Czytaj książkę: «Der Weg der Kontemplation: einfach, aber nicht immer leicht»

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Karin Seethaler

Der Weg der Kontemplation

einfach, aber nicht immer leicht

Karin Seethaler

Der Weg der Kontemplation

einfach, aber nicht immer leicht


Der Umwelt zuliebe verzichten wir bei diesem Buch auf Folienverpackung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.

1. Auflage 2021

© 2021 Echter Verlag GmbH, Würzburg

www.echter.de

Umschlag: wunderlichundweigand.de

Umschlagbild: © Nikada/iStock.com

Innengestaltung: Crossmediabureau, Gerolzhofen

E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de

ISBN

978-3-429-05660-5

978-3-429-05172-3 (PDF)

978-3-429-06539-3 (ePub)

Inhalt

Statt einer Einleitung eine persönliche Erinnerung

Zu diesem Buch

Zu Franz Jalics

I.Die Wahrnehmung und die Gegenwart

II.Der Atem, die Hände und der Name Jesus Christus

III.Die Gedanken und die Gefühle

IV.Der Schmerz und das Leid

V.Die Zeit und der Leistungsdruck

VI.Die Sehnsucht, die Stille und das Loslassen

VII.Die Beziehung zu mir selbst und den anderen

VIII.Die Beziehung zu Gott

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Statt einer Einleitung eine persönliche Erinnerung

Ich steckte in einer Krise, in einer Lebenskrise, weil ich meinen Platz im Leben noch nicht gefunden hatte. Dort, wo ich war, wollte ich nicht sein. Und wo ich hinwollte, wusste ich nicht. Ich steckte aber auch in einer Glaubenskrise. Ich erinnere mich noch gut, wie ich meiner Freundin mein Herz ausschüttete: „Ich weiß gar nicht, warum ich eigentlich noch in die Kirche gehe. Nur weil man sonntags in die Kirche geht? Das macht doch keinen Sinn. Ich weiß nicht mal, wer Jesus Christus eigentlich für mich ist. Wenn ich aufs Kreuz schaue, kommen mir nur wirre Gedanken.“ Meine Freundin meinte nur knapp: „Geh doch mal zum Franz!“ Er sei ein Jesuit, der in die Stille führt. Wir könnten ihn gemeinsam besuchen und ich könnte dann mit ihm sprechen. So kam es auch.

Bei der ersten Begegnung mit Franz Jalics war ich sehr aufgeregt. Ich war orientierungslos und unsicher. Mit wachem, wohlwollendem Blick hörte er mir aufmerksam zu. Es beeindruckte mich, dass er mich als katholischer Priester nicht fragte, ob ich katholisch oder evangelisch sei. Es war damals für mich wichtig, dass dies in der Beziehung zu ihm keine Rolle spielte. Ich fühlte mich als Suchende wahrgenommen. Ich fasste Vertrauen und ließ mich auf einen mir völlig unbekannten inneren Weg ein: den Weg der Kontemplation. Ich muss gestehen, dass mir damals das Wort „Kontemplation“ nicht viel sagte. Mit meinem ersten 10-tägigen Exerzitienkurs sprang ich einfach ins kalte Wasser, ohne zu wissen, wie tief mich dieser Sprung in mein Innerstes führen würde. Die intensive Begegnung in der Stille mit mir selbst und die Erfahrung, durchgängig mit anderen Menschen im Schweigen zu sein, waren für mich absolutes Neuland. Es faszinierte mich, Menschen im Schweigen kennenzulernen. Nach zehn Tagen in Stille hatte ich den Eindruck, sie tatsächlich besser kennengelernt zu haben und ihnen nähergekommen zu sein, als wenn ich mit ihnen gesprochen hätte. In diesen intensiven Tagen des Schweigens bin ich jedoch vor allem mir selbst nähergekommen. Ich hatte einen Weg kennengelernt, der mir zeigte, wie ich mich zu Gott wenden konnte mit meiner Unruhe, meiner Ungeduld, meiner Unsicherheit und mit meiner Hoffnung und Sehnsucht. Von Franz Jalics wurde ich ermutigt, in der Stille nicht vor mir selbst wegzulaufen, obwohl mir oftmals danach zumute war.

Ich glaube, es ist nicht übertrieben, wenn ich sage, dass mich in meinem Leben nichts mehr gestärkt hat als das Vertrauen, das mir Franz Jalics damals als junge Frau entgegengebracht hat, und der kontemplative Weg, den er mir gezeigt hat. Obwohl ich ihm mein inneres Durcheinander offen mitteilte, traute er mir zu, dass ich in der Stille meinen Weg zu Gott finden würde. Sein Zutrauen und mein eigenes Bemühen, den Weg tatsächlich zu gehen, ließen langsam mein verlorenes Vertrauen zu mir selbst, den Mitmenschen und zu Gott wieder wachsen. Der kontemplative Weg wurde mir zum Kompass, der mir die Richtung zu meiner eigenen Mitte wies. Er gab mir die Orientierung, um mehr im Einklang mit mir und den anderen leben zu können. Viele der Begleitgespräche mit ihm beendete er oftmals mit dem schlichten Satz: „Gut, gehen wir weiter!“ Und ich bin weitergegangen. Inzwischen sind mehr als 30 Jahre vergangen. Diesen Weg, der mir Halt und Orientierung für mein Leben geworden ist, darf ich seit vielen Jahren in meinen Büchern und Exerzitienkursen (diesen Begriff verwende auch ich im Folgenden anstelle des sonst üblichen Begriffs „Meditationskurs“) weitergeben.

Zu diesem Buch

Im vorliegenden Buch habe ich richtungsweisende Sätze aus den Werken von Franz Jalics als Leitfaden zusammengetragen und sie in Themenbereiche untergliedert. Im Text selbst sind seine Aussagen kursiv geschrieben, um sie auch hier hervorzuheben. Mein Anliegen ist es, in Anlehnung an seinen langjährigen Erfahrungsschatz das kontemplative Gebet aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten. Diese Gebetsweise erschließt sich dem Menschen nicht über verstandesmäßige Erkenntnisse oder viel Wissen, sondern über persönliche Erfahrungen. Der Mensch kann dieses unmittelbare, innere Erleben weder bestimmen noch kann er darüber verfügen, was wann und in welcher Weise in ihm geschieht. In einer Haltung des Geschehen-Lassens lässt er seinen Willen, seinen Verstand und seine Gefühle zur Ruhe kommen und ist bereit, aufzunehmen, was ihm von der Gegenwart entgegenkommt, was er selbst gar nicht machen oder sich ausdenken kann.

Zur Veranschaulichung dieser konkreten Meditationspraxis dienen Beispiele aus meiner eigenen Erfahrung in der Begleitung vieler Menschen. Stets geht es um die Ausrichtung auf Gott, die in der beständigen Hinwendung zur Gegenwart und zum Namen Jesu geschieht. Wiederholungen waren für mich deshalb unvermeidbar. Sie sollen deutlich machen, wie dieses zentrale, immer gleiche Geschehen in den unterschiedlichsten inneren Erfahrungswelten zum Tragen kommt und ermöglicht, die innere Orientierung und die Verbindung zu Gott zu wahren.

Alle genannten Zitate von Franz Jalics beziehen sich auf das kontemplative Gebet, auch dann, wenn er von Meditation spricht. Er benützt das Wort Meditation im Sinne der Zeit, die dem kontemplativen Gebet gewidmet ist.1 In den letzten Jahrzehnten ist der Begriff Meditation ein Sammelbegriff geworden für verschiedene kontemplative Traditionen und für unterschiedlichste, meditative Techniken, die unterschiedliche Absichten und Ziele verfolgen können. Da es mir wichtig ist, die Sprache von heute aufzunehmen, benütze auch ich in diesem Buch den Begriff der Meditation und meine damit das kontemplative Gebet. Mein Anliegen ist es, durch eine einfache Sprache den Zugang zum kontemplativen Gebet zu erleichtern. In der Literatur wird diese Gebetsweise auch Herzensgebet, Jesusgebet, einfaches Gebet, Gebet der Sammlung, immerwährendes Gebet oder Gebet der Ruhe genannt.

Zu Franz Jalics

Franz Jalics wurde 1927 in Budapest geboren. Als 17-jähriger Offiziersanwärter machte er während einer Bombardierung Nürnbergs eine tiefe religiöse Erfahrung, die seinen weiteren Glaubensweg entscheidend prägte. „Es war ein ohnmächtiger und verzweifelter Kampf gegen den Tod. Als so in mir Wut und Angst tobten, überströmte mich plötzlich ein ganz großer Friede. Ich wusste: Gott ist da.“2 Dieses Erlebnis löste eine lebenslange Suche nach Gott aus und nach einem einfachen, unmittelbaren Gebetsweg zu ihm. Drei Jahre später trat er in Ungarn in das Noviziat der Jesuiten ein. Bereits nach einer Woche konnte er erkennen: „Was wir dort lernten, ging in die richtige Richtung; es war aber sehr viel komplizierter im Vergleich zu dem, was ich in Nürnberg gesehen habe.“3 Er war jedoch beruhigt, vom Novizenmeister zu hören, dass sich das Gebetsleben im Laufe des Ordenslebens stark vereinfachen würde und am Ende nur ein einfaches Schauen auf Gott oder auf Jesus Christus bliebe. Er erfuhr diesen Ausblick als innere Bestätigung für seinen eingeschlagenen Weg, denn er stimmte mit seiner Erfahrung und inneren Sehnsucht überein. Er absolvierte seine philosophischen und theologischen Studien in Deutschland, Belgien, Chile und Argentinien. Mit 32 Jahren wurde er zum Priester geweiht.

Einige Jahre später geriet er in eine längere Glaubenskrise. Sie war so stark, dass sie sein ganzes bisheriges Leben in Frage stellte. Eine einfache Begebenheit brachte die Wende: Ein älterer Mitbruder beschwerte sich darüber, dass er sich immer alleine um den Abwasch kümmern müsse und die anderen ihre Tassen einfach nur stehen ließen. „Ich hörte mir sein Geschimpfe an, kehrte an meine Arbeit zurück und hatte den Zwischenfall in wenigen Minuten vergessen. Nachmittags in einer Pause ging ich ein wenig spazieren. Auf einmal kam mir die Einsicht, dass dieser Mitbruder mit einem Problem an uns herangetreten war und dass ich sein Anliegen überhaupt nicht an mich herangelassen hatte … Mir wurde die Parallele zwischen diesem Ereignis und meiner Krise bewusst … Ich fragte mich, ob sich in meiner Beziehung zu Gott nicht etwas Ähnliches vollzog … Die Parallele war naheliegend und erschütterte mich tief … Ich bemühte mich ein Jahr lang, offener auf die Menschen einzugehen und sie mehr an mich heranzulassen. Nach einem Jahr war die Krise vorbei. Der Zusammenhang zwischen Menschen- und Gottesbeziehung war mir ein für allemal aufgegangen und wurde mir zum Leitfaden für mein ganzes Leben.“4

Dieser Leitfaden zieht sich wie ein roter Faden durch die kontemplativen Exerzitien, die er später entwickelte. Es ist ihm stets ein dringendes Anliegen geblieben, den kontemplativen Weg von Anfang an in der Realität der zwischenmenschlichen Beziehungen zu verankern. „Viele Leute werten ihre Gottesliebe höher als ihre Beziehungen zu den Menschen. Das ist eine klare Täuschung. Sie schätzen sich gläubiger ein, als sie sind.“5 Um dieser Täuschung nicht zu erliegen und sich in der Meditation nicht in eine Scheinwelt zu begeben, ist er nicht müde geworden, darauf hinzuweisen, dass die Beziehung, die man zu sich selbst hat, zu anderen und zu Gott deckungsgleich ist. „Wir haben nur ein Herz, mit dem wir Gott, die Menschen und uns selber lieben können. Diese Beziehungen sind untrennbar miteinander verknüpft.“6

Ermutigt durch die Erneuerungen des Zweiten Vatikanischen Konzils gründete Franz Jalics eine Gruppe mit vier Freuden, die das Ziel hatte, nach Erneuerung des Gebetslebens zu suchen. Sie forschten nach geistlichen Schätzen der Kirche, die in Vergessenheit geraten waren. Sie lebten kurzzeitig bei Benediktinern und Trappisten mit, befassten sich mit Yoga und Zen und ließen sich von dem Buch „Aufrichtige Erzählungen eines russischen Pilgers“7 inspirieren. Dieses Buch motivierte ihn, mit dem Namen Jesu zu meditieren.

1974 entschied er sich, zusammen mit einem Mitbruder in einem Armenviertel in der Nähe von Buenos Aires das Leben mit den Armen zu teilen. Als es 1976 in Argentinien zum Aufstand kam, wurde er zusammen mit seinem Mitbruder von paramilitärischen Gruppen verschleppt. Sie wurden fünf Monate gefangen gehalten und waren einer permanenten psychischen Folter ausgesetzt. Von 6000 Menschen, die von dieser Militärgruppe verschleppt wurden, überlebten nur er und sein Mitbruder. Dass Franz Jalics und sein Mitbruder menschlich an dieser Tortur nicht zerbrochen sind, verdankten sie der einfachen Wiederholung des Namens Jesu. „Tagein, tagaus, von morgens bis abends blieben wir bei diesem schlichten Gebet.“8 Nach der Befreiung war er nicht mehr der Gleiche: „Die Monate von Verschleppung, Gefangenschaft und Nähe des Todes, verbunden mit der ständigen Wiederholung des Namens Jesu, hatten in mir eine tiefgehende Läuterung bewirkt“ […] „Eine leichte Depression, die unterschwellig immer dagewesen war, wie auch eine gewisse Aggressivität waren vollständig verschwunden und kamen nie mehr zurück.“9 Später fand er seine inneren durchlebten Zustände während der Gefangenschaft in dem Sterbeprozess beschrieben, den Elisabeth Kübler- Ross in ihren Büchern schildert: Auflehnung, Rebellion, die Tatsache nicht wahrhaben wollen, Depression, bis man allmählich die Situation annimmt, wie sie ist. Dieser durchlebte Sterbeprozess befähigte ihn, das Schmerz- und Leidvolle bei den Menschen wahrzunehmen, ihnen auch in großen inneren Nöten beizustehen und dabei stets den Hoffnungsschimmer auf Gottes heilende Gegenwart im Blick zu behalten.

Nach der Befreiung lebte er zunächst ein Jahr in den USA und kam dann nach Deutschland. Von diesem Zeitpunkt an gab er nur noch Exerzitien. Es war für ihn wichtig, diese Gebetsweise, die ihn durch die qualvolle Zeit der Verschleppung hindurchgetragen hatte, weiterzugeben. 1984 eröffnete er das Exerzitienhaus „Gries“ und leitete es mit großem Einsatz bis ins hohe Alter. Das Konzept, das er für die Hinführung zum kontemplativen Gebet entwickelt hatte, ist heute als „Grieser Weg der Kontemplation“ bzw. als „Kontemplation nach Franz Jalics“ bekannt. Zu seiner Verbreitung hat auch sein Buch „Kontemplative Exerzitien – Eine Einführung in die kontemplative Lebenshaltung und in das Jesusgebet“ wesentlich beigetragen. Es zählt zu den Bestsellern mit 15 Übersetzungen.

Es ist Franz Jalics zu verdanken, dass das kontemplative Gebet, ein lang vergessener Schatz des Christentums, heute vielerorts weitergegeben wird. In einer verständlichen Sprache hat er diesen schlichten Meditationsweg für die Menschen von heute erschlossen und holt sie bei ihrem Bedürfnis nach Stille und Ruhe ab. Franz Jalics nahm bereits vor 30 Jahren wahr, wie sehr sich der moderne Mensch in seiner Beziehung zu Gott nach Ruhe, Einfachheit und Unmittelbarkeit sehnt. Sein kontemplativer Weg, der zu dieser Erfahrung führt, zeichnet sich durch eine große Klarheit und Einfachheit aus: „Gott ist einfach, und der Weg, den Jesus Christus zum Vater zeigte, ist ein überaus einfacher Weg. Er ist nicht immer ein leichter, aber doch ein sehr schlichter und unkomplizierter Pfad. Er besteht eben in der bescheidenen, demütigen und unablässigen Ausrichtung auf Gott. Es gibt nichts anderes zu sagen, als nur auf diese Ausrichtung aufmerksam zu machen.“10

Diese Ausrichtung hat Franz Jalics unermüdlich in seinen Büchern und in unzähligen Exerzitienkursen mit einer Prise Humor, einer strengen Klarheit und großer Hingabe aufgezeigt. Trotz der großen Anerkennung für seine klare Wegweisung, durch die er unendlich vielen Menschen den Zugang zum kontemplativen Gebet ermöglicht hat, ist er stets bescheiden geblieben.

Noch während ich dieses Buch schrieb, verstarb Franz Jalics im Alter von 93 Jahren in Budapest. Er hinterlässt eine große Lücke bei den Menschen, die ihm dankbar verbunden sind. Und er hinterlässt ein großes Lebenswerk, das weitergeht. Inzwischen gibt es eine internationale Vernetzung von Schülern und Schülerinnen, die „seinen“ kontemplativen Weg weitergeben. Manchmal habe ich den Eindruck, als wenn er allen, die in Treue diesen Weg gehen, mit seinem gütigen, ermutigenden Blick noch immer sagt: „Gut, gehen wir weiter!“

I.Die Wahrnehmung und die Gegenwart

Die große Lehrmeisterin der Kontemplation ist die Natur. 11

Die Natur lädt in ihrer Vielfalt und in ihrer Schönheit dazu ein, sie wahrzunehmen. Jedes Blatt, jeder Vogel und jede Blume weisen durch ihr Sein auf Gottes Gegenwart hin. Die ganze Natur ist ein Lobpreis an den Schöpfer. Sie birgt eine große in sich ruhende Kraft, deren göttlicher Ursprung nach Entfaltung strebt. Dieser göttliche Ursprung und die Sehnsucht nach Entfaltung sind auch dem Menschen zu eigen. So kann die Natur im Menschen zum Klingen bringen und wieder zugänglich machen, was in ihm selbst innewohnt. Dies geschieht jedoch nicht automatisch, da sich die Natur dem Menschen nicht als Lehrmeisterin der Kontemplation aufdrängt. Die Natur beschwert sich nicht, wenn man einen Spaziergang macht, ohne auf sie zu achten, weil man in seinen Gedanken versunken bleibt. Wer sich jedoch die Zeit nimmt, sie bewusst wahrzunehmen, den belehrt, belebt und beschenkt sie. Dieser Geschenkcharakter ist der Natur zu eigen, so wie das Leben selbst ein Geschenk ist. Zur Lehrmeisterin der Kontemplation kann die Natur dann werden, wenn man ihre Geschenke bewusst wahrnimmt. Dies geschieht über unsere fünf Sinne: hören, sehen, riechen, mit der Haut fühlen und mit der Zunge schmecken, was ist.

Für den Weg der Kontemplation ist wesentlich, anschließend einen weiteren Schritt zu beherzigen. Ich nehme die Natur mit meinen Sinnen nicht nur wahr, sondern vollziehe mit meiner Aufmerksamkeit eine Wende nach innen. Ich achte darauf, wie das, was ich wahrnehme, auf mich wirkt. „Spüre in dich hinein und lass diese Pflanze oder diesen Stein auf dich wirken. Nimm wahr, was von jener Blume zu dir fließt.“12 Durch die nach innen gelenkte Aufmerksamkeit komme ich in Verbindung mit meiner eigenen Natur. Ich sehe zum Beispiel ein kleines Gänseblümchen, das still am Wegrand wächst, und lasse es auf mich wirken. Ich achte dann darauf, was sich in mir bewegt. Es kann sein, dass diese kleine Blume eine Hoffnung in mir weckt, dass Gott auch mein Leben zum Erblühen bringt, und zwar genau dort, wo ich jetzt bin, und unabhängig davon, ob andere mich sehen oder gar bewundern oder nicht. Diese kleine Blume kann mich daran erinnern, dass es genügt, einfach da zu sein. So wie das Gänseblümchen keine Rose sein muss, muss auch ich nicht jemand anders sein. Diese kleine Blume kann mich ohne Worte tiefe Wahrheiten erkennen lassen. Sie können in mir zum Klingen kommen, wenn ich die Natur wahrnehme und auf mich wirken lasse.

Es wäre jedoch ein Irrtum anzunehmen, dass es bei der bewussten Wahrnehmung der Natur darum geht, ein Gefühl in sich zu erspüren, um es benennen zu können, oder darum, Bilder zu suchen, mit denen ich mich selbst erkläre. Mit diesem Verständnis käme ich subtil unter Druck. Es genügt, achtsam dafür zu sein, ob das Wahrgenommene eine Resonanz in mir auslöst und wenn ja, welche. Das Entscheidende sind nämlich nicht die Gefühle, sondern meine Fähigkeit, aufzunehmen, was ist. Auch wenn mich nichts spürbar berührt oder ich nicht in Worte fassen kann, was gerade in mir geschieht, bleibe ich, so wie es mir möglich ist, weiterhin achtsam im Hier und Jetzt.

Es kann sein, dass ich nach draußen gehe und es mir aufgrund einer inneren Unruhe unmöglich erscheint, stehenzubleiben, um die Natur auf mich wirken zu lassen. Wenn dem so ist, dann werde ich schneller gehen, weil dies meinem augenblicklichen Befinden entspricht. Irgendwann halte ich jedoch inne und nehme ausdrücklich meine Unruhe wahr. In diesem Moment bin ich bereits wieder in der Wahrnehmung. Ich kann mich mit allem, was ist, auch mit allem, was in mir ist, bewusst auf die Wahrnehmung einlassen. Der kontemplative Weg wäre alltagsuntauglich, wenn eine innere Ruhe seine Voraussetzung wäre. Wenn ich unruhig bin, so nehme ich dies wahr, doch dann achte ich darauf, was außer meiner Unruhe auch noch da ist. Ich vollziehe damit die Wende nach außen und verändere somit meine Blickrichtung: Ich lenke meine Aufmerksamkeit von meiner Unruhe hin zur Natur, einer Realität, die auch noch da ist.

Die Wende nach außen, zu dem, was auch noch da ist, gilt es auch zu vollziehen, wenn ich bemerke, dass ich abgelenkt bin, weil mich meine Gedanken in die Vergangenheit oder in die Zukunft führen. Immer wenn mir dies bewusst ist, habe ich die Möglichkeit, meine Aufmerksamkeit wieder zur Natur zu lenken. Ich öffne mich ihr wieder, um mich von ihrer Schönheit, Vielfalt und Weisheit beschenken zu lassen.

Diese Geschenke der Natur empfing eine Frau in einer schwierigen Lebensetappe. Sie war nach einigen Jahrzehnten im Ausland nach Europa zurückgekehrt und hatte große Schwierigkeiten, sich wieder einzuleben. Sie fühlte sich fremd und heimatlos. Auf dem Spaziergang machte sich in ihr das Gefühl der Heimatlosigkeit bemerkbar. Sie spürte es als eine unruhige Traurigkeit und innere Leere. Sie blieb mit ihrer Aufmerksamkeit jedoch weder bei ihren Gefühlen noch bei ihren Gedanken hängen, sondern lenkte sie immer wieder bewusst auf die Natur. Für diese Wende verhalf ihr die kleine Frage: Was ist da noch? Was ist außer meinen Gedanken auch noch da? Sie entdeckte einen orange blühenden Strauch, den sie noch nie gesehen hatte. Es war kein einheimisches Gewächs und sie dachte sich, dass er eigentlich nicht hierhergehörte. Dieser Strauch hatte jedoch trotzdem seinen Platz gefunden und blühte jetzt wunderschön, auch wenn er fremd bleiben würde. Sie blieb lange vor dem Strauch stehen und spürte, wie sie immer ruhiger wurde. Sie konnte einwilligen, dass vielleicht auch sie hier immer fremd bleiben würde. Die Natur hatte ihr jedoch gezeigt, dass auch sie an diesem Platz, wo sie jetzt lebte, ihr Leben zum Blühen bringen konnte.

Gott ist da, aber wir nehmen ihn nicht wahr! 13

Die Aussage, dass Gott da ist, gründet in der Selbstoffenbarung Gottes „Ich bin der ‚Ich-bin-da‘“ (Ex 3,14). Gott sagt nicht: Ich bin der, der da sein wird, wenn du es geschafft hast, so und so zu sein. Er sagt auch nicht: Ich bin der, der da war damals, als bei dir noch alles in Ordnung war. Gott hat sich klar als ein Gott der Gegenwart zu erkennen gegeben und ist konsequenterweise in der Gegenwart wahrnehmbar. Da unsere Wahrnehmungsfähigkeit jedoch begrenzt ist, nehmen wir stets nur einen Teil der Wirklichkeit wahr.

Die Folgen dieser eingeschränkten Wahrnehmung veranschaulicht eine Parabel von fünf Blinden, die die Aufgabe bekommen haben, einen Elefanten zu beschreiben. Der erste Blinde fasst das Bein des Elefanten an und ist sich sicher: Ein Elefant sieht aus wie eine Säule. Der zweite Blinde, der den Schwanz des Elefanten untersucht, sagt: Ein Elefant sieht aus wie ein Seil. Der dritte Blinde widerspricht sofort: Ein Elefant sieht aus wie eine Schlange. Er hatte den Rüssel des Elefanten angefasst. Der vierte Blinde schüttelt den Kopf und sagt: Ein Elefant ist mit einer Wand vergleichbar. Dieser Mann hatte den Rumpf des Tieres berührt. Der fünfte Blinde, der mit seinen Händen am Stoßzahn des Elefanten entlangstreift, sagt: Ein Elefant ist wie ein Speer. Jeder hatte die Wirklichkeit von seiner Perspektive aus wahrgenommen und jeweils diesen Teil des Elefanten beschrieben. Keiner hatte jedoch die gesamte Wirklichkeit erfasst. So können auch wir die Allgegenwart Gottes in ihrer ganzen Dimension nicht erfassen, sondern nehmen aus unserer Perspektive immer wieder nur Spuren seiner Gegenwart wahr.

Unser Wahrnehmungsbereich wird auch immer dann eingeschränkt, wenn wir uns auf eine Aufgabe fokussieren und versuchen, etwas Bestimmtes zu erreichen. Es kann geschehen, dass wir anderes in einem so großen Maße ausblenden, dass wir selbst eine als Gorilla verkleidete Person nicht wahrnehmen, die auf dem Bildschirm erscheint, sich in voller Größe in die Mitte stellt, mit den Fäusten auf die Brust trommelt und dann gemächlich weiterzieht. Das Experiment der beiden amerikanischen Psychologen Christopher Chabris und Daniel Simons hat jedoch genau dies bewiesen. 50 % der Testpersonen konzentrierten sich derart auf eine ihnen gestellte Aufgabe, dass sie den Gorilla tatsächlich nicht wahrgenommen haben, obwohl sie ununterbrochen konzentriert auf den Bildschirm geschaut hatten. Das Experiment mit dem Video können sie selbst mit Freunden durchführen.14 Wer jedoch im Vorfeld von dem Gorilla gehört hat oder das Video anschaut, ohne dabei eine Aufgabe zu erfüllen, kann nicht glauben, dass irgendjemand den Gorilla nicht sofort sieht.

Da wir in der Meditation keine Aufgabe zu erledigen haben und es auch nicht darum geht, etwas Bestimmtes wahrzunehmen, kann sich unser Wahrnehmungsbereich weiten.

Dies geschieht auch dann, wenn wir bereit sind, unsere Wahrnehmung läutern zu lassen. Läuterung bedeutet, etwas von Schlacken oder Verunreinigungen zu befreien. Unsere Wahrnehmung ist zwar nicht verunreinigt, jedoch aufgrund vielfältiger freudvoller und schmerzhafter Erfahrungen eingefärbt. Diese Einfärbungen nehmen die Farbe an von unseren Überzeugungen, Einstellungen, Erwartungen, Ansichten, von unserer körperlichen, emotionalen und geistigen Verfassung, unseren bisherigen Erfahrungen und von den uns vertrauten gesellschaftlichen Normen. Unser Blick wird durch diese Einfärbungen getrübt. Wir sehen die Wirklichkeit nicht in ihrer „heiligen Unabhängigkeit“ (Dag Hammarskjöld). Diese Einfärbungen bewirken eine selektive Blindheit, bei der wir zwar sehen, jedoch nicht sehen, was wir alles nicht sehen.

Gottes Anwesenheit können wir nicht sehen. Da er jedoch in uns gegenwärtig ist, spricht Paulus von uns als Tempel Gottes (1 Kor 3,16). Dieser Tempel beheimatet unsere menschliche Realität mit all ihren Einfärbungen und Gottes Gegenwart. Beides gehört unauflöslich zu uns. Um in der Meditation Spuren seiner Gegenwart wahrnehmen zu können, darf die Bereitschaft nicht fehlen, sich selbst wahrnehmen zu wollen.

Die selektive Blindheit bleibt bestehen, wenn der Mensch Realitäten nicht wahrnehmen will beziehungsweise nicht wahrhaben will. Dies habe ich in meiner Arbeit als Sozialpädagogin erfahren. Hier war es einmal meine Aufgabe, Langzeitarbeitslosen zu helfen, sich wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Dies war kein leichtes Unterfangen, da manche von ihnen Alkoholiker waren, jedoch meist nicht bereit, diese Tatsache in den Blick zu nehmen. Sie wurde verharmlost und zumeist sofort verleugnet, sogar dann, wenn es ihnen durch einen Alkoholtest vor Augen geführt werden konnte, dass sie zu viel getrunken hatten. Wenn sich das Röhrchen grün verfärbte, was eindeutig ihren Alkoholkonsum aufdeckte, war das Röhrchen in ihren Augen dann aber nicht grün, sondern gelb. Ein gelbes Röhrchen belegte einen nüchternen Zustand. Ich kann mich noch gut erinnern, als ich das erste Mal den Alkoholtest durchführte und sich das Röhrchen grün verfärbte. Der Mann behauptete jedoch so vehement, dass das Röhrchen eindeutig gelb sei, dass er mich tatsächlich verunsicherte und ich eine Kollegin fragte, welche Farbe sie sehe. In dieser Situation wurde mir deutlich vor Augen geführt, wie das Blickfeld eingeschränkt bleibt und damit auch jegliche Entwicklung verhindert wird, wenn man unangenehme Tatsachen nicht sehen will.

Dies trifft ebenso für unseren Weg zu Gott zu. Wer nicht bereit ist, sich selbst wahrzunehmen, wie er ist, wird nur schwer die Spuren Gottes in sich und in seinem Leben wahrnehmen können. Evagrius Ponticus, ein Vertreter des frühen Mönchtums, hat bereits im 4. Jahrhundert folgende Empfehlung gegeben: „Willst du Gott erkennen, so lerne zunächst dich selbst kennen.“ Dieses Kennenlernen geschieht, indem wir in der Meditation unsere Aufmerksamkeit nach innen lenken und so in spürbaren Kontakt mit uns selbst kommen. Die Achtsamkeit auf das innere Erleben schärft und weitet die Selbstwahrnehmung. Wir werden im wahrsten Sinne des Wortes „selbst bewusster“. Denn „Wahrnehmen bedeutet bewusst werden“15. Es ist ein intensiver Prozess der Selbstbegegnung, der sich durch die Bereitschaft auszeichnet, sich selbst wahrnehmen zu wollen. Die Hoffnung, dass es weit mehr zu entdecken gilt, als wir im Augenblick wahrnehmen können, und die Sehnsucht nach einem vertieften Leben schenken uns die Kraft zum Weitergehen, ungeachtet der Einfärbungen, die unsere Sicht immer wieder einengen und verdunkeln. Von diesen allzu menschlichen Erfahrungen ließ sich Paulus nicht durcheinanderbringen. Er ermutigt dazu, unbeirrt den Weg zu Gott weiterzugehen, wenn er sagt: „Jetzt schauen wir in einen Spiegel und sehen nur rätselhafte Umrisse, dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich unvollkommen, dann aber werde ich durch und durch erkennen, so wie ich auch durch und durch erkannt worden bin“ (1 Kor 13,12).

Um uns auf die Gnade der Kontemplation vorzubereiten, müssen wir lernen, wahrzunehmen. 16

Da Gott gegenwärtig ist, wir ihn aber nicht wahrnehmen, ist es eine logische Konsequenz, das Wahrnehmen zu lernen. Franz Jalics bezeichnet das kontemplative Gebet sogar als eine Schule der Wahrnehmung. Alles, was wir üblicherweise mit Schule verbinden, ist hier jedoch nicht von Belang. In dieser Schule wird man nämlich nicht beurteilt, man benützt keine Bücher, man muss keine Prüfungen bestehen, man hat keine Ferien, und man macht auch nicht irgendwann einen Abschluss. Dies ist für uns ungewohnt, da zum Beispiel Bücher für uns selbstverständlich zu einer Schule dazugehören. In der Schule der Wahrnehmung geht es aber um die unmittelbare Begegnung: mit uns selbst und mit der Gegenwart Gottes. Martin Buber sagt: „Alles wirkliche Leben ist Begegnung. Die Beziehung zum Du ist unmittelbar … Alles Mittel ist Hindernis. Nur wo alles Mittel zerfallen ist, geschieht die Begegnung.“17

Ein Beispiel von Franz Jalics soll dies veranschaulichen: Ein Mann liest gerade einen Brief von seinem Freund, als es klingelt und sein Freund vor der Tür steht. In diesem Moment verliert der Brief an Bedeutung. Er wird den Brief jetzt nicht mehr lesen, sondern ihn beiseitelegen und sich darüber freuen, seinem Freund unmittelbar zu begegnen. Das Gespräch ist nun das Mittel, das sie näher zueinanderführt. Es kann der Zeitpunkt kommen, in dem der Blickkontakt als Mittel der Kommunikation ausreicht. „Irgendwann wird sogar der Blick zu viel sein. Das stille Beisammensein genügt. Die Herzen weiten sich, und wir befinden uns noch näher beieinander als mit den vorher genannten Mitteln.“18