Dyskalkulie

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UTB 3066

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Prof. Dr. Karin Landerl lehrt Entwicklungspsychologie an der Universität Graz.

Ass.-Prof. Dr. Stephan Vogel ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Arbeitsbereich Begabungsforschung an der Universität Graz.

Prof. Dr. Liane Kaufmann ist Neuropsychologin am Landeskrankenhaus Hall in Tirol.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

UTB-Band-Nr.: 3066

ISBN 978-3-8252-4809-3 (Print)

ISBN 978-3-8385-4809-8 (PDF)

ISBN 978-3-8463-4809-3 (EPUB)

© 2017 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Printed in Germany

Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

Satz: FELSBERG Satz & Layout, Göttingen

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: info@reinhardt-verlag.de

Inhalt

Hinweise zur Benutzung dieses Lehrbuches

Vorwort zur 3. Auflage

Vorwort zur 1. Auflage

1 Zahlenverarbeitung und Rechnen bei Erwachsenen

1.1 Einleitung

1.2 Erste Fallberichte von Patienten mit erworbenen Rechenstörungen

1.3 Akalkulie aus der Sicht der klinischen Neuropsychologie und der kognitiven (Neuro-)Psychologie

1.4 Neurokognitive Modelle der numerischen Kognition bei Erwachsenen

1.5 Zentrale Komponenten der arithmetischen Verarbeitung

1.5.1 Basisnumerische Verarbeitung

1.5.2 Rechenfertigkeiten

1.6 Neuronale Grundlagen der Zahlenverarbeitung und des Rechnens

2 Allgemeine Entwicklung der Zahlenverarbeitung und der Rechenleistungen

2.1 Zahlenverständnis bei Tieren

2.2 Präverbales Verständnis von Numerositäten bei Babys

2.3 Theoretische Modelle der präverbalen Verarbeitung von Numerositäten

2.3.1 Object Files

2.3.2 Vom Akkumulator-Modell zum Approximativen Zahlensystem

2.4 Die Entwicklung des Zählens

2.5 Symbolische Repräsentation von Numerositäten: Zahlwörter, arabische Zahlen und Transkodieren

2.6 Erwerb der arithmetischen Kompetenzen

2.7 Fingerrechnen

2.8 Der Übergang vom zählenden Rechnen zum Abruf von arithmetischen Fakten

2.9 Auswahl der besten Rechenstrategie

2.10 Intuitive und kulturelle Mathematik

2.11 Geschlechtsunterschiede

2.12 Leistungsmotivation, Selbstbild, Emotion und Rechenleistung

2.13 Modelle der Entwicklung der Rechenleistung

2.13.1 Ein Vier-Stufen-Entwicklungsmodell der Zahlenverarbeitung nach von Aster

2.13.2 Entwicklungsmodell der Zahl – Größenverknüpfung nach Krajewski

2.13.3 Modell der mathematischen Kompetenzentwicklung nach Fritz und Ricken

3 Dyskalkulie

3.1 Definition

3.2 Epidemiologie

3.3 Prognose

3.4 Neurobiologische Befunde

3.5 Typische Symptomatik

3.6 Kognitive Defizite bei Dyskalkulie

3.6.1 Defizite in der kognitiven Repräsentation von Numerositäten

3.6.2 Defizite im Langzeitgedächtnis

3.6.3 Defizite im verbalen Arbeitsgedächtnis

3.6.4 Defizite in den exekutiven Funktionen

3.6.5 Defizite in der visuell-räumlichen Verarbeitung

3.6.6 Defizite in der motorischen Verarbeitung

3.7 Komorbiditäten mit anderen Störungen

3.8 Die Frage der Subtypen

3.9 Dyskalkulie – ein Kausalmodell

4 Diagnostik

4.1 Schulleistungstests

4.2 Tests, die auf neurokognitiven Theorien der Zahlenverarbeitung und des Rechnens basieren

4.3 Synopsis der vorgestellten Verfahren

5 Instruktion, Förderung und Intervention

5.1 Überlegungen zur Mathematikdidaktik

5.1.1 Instruktionsmethoden

5.1.2 Optimierung des Lernprozesses – Scaffolding

5.1.3 Anschauungshilfen

5.1.4 Pragmatische Aspekte der Mathematikdidaktik

 

5.2 Frühförderprogramme

5.3 Förderung und Intervention bei Dyskalkulie

5.3.1 Allgemeine Überlegungen zur Interventionsplanung

5.3.2 Differenzielle Interventionseffekte

5.3.3 Dyskalkulie-Interventionsprogramme

5.3.4 Besser rechnen durch neuronale Stimulation – derzeit noch Zukunftsmusik

5.4 Synopsis Intervention

Glossar

Literatur

Sachregister

Hinweise zur Benutzung dieses Lehrbuches

Zur schnelleren Orientierung werden in den Randspalten Piktogramme benutzt, die folgende Bedeutung haben:


Literaturempfehlung
Begriffserklärung, Definition
Pro und Contra, Kritik
Beispiel
Forschungen, Studien
Fragen zur Wiederholung am Ende des Kapitels

Vorwort zur 3. Auflage

Im Vorwort der ersten Auflage dieses Buches, die im Jahr 2008 erschien, wurde Dyskalkulie als eine von Forschung und Praxis vernachlässigte Lernstörung präsentiert. Ein knappes Jahrzehnt später ist die Charakterisierung der Dyskalkulie als vernachlässigte Lernstörung nach wie vor nicht ganz unrichtig, aber der Rückstand in unserem Wissen um dieses Störungsbild, etwa im Vergleich zum Kenntnisstand zu Beeinträchtigungen des Schriftspracherwerbs (Legasthenie), ist sehr viel kleiner geworden, was eine umfassende Überarbeitung dieses Buches erforderlich machte.

In dieser Neuauflage wurden in den Kapiteln 2 und 3 die zahlreichen Forschungsbefunde zu typischer und atypischer Entwicklung der Zahlenverarbeitung und der Rechenleistungen eingearbeitet, die im Lauf der letzten 10 Jahre erzielt wurden. Insbesondere sind hier Befunde zu nennen, die die hohe Relevanz des Verständnisses für symbolische Zahlenrepräsentationen (also Zahlwörter und arabische Zahlen) als Grundlage der Entwicklung der Rechenleistungen verdeutlichen. Kinder mit Dyskalkulie zeigen persistierende Probleme, analoge Zahlenmengen effizient mit den korrespondierenden symbolischen Zahlencodes in Verbindung zu setzen. Auch neue Entwicklungen in unserem Verständnis der neuronalen Spezialisierung für Zahlenverarbeitung und Rechenleistungen werden dargestellt.

Auch Kapitel 4 und 5 zu Diagnostik und Intervention wurden wesentlich erweitert. In den Kanon der Verfahren zur Diagnose von Rechenleistungen und Rechenstörungen konnte eine Reihe von interessanten, konzeptuell und methodisch fundierten Neuerscheinungen aufgenommen werden. Für Diagnose und Intervention ist evidenzbasiertes Vorgehen von wachsender Bedeutung. Darunter verstehen wir theoretisch fundierte Methoden, deren Wirksamkeit durch wissenschaftlich kontrollierte und unabhängige Studien empirisch belegt ist. Hier ist insbesondere auf die von der deutschen Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften konsensual entwickelten evidenzbasierten Richtlinien für Best Practice der Diagnose und Behandlung von Rechenstörungen hinzuweisen (vgl. Kapitel 3.1), welche für die Praxis eine wichtige Orientierung darstellen können. Im Bereich der Intervention erweisen sich computerbasierte Trainingsprogramme zu Zahlenverarbeitung und Rechnen als eine wesentliche Unterstützung herkömmlicher psychologisch-pädagogischer Zugänge.

Weiterhin bleibt aber viel zu tun für Forschung und Praxis. Nach wie vor ist wenig bekannt über genetische Grundlagen der Dyskalkulie. Auch wenn unser Verständnis von der typischen und atypischen Gehirnentwicklung aufgrund beständiger methodischer Weiterentwicklungen rasche Fortschritte macht, ist unser Wissen über Gehirnfunktion und -struktur bei Kindern mit guten und schwachen Rechenleistungen derzeit noch beschränkt und die Relevanz dieser Befunde für Unterricht und Förderung nicht immer deutlich. Eine Herausforderung für die numerische Kognitionsforschung wird es sein, diesen Praxisbezug zu erarbeiten. Auch die Untersuchung der vorschulischen Entwicklung von Kindern, die später eine Dyskalkulie entwickeln, gestaltet sich methodisch schwierig, obwohl derartige Befunde zentrale Erkenntnisse für die Früherkennung dieser Lernstörung erbringen könnten. Bereits in der 1. Auflage hatten wir darauf hingewiesen, dass im deutschsprachigen Raum Dyskalkulie von den meisten Schulsystemen nicht offiziell als Lernstörung anerkannt wird und keine adäquaten Maßnahmen des Nachteilsausgleichs vorgesehen sind. Wir hoffen, mit dieser Neuauflage unseres Buches einen Beitrag leisten zu können, um derartige relevante Entwicklungen in der nahen Zukunft anzuregen.


Februar 2017Karin Landerl Stephan E. Vogel

Vorwort zur 1. Auflage

Dyskalkulie, also eine spezifische Störung in der Entwicklung der Rechenleistung, galt lange als die vernachlässigte Lernstörung. In Bezug auf andere entwicklungsbedingte Störungen wie Legasthenie, ADHS oder Autismus wird seit vielen Jahren intensive Forschung betrieben, deren Erkenntnisse zunehmend in die Praxis Eingang fanden und damit direkt Betroffenen zugutekamen. Dagegen ist erst in jüngster Zeit ein vermehrtes Forschungsinteresse im Bereich der typischen und atypischen Entwicklung der Rechenleistungen festzustellen.

Besonders deutlich wird die Diskrepanz im direkten Vergleich mit der „anderen“ Lernstörung der Legasthenie. Bereits vor mehr als einem Jahrhundert tauchten in der Medizin erste Fallbeschreibungen von Kindern mit offenkundig guter Allgemeinbegabung auf, die unerwartet große Probleme im Erwerb des Lesens zeigten. Insbesondere seit sich die kognitionspsychologische und psycholinguistische Forschung in den 1970er Jahren des Themas annahmen, gibt es eine Vielzahl von relevanten empirischen Befunden. Es gibt inzwischen regelmäßige internationale Tagungen, auf denen diese Befunde diskutiert werden, und eigene Fachzeitschriften, in denen nur einschlägige Beiträge zum Thema publiziert werden. In enger Kooperation mit Elternorganisationen und Praktikern, die mit betroffenen Kindern arbeiten, konnte die Situation für Personen mit Legasthenie deutlich verbessert werden: Heute ist es möglich, Risikokinder für Legasthenie zu identifizieren, bevor noch der schulische Unterricht einsetzt. Diese Früherkennung ermöglicht die spielerische Anregung von Vorläuferfertigkeiten im Rahmen von Kindergarten- und Vorschulprogrammen sowie die adäquate Unterstützung des schulischen Schriftspracherwerbs. Besonders im Grundschulbereich wissen mehr und mehr Lehrerinnen und Lehrer Bescheid über die Symptome und Ursachen der Legasthenie, und in vielen (wenn auch bei weitem nicht allen) Bundesländern ist eine schulrechtliche Anerkennung und Berücksichtigung eine Selbstverständlichkeit.

Ein Indikator für die hohe Akzeptanz dieses Phänomens in der Öffentlichkeit ist, dass heutzutage Personen des öffentlichen Lebens und „Promis“ kein Problem damit haben, sich zu ihrer Legasthenie zu bekennen und damit für andere Betroffene deutlich zu machen, dass eine erfolgreiche Laufbahn trotz dieser Schwierigkeiten möglich ist. Prominente mit Dyskalkulie sind demgegenüber bis dato nicht bekannt. Das kann kaum daran liegen, dass es sie nicht gibt, schließlich zeigen aktuelle Prävalenzstudien, dass die Vorkommenshäufigkeit der beiden Lernstörungen sehr ähnlich ist. Eine schulrechtliche Anerkennung der Dyskalkulie gibt es bisher in keinem einzigen deutschen Bundesland.

Die Gründe für diese Diskrepanz sind unklar. Zum einen gelten massive Schwierigkeiten im Rechnen nach wie vor als Indikator für eine allgemein schwache Begabung, so dass manche Kinder mit einer spezifischen Rechenstörung möglicherweise bis heute sonderpädagogischen Maßnahmen zugeführt werden, die für Kinder mit allgemeiner Lernschwäche gedacht sind. Zum anderen werden bestimmte Symptome, von denen wir bereits wissen, dass sie mit Dyskalkulie assoziiert sind, nach wie vor als Folge einer Legasthenie interpretiert.


Ein klassisches Beispiel sind hier etwa Zahlendreher (63 gelesen als 36), die im Kontext einer veralteten Theorie (Orton 1937) fälschlicherweise als ein legasthenietypisches Symptom interpretiert wurden – teilweise hält dieses Missverständnis bis heute an. Da die beiden Lernstörungen auch häufig in Kombination auftreten, ist es tatsächlich nicht einfach, hier eine präzise Unterscheidung zu treffen.

Aber gerade in den letzten Jahren verändert sich die Situation deutlich. Vielen Lehrerinnen und Lehrern fallen im alltäglichen Unterricht Kinder auf, die trotz guter allgemeiner Begabung und trotz adäquater Entwicklung der schriftsprachlichen Leistungen im Umgang mit Zahlen und Mengen und mit den einfachsten Rechenleistungen große Probleme haben. Ein wichtiger Schritt in der öffentlichen Anerkennung des Phänomens Dyskalkulie ist, dass als international erste Elternvereinigung der deutsche Bundesverband für Legasthenie und Dyskalkulie e. V., der historisch die Interessen legasthener Kinder vertrat, sich offiziell auch der Rechenstörung annahm und dies auch in einer Namensänderung deutlich machte.


Die wissenschaftliche Untersuchung des Phänomens Dyskalkulie nimmt in vielen Dingen einen vergleichbaren Verlauf wie die Legasthenieforschung, was angesichts der großen Erfolge in diesem Bereich sicherlich positiv zu bewerten ist. Auch in der Legasthenieforschung half die neuropsychologische Untersuchung von spezifischen Ausfällen der Leseleistungen bei Erwachsenen aufgrund von Schädel-Hirn Verletzungen, den komplexen Leseprozess in Teilkomponenten zu zerlegen. Die neuropsychologischen und neurokognitiven Modelle der Leseverarbeitung bei Erwachsenen dienten in weiterer Folge als wesentlicher Ausgangspunkt für die Untersuchung der Entwicklung des Lesens im Kindesalter. Im Rückblick betrachtet zeigte sich relativ rasch, dass sich die Teilkomponenten des Lesesystems im Entwicklungsverlauf in engem Zusammenhang miteinander ausdifferenzieren. Demgemäß sind auch die spezifischen Ausfälle, die bei erworbenen Lesestörungen beobachtet werden konnten, bei Kindern nur in Ausnahmefällen zu finden. Nichtsdestotrotz ermöglichte diese Herangehensweise eine wesentlich detailliertere Untersuchung der typischen und atypischen Entwicklung des Lesens und Rechtschreibens, die in differenzierten diagnostischen Verfahren und spezifisch auf die Schwierigkeiten des einzelnen Kindes abgestimmten Komponenten für Intervention und Förderung resultierten.

Die kognitions- und neurowissenschaftliche Forschung zur Zahlenverarbeitung und zum Rechnen bei Erwachsenen hat in den letzten Jahren bereits zahlreiche spannende Befunde hervorgebracht. Diese Befunde basieren zum Teil auf Patienten mit erworbenen Dyskalkulien und zum Teil auf Studien mit bildgebenden Verfahren, die Auskunft über die Gehirnaktivität geben. Diese Befunde zeigen sehr deutlich auf, dass die einzelnen Teilkomponenten arithmetischer Leistungen bei Erwachsenen zum Teil erstaunlich unabhängig voneinander funktionieren und auch sehr spezifisch gestört sein können. Diese Befunde und die daraus resultierenden theoretischen Modelle werden im ersten Kapitel dieses Buches dargestellt, weil sie eine wesentliche Basis für das Verständnis der Entwicklung dieser Kompetenzen bei Kindern darstellen. Wir haben uns bemüht, die nicht ganz unkomplizierten Theorien und Modelle anhand anschaulicher Beispiele und Einzelfallvignetten möglichst zugänglich und nachvollziehbar darzustellen.

 

Die neurokognitive Herangehensweise an die hochkomplexen Rechenleistungen hat unser Verständnis für die Entwicklung numerischer Kompetenzen und der Rechenleistungen revolutioniert. Jean Piaget (1952; Piaget / Szeminska 1975), der Begründer der modernen Entwicklungspsychologie, ging noch vor nur wenigen Jahrzehnten davon aus, dass erst wesentliche allgemeine Schritte in der kognitiven Entwicklung geleistet sein müssten, bevor Kinder im Alter von etwa 6 bis 7 Jahren mit dem Übertritt in die Stufe des konkret operationalen Denkens in der Lage seien, numerische Konzepte zu erfassen. Demgegenüber zeigen uns die modernen Forschungsmethoden sehr deutlich auf, dass bereits Neugeborene über basale Kompetenzen in der Verarbeitung von Anzahlen verfügen, die vermutlich die Grundlage für alle weiteren Entwicklungsprozesse darstellen. Diese Befunde zur typischen Entwicklung der rechnerischen Leistungen sind Gegenstand des zweiten Kapitels dieses Buches.

Kapitel 3 trägt die in letzter Zeit deutlich zunehmenden empirischen Befunde zu Symptomen und Ursachen der Dyskalkulie zusammen. Inzwischen gibt es sehr deutliche Hinweise, dass es sich bei Dyskalkulie ebenso wie bei der Legasthenie um eine neurobiologische Störung handelt. Auch die kognitiven Mechanismen, die Rechenschwierigkeiten zugrunde liegen, werden zunehmend besser verstanden. Eine wesentliche Erkenntnis dieser Forschungsrichtung ist, dass Personen mit Dyskalkulie nicht nur mit Rechenprozessen an sich Probleme haben, sondern dass bereits die kognitive Verarbeitung von Zahlen und Anzahlen beeinträchtigt ist. Diese grundlegenden Probleme im Umgang mit Zahlen und Anzahlen potenzieren sich vermutlich, je komplexer die geforderte Rechenleistung ist.

Das vierte Kapitel gibt einen Überblick über aktuelle Verfahren zur Diagnose der Rechenleistungen und der Dyskalkulie. Besonders in diesem Bereich zeigt sich eine erfreuliche Entwicklung: Noch vor kurzem fehlten standardisierte Verfahren weitgehend, doch derzeit erscheint eine ganze Reihe von Tests, die sowohl die objektive Abklärung des schulischen Leistungsstandes ermöglichen als auch eine differenzierte Diagnose der Teilkomponenten der Zahlenverarbeitung und des Rechnens. Hier wird es in den nächsten Jahren wichtig sein, Erfahrungen zu sammeln, wie gut die einzelnen Verfahren für den konkreten Einsatz in der diagnostischen Praxis tatsächlich geeignet sind.

Das fünfte Kapitel ist mit Methoden der Förderung der Zahlenverarbeitung und der Rechenleistungen im schulischen Unterricht und in der Dyskalkulietherapie befasst. Auch hier gibt es vielversprechende Entwicklungen, wie etwa erste positiv evaluierte Kindergartenprogramme zur spielerischen Anregung zur Beschäftigung mit Zahlen und Mengen. Allerdings ist insgesamt festzustellen, dass wissenschaftlich evaluierte Programme oder Förderkomponenten bisher bedauerlicherweise eher die Ausnahme als die Regel sind. Für Kinder mit Dyskalkulie ist die Erstellung von maßgeschneiderten Interventionsprogrammen zentral, die von einer detaillierten Diagnose der individuellen Defizite ausgehen und auch die persönlichen Stärken und Ressourcen geeignet einbeziehen. Voraussetzung hierfür ist ein gutes und umfassendes Verständnis für die Bedingungsfaktoren der Dyskalkulie auf allen relevanten Ebenen (neurobiologisch, kognitiv, psychosozial und pädagogisch).

Wir haben uns bemüht, die aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse, die derzeit vorliegen, in diesem Buch zusammenzutragen. Trotz der wesentlichen Fortschritte im Erkenntnisstand zur Dyskalkulie müssen etliche Fragen derzeit noch unbeantwortet bleiben. Forschungslücken und Forschungsziele für die nähere Zukunft werden in diesem Buch ebenso aufgezeigt wie die erfreulichen Entwicklungen der letzten Jahre. Insgesamt wird eine Verbesserung der Situation von Kindern und auch Erwachsenen mit Dyskalkulie nur interdisziplinär und durch eine enge Verzahnung von Forschung und Praxis zu erreichen sein. Wir möchten mit diesem Buch einen Beitrag zu diesem Prozess leisten.

Abschließend möchten wir uns beim Ernst Reinhardt Verlag, insbesondere bei Frau Dipl. Psych. Ulrike Landersdorfer für die kompetente Betreuung und umsichtige Unterstützung bedanken. Ein herzliches Dankeschön auch an Herrn Stephan Vogel für die grafische Aufbereitung der in diesem Buch gezeigten Abbildungen, sowie Sarah Neuburger, Patrick Schleifer und Ariane Wruk für die sorgfältige und umsichtige Unterstützung bei der Erstellung des Manuskripts.


Juni 2008Karin Landerl Liane Kaufmann