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KARIN SEETHALER

Zum Einklang finden mit sich und den anderen

Das Zusammenspiel von Meditation und Beziehungen im Alltag

KARIN SEETHALER

Zum Einklang finden mit sich und den anderen

Das Zusammenspiel von Meditation und Beziehungen im Alltag

echter

Meinem Mann Wolfgang gewidmet, der mich ermutigt hat, dieses Buch zu schreiben.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.

1. Auflage 2017

© 2017 Echter Verlag GmbH, Würzburg

www.echter.de

Umschlag: Peter Hellmund (Foto: gettyone)

Satz: Hain-Team (www.hain-team.de)

eBook-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim (www.brocom.de)

ISBN

978-3-429-04375-9

978-3-429-04929-4 (PDF)

978-3-429-06349-8 (ePub)

Inhalt

Einleitung

I. Die Beziehung zu mir selbst

1. Meinem Körper Achtsamkeit schenken

1.1 Umgang mit Körperschmerzen

2. Meine Gedanken bemerken

2.1 Unterscheidung der Gedanken

2.2 Umgang mit negativen Gedanken

2.3 Umgang mit immer wiederkehrenden Gedanken

3. Meine Gefühle bemerken

3.1 Das Bewerten der Gefühle

3.2 Das Unterbrechen der Gefühle

3.3 Umgang mit negativen Gefühlen

3.3.1 Abwehrmechanismen erkennen

3.3.2 Mit Gott in Beziehung bleiben

4. Zu mir selbst stehen

4.1 Zu meinen Schwächen stehen

4.2 Zu meinen Stärken stehen

5. Die Versöhnung mit mir selbst

5.1 Ein Ja wagen zu mir selbst

5.2 Barmherzig sein zu mir selbst

II. Die Beziehung zu anderen

1. Die anderen wahrnehmen

1.1 Bei sich beginnen

1.2 Bei sich nicht enden

1.2.1 Ich kenne den anderen schon

1.2.2 Bewertungen und Urteile

1.2.3 Vorurteile

1.2.4 Vorstellungen

1.2.5 Sich vergleichen

1.3 Auf das Wahrgenommene antworten

2. Den Mitmenschen helfen

2.1 Achtsam sein für die Mitmenschen

2.2 Begegnung zulassen

2.3 Einander helfen

2.4 Absichtslos helfen durch das Präsent-Sein

2.5 Die Schwierigkeit, nicht helfen zu wollen

2.6 Die eigenen Grenzen beachten

3. Den anderen zuhören

3.1 Die Kunst des Zuhörens

3.2 Herausfordernde Situationen beim Zuhören

3.2.1 Wenn man über ein strittiges Thema diskutiert

3.2.2 Wenn man kritisiert wird

3.2.3 Wenn man unter Zeit- und Leistungsdruck steht

3.2.4 Wenn es dem anderen nicht gut geht

3.2.5 Wenn man ohne Konflikte leben will

4. Sich dem anderen mitteilen

4.1 Die Kunst, etwas Wirkliches über sich zu sagen

4.2 Die achtsame Kommunikation

5. Sich mit anderen versöhnen

5.1 Die Meditation als Orientierungshilfe für den Versöhnungsweg

5.1.1 Meditation und Versöhnung ist freiwillig

5.1.2 Meditation und Versöhnung, die in mir geschieht, ist unabhängig vom Verhalten anderer

5.1.3 Meditation und der Versöhnungsweg beginnt mit einer Absicht

5.1.4 In der Meditation und auf dem Versöhnungsweg begegne ich meinen schmerzhaften Gefühlen

5.1.5 Meditation und Versöhnung geschieht in der Gegenwart

5.2 Hindernisse auf dem Versöhnungsweg

5.2.1 Die Zeit heilt alle Wunden

5.2.2 Der Schuldige muss leiden

5.2.3 Das Gottesbild ist erschüttert

5.2.4 Versöhnung erscheint sinnlos

5.2.5 Versöhnung soll schnell gehen und der Schmerz ebenso

5.3 Hilfen für den Versöhnungsweg

5.3.1 Innehalten

5.3.2 Ein aufrichtiger Blick auf mich selbst

5.3.3 Eine persönliche Vision

5.3.4 Das Gespräch

5.3.5 Verstehen, was passiert ist und was es in mir bewirkt hat

5.3.6 Der Perspektivenwechsel

5.3.7 Beten für die, die mich verletzt haben

III. Die Meditation im Alltag verankern

Schlussbemerkung

Gebete

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Einleitung

Welches Gebot ist das erste von allen? Jesus antwortete: Das erste ist: „Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deinen Gedanken und all deiner Kraft. Als Zweites kommt hinzu: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Kein anderes Gebot ist größer als diese beiden.“

(Mk 12,28–31)

Seit über 20 Jahren leite ich Meditationskurse. An deren Ende beschäftigt die Teilnehmer oft die Frage: „Wie kann ich es schaffen, auch im Alltag regelmäßig zu meditieren?“ Dies ist ohne Zweifel eine wichtige Frage, auf die ich im letzten Kapitel eingehe, denn die Meditation ist eine Kraftquelle, die dem Alltag eine größere Lebendigkeit und Tiefe verleiht. Ein spirituell ausgerichtetes Leben ist jedoch nicht ausschließlich daran zu messen, ob man es schafft, regelmäßig zu meditieren oder nicht. Entscheidend ist nämlich nicht nur die Zeit der Meditation, so kostbar und wichtig sie auch ist. Ebenso wichtig ist das „Spiel auf dem Feld“, d. h., wie wir ganz konkret tagein, tagaus Beziehung leben. Es ist deshalb wichtig, Beziehung und Meditation nicht als zwei voneinander getrennte Lebensbereiche anzusehen, sondern sie in den gleichen Haltungen zu leben. Ist dies nicht der Fall, ergeht es einem so wie jemandem, dessen Kaffee bitter schmeckt, obwohl er Zucker hineingegeben hat. Zuerst kann er es gar nicht verstehen. Erst mit dem letzten, viel zu süßen Schluck wird ihm klar, dass er vergessen hat, umzurühren.

Dieses Buch, das aus der Praxis entstanden ist, zeigt auf, wie man ganz konkret „umrührt“, damit der „Zucker“ der Gegenwart Gottes in der Meditation und auch in der Beziehung zu uns selbst und zu anderen erfahrbar wird.

Nichts erfüllt und „versüßt“ unser Leben mehr als die Erfahrung der Liebe. Auch das wichtigste Gebot verweist uns auf die Liebe – auf die Liebe in der Beziehung zu Gott, zu den Mitmenschen und auf die Liebe zu sich selbst. Denn die Liebe ist erfahrbar, wenn der Mensch in Beziehung ist. Für Johannes vom Kreuz heißt „lieben“: in Beziehung treten, auf Zuwendung antworten, sich einlassen auf das jeweilige Gegenüber. Für ihn geht es auf dem Weg zu Gott darum, „himmelsfähig“ zu werden, sich in das Reich Gottes – und das heißt auch, sich in das Reich der Beziehungen – einzuleben. Alle geistlichen Übungen haben den Zweck, so beziehungsfähig zu werden wie Gott.1 Die geistlichen Übungen und die Beziehungen sind deshalb nicht voneinander zu trennen. Was man in der Meditation einübt, muss einerseits Auswirkungen auf die Beziehungen haben. Und genauso wirkt andererseits die Art und Weise, wie man Beziehungen lebt, in das Meditationsgeschehen hinein. Dieses Buch verknüpft die Meditationspraxis mit dem Beziehungsgeschehen und zeigt ihre jeweilige Wechselwirkung auf. Die Meditationspraxis wurde in Kursiv geschrieben, damit für den Leser klarer ersichtlich wird, wie die Haltungen der Meditation unter anderen Bedingungen ganz konkret in den Beziehungen weiter eingeübt werden können. Die mit einem Pfeil gekennzeichneten Fragen regen dazu an, die Beziehung zu sich und zu anderen zu reflektieren und das Gelesene für persönliche Beziehungserfahrungen zu erschließen. Die Impulse sind als Unterstützung für den Alltag gedacht.

Ich gehe zunächst auf die Beziehung zu uns selbst ein und dann auf die Beziehungen zu den anderen. Die Beziehung zu Gott ist dabei stets miteinbezogen, ja untrennbar mit beiden verbunden. Die Unterteilung ist deshalb fließend zu betrachten und soll vor allem einer klaren Übersicht dienen.

In der Meditationspraxis beziehe ich mich auf das Jesusgebet, jedoch auf keine spezifische Praxis. In der Literatur finden sich für das Jesusgebet unterschiedliche Namen: das Herzensgebet, das einfache Gebet, das Gebet der Sammlung, das immerwährende Gebet oder das kontemplative Gebet. In der Alltagssprache spricht man schlicht von Meditation. Wenn ich den Begriff Meditation verwende, meine ich damit das Jesusgebet. So vielen unterschiedlichen Namen für das Jesusgebet stehen ebenso viele Weisen gegenüber, wie das Jesusgebet praktiziert werden kann. Allen gemein ist, dass die Aufmerksamkeit des Betenden mit Hilfe einer konkreten Wahrnehmung auf die Gegenwart gerichtet ist. Die tiefe spirituelle Bedeutung für die Ausrichtung auf die Gegenwart gründet in der Selbstoffenbarung Gottes: „Ich bin der Ich-bin-da“ (Ex 3,14). Gott hat sich ganz klar als ein Gott der Gegenwart zu erkennen gegeben und ist konsequenterweise in der Gegenwart erfahrbar. Die Hinwendung zur Gegenwart ist immer eine Hinwendung zur Gegenwart Gottes, auch wenn man sich dessen nicht bewusst ist. Es gibt nicht eine Gegenwart mit und eine Gegenwart ohne Gott, wie es auch keine Gegenwart gibt, die als katholisch oder als evangelisch bezeichnet werden kann. Im Bemühen, nicht im Denken verhaftet zu bleiben, sondern im Wahrnehmen, treffen sich die meditativen Gebetsweisen des Christentums und anderer Religionen. Der Treffpunkt liegt auf der Ebene des Seins, im schlichten, wachen Gegenwärtig-Sein. Den Christen ist auf diesem Weg der Name Jesu gegeben. Die Verbundenheit Jesu zu Gott, seinem Vater, war so tief und innig, dass er sagen konnte: „Ich und der Vater sind eins“ (Joh 10,30). Der Meditierende richtet seine Aufmerksamkeit auf den Namen „Jesus Christus“. In meinem Buch „Die Kraft der Kontemplation“ habe ich beschrieben, dass es ebenso möglich ist, den Namen „Maria“ innerlich lauschend zu wiederholen.2 Der Betende wendet sich dabei dem mütterlichen Aspekt Gottes zu. Es ist ebenso möglich, innerlich schlicht ein „Ja“ zu wiederholen.3

Wenn ich mich auf die „Gegenwart“ beziehe, bedeutet dies, dass der Betende seine Aufmerksamkeit mittels einer konkreten Wahrnehmung an das Hier und Jetzt bindet. Franz Jalics empfiehlt, in der Meditation bewusst seine Hände in Verbindung mit dem Atem wahrzunehmen.4 In der orthodoxen Kirche richtet der Betende seine Aufmerksamkeit auf das Herzzentrum oder wiederholt im Gehen „Jesus Christus, erbarme Dich meiner“5. Mit der konkreten Wahrnehmung der Hände, des Herzzentrums oder des Atems verbindet der Betende den Namen „Jesus Christus“, den er innerlich beständig wiederholt. In dem Moment, in dem er in Kontakt mit dieser konkreten Wahrnehmung ist, ist der Betende mit seiner Aufmerksamkeit im Hier und Jetzt, d. h. mit der Gegenwart verbunden. In der Hinwendung zur Gegenwart und zum Namen Jesu geschieht das Konkrete: Es entstehen der Kontakt und die Verbindung zur Realität im Hier und Jetzt und zur erlösenden Kraft, die im Namen Jesu liegt (Apg 4,12). Da ich dieses zentrale, immer gleiche Geschehen aus verschiedenen Perspektiven beleuchte, lassen sich Wiederholungen nicht vermeiden. Sie machen vielmehr deutlich, wie vielschichtig und facettenreich das Konkrete ist. Nur das konkret Erfahrene führt uns näher zu Gott, zu den Mitmenschen und zu uns selbst – und nicht das Abstrakte. Geistreiche Gedanken geben eine Orientierung, wären jedoch wertlos im „Reich der Beziehungen“, würde nicht das Konkrete folgen.

Möge dieses Buch aufzeigen, wie die Meditationspraxis Orientierung sein kann für das alltägliche Beziehungsgeschehen und wie in beiden Lebensbereichen Gottes heilende Gegenwart erfahren werden kann.

I. Die Beziehung zu mir selbst

Der Mensch ist dazu berufen, in seinem Innersten zu leben […] Bei all dem durchschaut er sein Innerstes niemals ganz. Es ist ein Geheimnis Gottes, das Er allein entschleiern kann, so weit es ihm gefällt. Dennoch ist ihm sein Innerstes in die Hand gegeben; er kann in vollkommener Freiheit darüber verfügen, aber er hat auch die Pflicht, es als ein kostbares anvertrautes Gut zu bewahren. (Edith Stein) 6

Die Beziehung zu sich selbst ist eng verknüpft mit der Frage bzw. mit der Antwort auf die Frage: Wer bin ich? „Die großen Lehrmeister sagen uns, dass dies die wichtigste Frage der Welt sei.“7 Viele Heilige haben diese Frage bildhaft beantwortet: „Ich bin ein Tropfen des göttlichen Ozeans“ (Teresa von Ávila), ich bin eine „Flamme des göttlichen Feuers“ (Johannes vom Kreuz), ein „Funke Gottes“ (Meister Eckhart). Paulus nennt uns schlicht „Kinder Gottes“ (vgl. 1 Joh 3,1, Röm 8,16). Und da wir Kinder Gottes sind, ist Gott unser Vater. Diese Selbstverständlichkeit kommt im Vater-Unser zum Ausdruck, indem wir Gott schlicht als Vater ansprechen. Die göttliche Kindschaft ist unsere tiefste Identität. Gott hat uns mit großer Würde ausgestattet! Sie ist ein Schatz, den jeder ohne Ausnahme besitzt. Aus diesem Grund hat Jesus gesagt: „Ihr seid das Licht der Welt“ (Mt 5,14). Jesus sagte nicht, jene sind das Licht der Welt, die alles richtig machen. Und er sagte auch nicht, ihr werdet vielleicht eines Tages das Licht der Welt werden, wenn ihr euch nur richtig anstrengt. Das Licht der göttlichen Kindschaft ist bereits jetzt in uns gegenwärtig. Dieser Schatz kann jedoch in Vergessenheit geraten. Denn vieles wissen wir auf einer intellektuellen, abstrakten Ebene, vieles vergessen wir wieder auf dieser Ebene und nur weniges ist uns wirklich bewusst. So schlummert der Schatz der göttlichen Kindschaft als ‚kostbares, anvertrautes Gut‘ auf dem Grund unseres Daseins und wartet darauf, entdeckt und erfahren zu werden.

Unser Dasein ist von positiven Beziehungserfahrungen getragen, denn kein Säugling würde ohne positive Zuwendung überleben. Doch jeder weiß auch von schmerzhaften Erfahrungen zu berichten, von fehlender oder nicht genügender Liebe oder von einer Liebe, die an Bedingungen geknüpft war. Man erhielt zum Beispiel Zuwendung nicht immer dann, wenn man sie gebraucht hätte, oder bekam sie vielleicht erst dann, wenn man die Erwartungen anderer erfüllte oder gute Leistungen vorweisen konnte. So legen das Leben und auch wir selbst die unterschiedlichsten Schleier auf unseren innersten Schatz, wodurch der unmittelbare und direkte Zugang zu ihm erschwert wird. Doch was Gott in uns begonnen hat, das wird er auch vollenden (Phil 1,6; Phil 2,13); denn „unser einmaliger, unantastbarer Wesenskern ist frei und unablässig in uns am Werk“8. Unsere Aufgabe ist es, im Laufe unseres Lebens allem, was sich auf diesen Wesenskern gelegt hat, im Namen Jesu zu begegnen. Nach und nach werden so all die Schleier entfernt, die ihn verdecken. Dies ist ernüchternd und zugleich zutiefst befreiend und lässt uns immer tiefer erfahren: Wir sind Kinder Gottes und genau so, wie wir sind, bereits jetzt, zutiefst von Gott geliebt (Kol 3,12).

Im Nachfolgenden geht es um die Beziehung zu uns selbst. Sie ist die Grundlage, auf der unsere Beziehung zu Gott und zu den Mitmenschen aufbaut.

1. Meinem Körper Achtsamkeit schenken

Wir dürfen nicht vergessen, dass wir keine Engel sind, sondern einen Körper haben. Engel sein zu wollen, solange wir auf dieser Erde weilen – und so fest auf der Erde stehen wie ich – ist Unsinn. (Teresa von Ávila)

Die Meditation beginnt mit der bewussten Wahrnehmung meines Körpers, der von Anfang an Aufmerksamkeit einfordert. Wenn ich zum Beispiel einen Sitz einnehme, der nicht meiner körperlichen Konstitution entspricht, reagiert er mit Schmerz. Deshalb wähle ich den Sitz, der es mir ermöglicht, still und bewegungslos, mit einem entspannt aufrechten Oberkörper zu meditieren. Manchmal wird davon ausgegangen, dass für die Meditation ein Sitz auf einem Hocker, auf Decken oder auf einem Kissen besser wäre, als erhöht auf einem Stuhl zu sitzen – oder dass der Lotussitz die optimale Sitzposition sei und ein Erkennungsmerkmal für sogenannte spirituell Fortgeschrittene. Dies muss jedoch in keiner Weise der Fall sein. Denn nicht die äußere, sondern die innere Haltung ist wesentlich beim Meditieren. Die äußere Haltung ist insofern bedeutsam, als ich mit einem Oberkörper, der sich selbst aufrecht hält, die innere Aufmerksamkeit und eine wache Präsenz unterstütze. Mit einem aufgerichteten Oberkörper kann ich sowohl auf einem Hocker, einem Kissen, auf zusammengefalteten Decken oder einem Stuhl meditieren. Wenn ich auf einem Stuhl sitze, achte ich darauf, dass die Unter- und Oberschenkel in etwa einen rechten Winkel bilden. Vielleicht ist es hierfür notwendig, eine Decke unter die Füße zu legen. Die Augen sind geschlossen. Wenn es für mich stimmiger ist, sie geöffnet zu halten, ruht mein Blick auf einem Punkt am Boden ungefähr zwanzig Zentimeter vor mir.

Wenn ich stabil und aufrecht sitze, nehme ich zunächst den Kontakt zum Boden wahr, der mich trägt und hält. Nacheinander achte ich dann auf die einzelnen Körperteile, angefangen von den Fußsohlen bis hin zum Scheitel. Diese Körperwahrnehmungen führen mich bereits zur Wahrnehmung des Gegenwärtigen. Ich achte einige Augenblicke darauf, wie mein Atem kommt und geht. Dabei ist es unwichtig, ob ich regelmäßig oder unregelmäßig atme, ob mein Atem tief oder flach ist, denn so wie ich atme, darf ich atmen. Es wird nicht vorgegeben, wie ich etwas spüren oder wahrnehmen soll, was zum Beispiel beim autogenen Training der Fall ist. In der Meditation verzichte ich darauf, etwas zu suggerieren, und öffne mich stattdessen meiner Einzigartigkeit. Ich nehme wahr, was ich im Augenblick tatsächlich empfinde – und nicht, wie ich meine, dass ich empfinden sollte. Mit der konkreten Körperwahrnehmung komme ich in Kontakt und in Beziehung zu mir selbst. Diese spürbare Verbindung zu mir sind die Grundlage und der Beginn für meine Hinwendung zu Gott.

Es mag seltsam klingen, dass es heute eine der wichtigsten Aufgaben im Alltag ist, „mit sich selbst in Kontakt zu bleiben“. Man geht selbstverständlich davon aus, stets in Kontakt zu sich selbst zu sein. Schließlich ist man ja immer mit sich selbst und nimmt seinen Körper überallhin mit. Folgende Begegnung macht deutlich, dass dies nicht unbedingt der Fall sein muss.

Die Teilnehmenden von Straßenexerzitien bekamen die Aufgabe, sich auf eine besondere Erfahrung einzulassen. Sie sollten ohne Geld einen Tag lang in einer Großstadt verbringen. Ein Teilnehmer traf auf einen Drogenabhängigen, der ihn unvermittelt fragte: „Hast du mal ’n Euro?“ Er antwortete: „Nein, ich habe nichts, außer mich selbst!“ Darauf erwiderte der Drogenabhängige: „Dann hast du mehr als ich!“ Es leuchtet jedem ein, dass das zerstörerische Potenzial einer Droge einen Selbstverlust noch verstärkt. Jedoch – und dies wird unterschätzt – belasten auch ein permanenter Leistungsdruck und ein damit einhergehender Zeitdruck sowie eine Reizüberflutung, bei der man beständig mehr aufnimmt, als man verarbeiten kann, nicht nur zwischenmenschliche Beziehungen, sondern sie trennen den Menschen auch schleichend von einem spürbaren Kontakt zu sich selbst und von seiner Leiblichkeit. Dies äußert sich zum Beispiel in einer Vernachlässigung der körperlichen Bewegung, in ungesunder Ernährung, weil man sich weder die Zeit zum Kochen nimmt noch dafür, in Ruhe die Mahlzeit einzunehmen. Man vergisst, ausreichend zu trinken, und schläft zu wenig. Die verlorengegangene Sensibilität für den Körper begünstigt den Raubbau an der eigenen Gesundheit, was wiederum Rückwirkungen auf das seelische Befinden hat: Man vernachlässigt es ebenso. Die Aufmerksamkeit kann so sehr nach außen verlagert sein, dass man gar nicht mehr auf sein inneres Befinden achtet. Die fehlende Körperwahrnehmung führt, wenn sie lange andauert, schließlich zu einer Selbstentfremdung. Jesus konfrontierte die Jünger mit der Frage: „Was nützt es einem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, dabei aber sein Leben einbüßt“ (Mk 8, 36)? Der hl. Augustinus fragte zu Recht: „Wenn du selber von dir fern bist, wie kannst du dann Gott nahen?“ Diese Fragen sollten wachrütteln und bewirken, einen Stopp einzulegen und das beständige Machen und Tun zu unterbrechen.

Ich finde es sehr erstaunlich, dass die erste Frage, die Gott in der Bibel an einen Menschen stellte, lautet: „Wo bist du?“ (Gen 3,9). Für mich wäre es naheliegender, wenn Gott gefragt hätte: „Wo bin ich?“ Denn schließlich wusste Gott sehr wohl, wo sich Adam versteckt hatte, und es ist Aufgabe des Menschen, Gott in seinem Leben zu suchen. Doch Gott kann nicht gefunden werden, wenn der Mensch sich selbst verloren hat, da sich das Reich Gottes im Menschen selbst befindet (Lk 17,21). Wir sind von Gott bewohnt und sein Geist macht unseren Körper zum Tempel Gottes (1 Kor 3,16). Für diesen tragen wir Verantwortung. In den Medien und in der Literatur findet man heute zahlreiche Ratschläge dazu, wie wir gut für unseren Körper sorgen können und der Verantwortung für ihn gerecht werden. Ich möchte mich hier nur auf einige Fragen beschränken, die dazu anregen sollen, den Umgang mit den körperlichen Bedürfnissen zu reflektieren und achtsam für die Signale seines Körpers zu sein.

 Eine Empfehlung von Teresa von Ávila aus dem 15. Jahrhundert ist so aktuell wie eh und je. Sie lautet: „Tue deinem Leib etwas Gutes, damit deine Seele gerne darin wohnt.“ Was bedeutet diese Aussage für mich? Mit welchen konkreten Schritten trage ich bereits dazu bei bzw. kann ich dazu beitragen, dass meine Seele gerne in meinem Körper lebt? Wie oder wann setze ich diese Schritte in die Tat um?

 Schlafe ich ausreichend? Sorge ich für Bedingungen, die mir zu einem ruhigen Schlaf verhelfen? Dies bedeutet z. B., Medikamente nicht leichtfertig einzunehmen, bei Schlafstörungen zu versuchen, die Ursachen zu beheben; weder bis in die Nacht hinein zu arbeiten noch den Schlafrhythmus vom Fernseher bestimmen zu lassen; mir die Schlafdauer zuzugestehen, die mein Körper braucht.

 Nehme ich die Nahrung zu mir, die mir guttut? Nehme ich mir Zeit, in Ruhe zu essen? Achte ich darauf, dass ich genügend trinke?

 Sorge ich für ausreichende Bewegung?

 Lege ich Pausen im Alltag ein?

 Beachte ich die Signale meines Körpers oder übergehe ich sie?

 Nehme ich meine Gesundheitsvorsorge ernst?

 „Wo bin ich?“ Im Vielerlei des Alltags lasse ich immer wieder diese Frage in mir zu. Sie bewirkt ein kurzes Innehalten, das mir dazu verhilft, mein augenblickliches Befinden bewusst wahrzunehmen und mich zu Gott zu wenden.

Im Alltag gibt es allerdings nicht nur die Problematik, sich zu wenig um seinen Körper und um die eigene Gesundheit zu kümmern. Bedenklich ist auch ein Zuviel. Eine übermäßige Beschäftigung mit dem Körper und der Gesundheit kann so weit gehen, dass man andere Lebensbereiche aus dem Blick verliert. Für Fitnessprogramme nimmt man sich Zeit, was natürlich auch gut ist, doch man nimmt sich keine Zeit, innezuhalten. Man arbeitet und ist dann in der Freizeit so sehr mit seinem Körper und mit dessen Fitness beschäftigt, dass kaum mehr Zeit bleibt, sich für Gott und für die Mitmenschen zu öffnen. Bei manchen ist die eigene Gesundheit als höchstes Gut zum modernen Religionsersatz geworden, für den man bereit ist, viel Geld und Zeit zu opfern. Würde in der Meditation das körperliche Wohlbefinden im Zentrum stehen, nähme man überwiegend seinen Körper wahr mit dem Ziel, ihn bestmöglich zu entspannen. Für die göttliche Dimension des Lebens bliebe dann schlichtweg keine Zeit mehr.

 Wie viel Zeit widme ich meiner körperlichen Fitness und meiner Gesundheit? Kommen andere Bereiche meines Lebens dadurch zu kurz?

 Wie gehe ich damit um, wenn mein Körper mir Grenzen setzt?

 Vertraue ich mich in der Sorge um meine Gesundheit Gott an?

Wenn ich in der Meditation bemerke, dass die natürliche innere Körperspannung nachgelassen hat – dieses Nachlassen zeigt sich zum Beispiel durch einen runden Rücken oder einen nach vorne geneigten Kopf –, richte ich meinen Oberkörper und meinen Kopf wieder auf. Es kann auch geschehen, dass die innere Spannung zu stark ist, so dass ich zum Beispiel die Schultern unmerklich nach oben ziehe und mein Kopf sich etwas nach hinten neigt. Wenn ich dies bemerke, richte ich auch hier meinen Kopf wieder auf und löse die Schultern, indem ich sie etwas fallen lasse. Diese kleinen körperlichen Veränderungen wirken sich unmittelbar auf mein Befinden aus: Sobald ich wieder eine aufrechte Körperhaltung eingenommen habe, fühle ich mich präsenter.

 Achte ich im Alltag immer wieder auf eine aufrechte Körperhaltung?

 Gibt es „Hilfsmittel“, die mich darin unterstützen, in meinen täglichen Verrichtungen eine gute Körperhaltung zu pflegen (zum Beispiel ein Keilkissen, eine erhöhte Arbeitsfläche, bequemes Schuhwerk, gezielte Gymnastik oder regelmäßige Rückenschulung)?

1.1 Umgang mit Körperschmerzen

Ich glaube, dass Krankheiten Schlüssel sind, die uns gewisse Tore öffnen können. Ich glaube, dass es gewisse Tore gibt, die nur die Krankheit öffnen kann. Es gibt einen Gesundheitszustand, der es uns nicht erlaubt, alles zu verstehen; und vielleicht verschließt uns die Krankheit einige Wahrheiten; ebenso aber verschließt uns die Gesundheit andere oder führt uns davon weg, so dass wir uns nicht um sie kümmern. Ich habe unter denen, die sich einer unerschütterlichen Gesundheit erfreuen, noch keinen getroffen, der nicht auf irgendeinem Gebiet ein bisschen beschränkt gewesen wäre; wie Menschen, die nie eine Reise gemacht haben. […] Wer nie krank war, steht vielem Leiden ohne die Fähigkeit zu wahrem Mitgefühl gegenüber. (André Gide) 9

In der Meditation kann ich mit unterschiedlichsten körperlichen Problemen konfrontiert werden: Der Rücken tut weh, die Knie schmerzen, der Nacken ist verspannt. Dann ist es sehr wichtig, mir die Hilfsmittel zuzugestehen, die diese Schmerzen lindern könnten. Ich kann zum Beispiel den Rücken stabilisieren, indem ich zwischen Stuhllehne und dem unteren Lendenbereich eine zusammengefaltete Decke schiebe. Wenn ich meine Hände auf einem Kissen ablege, werden sie leicht erhöht, wodurch die Schultern entlastet werden. Die Arme ziehen den Oberkörper nicht mehr nach unten. Bei schwerwiegenden Rückenproblemen ist es möglich, sich komplett anzulehnen oder auch im Liegen zu meditieren. Dem Gesunden wird die liegende Position allerdings nicht empfohlen, da sie dazu verleitet, sanft einzuschlummern.

Körperschmerzen, die sich nur während der Meditation zeigen, können ein Hinweis dafür sein, dass ich eine falsche Sitzposition gewählt habe oder das bewegungslose Sitzen noch nicht gewöhnt bin. Wenn beides nicht zutrifft und trotzdem Körperschmerzen auftreten, die nach der Meditation jedoch abklingen, ist dies ein Hinweis dafür, dass es sich um einen „Heilungsschmerz“ gehandelt hat. Heilung und Wandlung vollziehen sich über den Körper.10 Grundsätzlich ist die innere Haltung wesentlich, die ich gegenüber dem Körperschmerz einnehme und auch gegenüber den Gefühlen, die dieser Körperschmerz in mir auslöst. Diese Empfindungen kommen zu den körperlichen Schmerzen hinzu, so dass ich einem doppelten Schmerz ausgesetzt bin. Generell gilt: Alles, was sich in mir zeigt, darf da sein – auch Gefühle von Angst, Widerstand und Ablehnung gegen den körperlichen Schmerz. Dies zieht viel Aufmerksamkeit von mir ab, was auch zutiefst menschlich ist. Auch Fragen nach dem „ Warum“ der Schmerzen tauchen vielleicht auf und nehmen mich aus der Gegenwart weg. So wie es mir möglich ist, lasse ich diesen Schmerz gewähren und wende mich dem Namen Jesu zu und damit der erlösenden Kraft seines Namens (Apg 4,12). Die Verbindung zu seinem Namen hilft mir, mit meinen menschlichen Begrenzungen der Gegenwart zugewandt zu bleiben. Ich unterdrücke und bekämpfe weder den körperlichen Schmerz noch meine Gefühle, die durch den Schmerz ausgelöst werden. Zwar habe ich einen Körper, ich lebe in ihm. Ich bin jedoch nicht nur Körper und ich bin auch nicht nur Gefühl. Mit der Hinwendung zum Namen Jesu wende ich mich dem Licht seiner Gegenwart zu, das auch in mir gegenwärtig ist. Es geschieht dabei eine Öffnung zu einer Dimension, die über meine körperliche Existenz hinausführt.

Zeigen sich im Alltag Körperschmerzen, welcher Art auch immer, werden wir natürlich versuchen, sie zu lindern und gegebenenfalls ärztlichen Rat einzuholen. Eine gesunde Selbstfürsorge drückt sich zudem darin aus, dass wir unserem Körper neben der ärztlichen Versorgung auch genügend Zeit und Ruhe zugestehen, um zu gesunden. Es gibt jedoch Schmerzen, die trotz guter medizinischer Versorgung und ausreichender Ruhe spürbar bleiben. Der Körper kann ein strenger, unerbittlicher Lehrmeister sein, der uns auf unsere menschliche Realität verweist, ob wir es wollen oder nicht: Wir sind verwundbar, zerbrechlich und endlich und bekommen dies immer wieder schmerzhaft zu spüren.

Eine Frau vertraute mir ihren Leidensweg an, der durch einen ständigen Schmerz an ihrem Fuß ausgelöst wurde. Man hatte schon alles versucht, um die Fehlstellung am Fuß zu beheben, die den Schmerz verursachte. Jedoch ohne Erfolg. Zurückgeblieben waren viele enttäuschte Hoffnungen. Es wurde ihr gesagt, dass man fortan nichts mehr für sie tun könne, was konsequenterweise für sie hieß, dauerhaft mit diesen Schmerzen und der eingeschränkten Bewegungsfreiheit zu leben. Diese Diagnose ließ sie verzweifeln. Alles gute Zureden, dieses Los jetzt anzunehmen, half nichts. Es verstärkte nur ihre Verzweiflung, da alles in ihr diesen Schmerz und die körperliche Einschränkung ablehnte. Auch wenn der Verstand befahl, diese Situation jetzt anzunehmen, waren ihre Gefühle der Ablehnung stärker. In der Meditation erkannte sie dann, dass die Verzweiflung noch viel schlimmer zu ertragen war als ihr Fußschmerz. Ein Ausweg tat sich für sie auf, als ihr bewusst wurde, dass sie sich selbst von ihrem Widerstand und ihrer Verzweiflung nicht befreien konnte und dass sie dies auch gar nicht musste. Diese Befreiung kann nur Gott in ihr bewirken. Der innere Gefühlsaufruhr konnte sich beruhigen, als sie anfing, darauf zu verzichten, sich für ihre Empfindungen zu rechtfertigen oder sich zu verurteilen, weil sie ihre Situation nicht anzunehmen vermochte. Nun bekämpfte sie ihre Empfindungen nicht mehr und versuchte auch nicht mehr, diese zu unterdrücken, sondern sie wandte sich stattdessen mit ihnen der Gegenwart und dem Namen Jesu zu. In dieser Hinwendung wurde sie ruhiger und von einem Hoffnungsschimmer neu berührt. Auch wenn es ihr noch schwer ums Herz zumute war, begann das Quälende allmählich zu schwinden. Im Alltag versuchte sie ebenso, nicht mehr gegen ihre Empfindungen und Körperschmerzen anzukämpfen. Dieser innere Kampf hatte ihr so viel Lebensenergie abgezogen, dass ihre Kraft im Alltag kaum mehr für das Nötigste gereicht hatte. Jetzt vollzog sie eine innere Wende hin zu den alltäglichen, konkreten Schritten, die ihr sehr wohl noch möglich waren und die dazu beitrugen, ihre Lebensqualität trotz der körperlichen Einschränkung zu erhöhen. Indem sie aktiv wurde und etwas unternahm, verringerte sich ihre Angst. Jeder dieser Schritte und jede Wende hin zu seiner Gegenwart führte sie wieder neu ins Leben hinein.