta mala quia prohibita (schlicht verbotene Taten) gegenüber. Dem Verbrechensbegriff sollen nur erstere unterfallen. Ein anderer Ansatz orientiert sich an den geschützten Rechtsgütern. Werden bestimmte Interessen von der Rechtsordnung als schützenswert anerkannt, wird demzufolge ihre Verletzung als Verbrechen eingeschätzt. Damit bleibt die normative und nationalstaatliche Bindung des formellen Verbrechensbegriffs bestehen, wird aber nicht auf das geltende Strafrecht und seine Tatbestände beschränkt.

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Der soziologische Verbrechensbegriff stellt demgegenüber auf die Sozialschädlichkeit des Verhaltens ab. Danach stellen alle abweichenden bzw. sozialschädlichen24 Verhaltensweisen ein Verbrechen dar – unabhängig davon, ob sie strafrechtlich verboten sind. Umgekehrt verneint dieser Verbrechensbegriff das Vorliegen eines Verbrechens bei Verhaltensweisen, die zwar rechtlich verboten sind, aber nur aus moralischen Erwägungen sanktioniert werden. Versteht man das Thema der Kriminologie als sozial abweichendes Verhalten, so definiert man Abweichungen zunächst unbemerkt aus einer Perspektive, welche die gesellschaftliche Mehrheit aus ihrer Sicht von Normalität einnimmt. Das Normalitätsverständnis der Mehrheit, ihre Vorverständnisse und ihre Auseinandersetzung mit Abweichungen verdienen deshalb Beachtung. Darum befasst sich die Kriminologie auch mit dem sozialen Problembewusstsein, dem Bild des Strafrechts in der öffentlichen Meinung, mit sozialen und vor allem mit staatlichen strafrechtlichen Reaktionen auf Kriminalität.

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Ein interaktionistischer Verbrechensbegriff definiert demgegenüber nur solches Verhalten als Verbrechen, das von den Strafverfolgungsinstanzen bzw. der Gesellschaft als solches behandelt wird. Er erfasst also insbesondere nicht das [32] Dunkelfeld.25 Ein gegen Strafnormen verstoßendes Verhalten wird zum sozialen Problem, wenn es als solches behandelt wird; erst durch seine Beurteilung als schädliches und strafbares Verhalten, seine tatsächliche Verfolgung und Ahndung wird es als Straftat sichtbar. Kriminalität als gesellschaftlich definiertes Objekt kann deshalb nur adäquat in der Hülle seiner sozialen Einschätzung wahrgenommen werden. Schon die Alltagsdiskussion nimmt Kriminalität in ihrer Bewertungshülle wahr, indem die Diskussion sich auf Politiker:innen und Medien beruft, vorgefasste Meinungen in Frage stellt oder stillschweigend bestätigt. Deshalb muss auch die Wissenschaft auf diese Bewertung Bezug nehmen, sie reflektieren, Vorverständnisse erörtern, Interessenbezüge aufdecken.

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Eine abschließende Definition des Verbrechens im kriminologischen Sinne ist nicht möglich. Die verschiedenen Ansätze ermöglichen vielmehr unterschiedliche Perspektiven auf die zu erfassenden Verhaltensweisen und sind je nach Kontext hierfür besser oder schlechter geeignet. Entscheidend ist es, sich die Variabilität des Begriffs vor Augen zu führen und stets darauf zu achten, auf welchen Verbrechensbegriff sich die jeweilige Debatte stützt.

IV. Strafe und Gesellschaft

Lektüreempfehlung: Brown, Michelle (2009): The culture of punishment. New York/London, 4-53.

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Die Kriminalität wie ein Objekt der natürlichen Welt darzustellen, ist eine manchmal zweckdienliche, aber immer verzerrende Abstraktion. Kriminalität ist nicht einfach eine empirisch beschreibbare Tatsache. Wie „Ängstlichkeit“ oder „Aggressivität“ ist Kriminalität eine Sinnzuweisung bezüglich des Verhaltens eines anderen von einem bestimmten Beurteilungsstandpunkt aus. Die Erforschung dieses Phänomens darf sich deshalb nicht in dem nackten Verhalten erschöpfen, das in der einen Nation als strafbar, in der anderen als straflos gelten mag. Der dem Verhalten zugewiesene Sinn des Strafbaren, die gesellschaftliche Aushandlung dieses Sinns, seine faktische Durchsetzung und der soziale Wandel der Anschauungen verdienen Beachtung. Erst das Strafgesetz und die Gesellschaft, welche jenes produziert, machen ein bestimmtes Verhalten zu einer Straftat. Kriminalität zu studieren verlangt deshalb die Mitberücksichtigung seiner Produktionsbedingungen innerhalb der pönalisierenden Gesellschaft. Wir werden deshalb neben theoretischen Verhaltenserklärungen [33] auf die kriminalpolitische Dimension der gesellschaftlichen Gemachtheit von Kriminalität eingehen. Dabei werden uns die Auswirkungen der Rahmenbedingungen der heutigen neoliberalen Konsumgesellschaft auf die Kriminalität und den sozialen Umgang damit besonders interessieren.

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Strafe ist Bedürfnisbeschneidung in einem auf Erfüllung menschlicher Bedürfnisse gepolten Umfeld. Die Ambivalenz zwischen Übelzufügung und ihrem schieren Gegenteil, zwischen alltäglicher Praxis in Gefängnissen und Segregation der Gefangenen vom Alltagsleben markiert die Spannweite des Sozialen und reicht in die Wurzeln menschlichen Zusammenlebens. Die Übelzufügung durch Strafe ist durch die Annahme der vorangehenden Übelzufügung der Täter:innen veranlasst; in dieser Kette gleichartiger Geschehnisse besteht die in ihrer scheinbaren Trivialität überzeugende Logik der Vergeltung. Diese wird in der westlichen Kultur durch die protestantische Ethik des fleißigen Arbeitens26, die Herrschaftstechnik einer blutleer rationalen Staatsbürokratie27 und die punitiven medial gestützten Rufe nach Strafhärte28 untermauert.

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Strafende Vergeltung antwortet auf ein gesellschaftlich relevantes Geschehen und ist zugleich als angeblich zweckfrei von solchem Geschehen abgelöst. Vergeltung bestätigt die Annahmen individueller Wahlfreiheit und Verantwortlichkeit. Das Konzept reduziert damit die Komplexität interaktiver menschlicher Beziehungen auf einseitige Ursächlichkeiten. Rechtfertigungsversuche der Strafe gründen darauf und setzen sich so zu dem zweckbezogenen Anliegen der Nützlichkeit und dem gesellschaftlichen Unterfangen der Integration in Widerspruch. Dem Anliegen wird in Rehabilitationsversuchen Rechnung getragen. Das Verständnis der Straftat als „Bruch“ des grundlegenden Gesellschaftsvertrags, der exzeptionelle Maßnahmen feindlicher Art29 erlaubt, stempelt die Bestraften zu „Anderen“, geradezu „ultimativen Fremden“, die sich aus der Gesellschaft ausgegrenzt haben und deren Ausgrenzung deshalb förmlich zu bestätigen ist. Die Arbeit an Gefangenen scheint damit in Widerspruch zu stehen. Sie gedeiht in einem Klima der „aggressiven Solidarität“, in welchem wohlmeinende Reaktionen auf sich selbst zugestandene Fehltritte und harte Sanktionen gegen als bedrohlich empfundene Gesellschaftsfeinde zugleich vorhanden sind (→ § 19 Rn 72 f.).

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[34] Individuelle Opfer von Straftaten stehen im Zentrum des öffentlichen Interesses, soweit ihr Leiden einfach nachvollziehbar ist und jedem bzw. jeder passieren könnte. Das dadurch erzeugte Mitgefühl konzentriert sich auf Ereignisse durch Gewalt und Übergriffe durch (vermeintlich) Fremde. Die oft sozialschädlicheren opferlosen oder fahrlässig verübten Delikte drohen dabei ähnlich wie das nichtkriminelle Opferwerden in den Hintergrund gedrängt zu werden. Ehrenwerte Bemühungen, das im Strafverfahren lange vernachlässigte Opfer mit mehr Rechten auszustatten, schränken Verteidigungsrechte ein und sind nur begrenzt möglich. Die organisierte Opferhilfe bezieht sich auf virtuelle Opfer und gipfelt oft in Forderungen nach härterer Bestrafung. Die Belange realer Opfer, ihre Respekt- und Entschädigungswünsche werden dabei vernachlässigt (→ § 24 Rn 25 ff.).

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Das soziale Leben in der Gesellschaft wird in der Auseinandersetzung mit zumeist medial vermittelten Straftaten und ihrer Behandelbarkeit gestaltet. Die rituellen Prozesse der Bestrafung, die Diskurse des Verurteilens und des Wiedereingliederns schaffen den gesellschaftlichen Rahmen, in welchem inklusive Praktiken für alle (anderen) möglich sind. Aus der exemplarischen Ausgrenzung der Einen wird der soziale Kontrakt der Zugehörigkeit der Anderen geschmiedet. Je brüchiger die Bande der Teilhabe ausfallen, desto entschiedener müssen die Praktiken der Ausgrenzung durch Strafe sein (→ § 21 Rn 30 ff.). Eine Werbekultur, die Konsumierende ästhetisch und symbolisch anspricht anstatt sie nüchtern zu informieren30, stützt dabei einen sensationslüsternen Umgang mit Verbrechen und Strafe, in der das medial zur Schau Gestellte von der Wirklichkeit nicht mehr unterscheidbar ist und das Allgemeinwissen sowie die Kriminalpolitik prägt.