Czytaj książkę: «Wie Kinder sprechen lernen», strona 6

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Sicherheit durch personale Bindung

So finden in den ersten Lebensjahren wichtige Entwicklungen auf vielen Ebenen zugleich statt. Das herausragende Thema gerade auch im Hinblick auf Sprache ist das kindliche Bedürfnis nach BindungBindung, personale B., die Entwicklung zum sozialen Wesen, das Aufeinander-Eingehen und Miteinander-Umgehen-Können. Zunächst bildet sich die Fähigkeit heraus, sich auf den Partner einzustimmen (das ist ganz buchstäblich gemeint) und sich gefühlsmäßig mit ihm auszutauschen.

Die seelische Not schwer hörgeschädigter und noch sprachloser Kinder macht uns auf das Zusammenspiel von Körper- und Lautsprache aufmerksam. Sie können ja zunächst nur abgucken und nachahmen, sind beim Verstehen oft ganz auf das Mienenspiel angewiesen. Wenn man ihnen etwas abschlagen muß, gehört zur verneinenden Geste auch die strenge Miene. Wie einfach haben wir es dagegen, wenn wir ein notwendiges »Nein« mit einem freundlichen Blick und herzlichem Ton begleiten können, mit Körpersprache, die unmißverständlich signalisiert: »Ich hab dich lieb, es ist nicht bös gemeint.« Wieviel einfacher ist es, wenn wir unser »Nein« erklären und um Verständnis werben können!

Berühmt geworden sind Harry F. HarlowsHarlow, Harry und Margaret Beobachtungen an Rhesusäffchen, die er isoliert von ihren Müttern aufzog, ohne es sonst an etwas fehlen zu lassen.1 Als sie später in die Affengemeinschaft entlassen werden, zeigen sie kein Interesse an anderen, spielen nicht mit, wippen, wie man es auch bei Autisten beobachtet hat, oft stundenlang stumpfsinnig hin und her, kneifen sich an immer derselben Stelle, bis sie bluten, sind entweder übermäßig aggressiv oder ängstlich und als Sexualpartner ungeeignet. Kurz: Sie erweisen sich als asozial und letztlich lebensuntauglich. Ebenso wurden in Einzelboxen aufgezogene Schimpansen zu sozialen Krüppeln, wenn auch ihre Verhaltensschäden nicht ganz so gravierend waren. Weniger bekannt geworden ist die Tatsache, daß Harlow sich später teilweise korrigiert hat: Es muß nicht unbedingt eine Mutter da sein; soziale Bedürfnisse können z.B. auch durch Geschwister und Spielkumpane befriedigt werden. So können sich auch Kinder, die in einer großen Geschwisterschar aufwachsen, besonders eng an ein älteres Kind anschließen und dabei Liebe und Fürsorge erfahren.

Der Unterschied zwischen Rhesusäffchen und den intelligenteren Schimpansen ebenso wie Lauras Geschichte deuten darauf hin, daß es dem Menschen, der wie kein anderes Wesen bis ins Alter lernfähig bleibt, doch noch möglich ist, frühe psychische Schäden später zu überwinden oder abzumildern. Unser Leben muß nicht durch eine unglückliche Kindheit auf alle Zeiten verpfuscht sein.

Gleichwohl steht fest: Beim gesunden Kind sind Bindungen, d.h. liebevolle Beziehungen zu anderen Menschen, der Transmissionsriemen für die sprachliche, ja die gesamte soziale und geistige Entwicklung. Denn »der Mensch wird nur unter Menschen ein Mensch« (Johann Gottlieb FichteFichte, Johann Gottlieb).

Kurze Geschichte eines Wunderknaben

Mit der traurigen Geschichte von Christian Heineken, die wir hier nach Hennig (Die Zeit, 1999) erzählen, wollen wir gleich zu Anfang zwei Dinge deutlich machen. Zum einen: Alle Zeitangaben zur kindlichen Sprachentwicklung sind nur grobe Richtwerte; zum anderen: bis heute bleibt vieles am Spracherwerb wundersam und geheimnisvoll.

Christian Heineken, das »Lübecker Wunderkind«, wurde 1721 geboren. Das von Geburt an schwächliche Kind starb dort nicht einmal fünfjährig, wahrscheinlich an einer damals nicht erkannten Lebensmittelallergie. Mit zwei Jahren kann er Latein und Französisch, dazu große Teile der Bibel auswendig, ebenso sein Lieblingsbuch, das Orbis sensualium pictus, Die sichtbar gemahlete Welt des Tschechen Johann Amos Comenius. Er rezitiert Psalmen und Kirchenlieder, denn was man ihm einmal vorgelesen hat, vergißt er nicht.

Sachwissen kommt hinzu, die Genealogien europäischer Herrscherhäuser, die Knochen des menschlichen Skeletts – er saugt alles auf wie ein Schwamm. Das Wunderkind lockt zahlreiche Besucher an, es kommt sogar zu einer Audienz beim König von Dänemark. Lesen kann er natürlich längst, nicht aber schreiben, denn er ist zu schwach, den Griffel zu halten, und die schweren Bücher, die er im Selbstgespräch memoriert, muss man ihm hinstellen und wegbringen, auf- und zumachen. Solang er lebt, wird er weder Gabel noch Löffel benutzen, niemals seine Zähne gebrauchen, etwas abbeißen oder kauen. Seine bevorzugte Nahrung bleibt die Brust der Amme, mit der er schon als zehn Monate altes Baby im vertraut-gemütlichen Platt redet. »Sophie, ik bin so möde, gef my doch de Titte,« heisst es, wenn ihn die Besucher, die so manches Geldstück dalassen, zu sehr anstrengt haben. Als ihm seine Mutter die Gefahren einer Seereise nach Dänemark vor Augen hält, antwortet er: »Madam, Sie haben mir erlaubt zu wählen. Gott der Herr ist auch der Herr der Meere.«

Der Komponist und hamburgische Musikdirektor Georg Philipp Telemann, auch einer der Wunderkindtouristen, widmet ihm ein Epigramm:

Kind, deßen gleichen nie vorhin ein Tag gebahr!

Die Nachwelt wird dich zwar mit ew’gen Schmuck umlauben

Doch auch nur kleinen Theils Dein großes Wißen glauben,

Das dem, der Dich gekannt, selbst unbegreiflich war.

Extremfälle wie Christian, ebenso wie die bedauernswerten Kinder, die sprachlos bleiben und denen wir nicht helfen können, zeigen uns, wie wenig wir noch vom Rätsel des Spracherwerbs verstehen – trotz modernster Erkenntnisse der Sprach- und Hirnforscher.

Die Besonderheit des sprachlichen Hörens

Das Ohr, der erste Lehrmeister der Sprache.

(Johann Gottfried HerderHerder, Johann Gottfried)

Die Erweckerin, / die menschenbildende Stimme.

(Friedrich HölderlinHölderlin, Friedrich)

Kategoriales HörenHörenkategoriales Hören

Max TauTau, Max, der 1950 als erster den Friedenspreis des deutschen Buchhandels erhielt, erzählt folgende moderne chassidische Geschichte:

Ein alter Rabbi in Jerusalem wurde sehr schwer krank. Sein junger Arzt wollte ihn ablenken, und er brachte ihm einen Radioapparat. Damit spielte er BachBach, Johann Sebastian und alle Musik, die der alte Rabbi liebte, und dann brach er voller Entzücken aus. »Rabbi, sehen Sie das Gerät, und denken Sie dann, daß die Musik aus Amerika kommt. Ist das nicht ein Wunder?« – »Nein, mein lieber junger Freund«, antwortete der Rabbi, »das ist kein Wunder.« Dann zeigte er auf sein Ohr. »Daß dies hört, das ist ein Wunder.«1

Alle unsere Sinne sind hochkomplexe, aus vielen Teilleistungen zusammengesetzte Systeme. Schon das Neugeborene kann den Schall orten: Es dreht den Kopf zur Schallquelle hin. Dieses räumliche Hören kommt zustande, indem sein Gehirn den Zeitunterschied zwischen der Ankunft des Schalls an dem einen und dem anderen Ohr auswertet. Ein klares Beispiel für eine angeborene Fähigkeit, denn der kleine Unterschied wird uns nicht einmal bewußt. Wir überhören ihn, nicht aber unser Gehirn, sonst könnten wir ja nicht wissen, woher ein Ton kommt, es sei denn, wir sehen seine Quelle. Und es ist gut so, daß wir den Unterschied nicht bewußt erleben: Die bewußte Wahrnehmung bleibt frei für andere Dinge. Erwachsene können übrigens Schälle präziser lokalisieren als Kleinkinder: mit dem Körperwachstum nimmt der Abstand zwischen den Ohren zu und damit auch die Zeitdifferenz im Millisekundenbereich, die das Hirn verrechnen kann.

Räumlich riechen können wir allerdings nicht. Wahrscheinlich liegen unsere Nasenlöcher zu dicht beieinander, als daß wir mit ihnen ermitteln könnten, aus welcher Richtung ein Duft kommt. Aber Schlangen riechen stereo. An beiden Enden ihrer gespaltenen Zunge befinden sich empfindliche Sinnesorgane, die Chemikalien orten können. Registriert die eine Spitze eine geringfügig höhere Konzentration einer Substanz als die andere, ermittelt das Gehirn aus dem Vergleich beider Werte die Fluchtrichtung der Beute, die diesen Stoff abgibt. Beim Richtungshören wird ein Zeitunterschied, beim Richtungsriechen ein Unterschied im Verdünnungsgrad verrechnet.

Die Ortung einer Schallquelle ist nur eine Teilleistung des komplexen Systems, das wir Hören nennen. Normalerweise hören wir kontinuierlich, d.h. wir nehmen feine Übergänge wahr, bei der Schallortung ebenso wie bei der Tonhöhe und Lautstärke. Zum menschlichen Hören gehört aber noch eine andere Leistung, die nicht nach dem Mehr-oder-weniger-Prinzip arbeitet.

Sprachliches Hören geschieht auf der Grundlage von Entweder-oder-Entscheidungen. Ein Sprachlaut ist für unser Gehör entweder stimmhaft oder nicht stimmhaft, nasal oder nicht nasal, gerundet oder nicht gerundet; dabei ist es unerheblich, wie stark das jeweilige Merkmal im Einzelnen ausgeprägt ist. Auf dieser Grundlage kann das menschliche Gehirn die erforderlichen Entscheidungen viel schneller und damit effizienter treffen als bei kontinuierlicher Wahrnehmung. Es würde zuviel Zeit erfordern, in jedem Einzelfall den genauen Grad, z.B. an Stimmhaftigkeit, Nasalität oder Lippenrundung, zu prüfen. Denn das Ohr hat nur 20–40 Millisekunden Zeit, um etwa den Unterschied zwischen pa und ba wahrzunehmen. Allerdings kann es schon zwei feine Klickgeräusche als getrennt wahrnehmen, wenn sie nur drei Millisekunden auseinanderliegen. Unser Tastsinn braucht da schon zehn Millisekunden Differenz, um zwei Reize als nicht mehr gleichzeitig aufzufassen; beim Sehen müssen unter optimalen Bedingungen mindestens zwanzig Millisekunden zwischen zwei Reizen liegen, damit wir sie als getrennt wahrnehmen.Pinker, Steven2

Was wir als Vokale und Konsonanten wahrnehmen, sind somit Klassen oder Kategorien individueller Geräusche. Die Unterschiede zwischen den Klassen vernehmen wir, die Unterschiede zwischen den einzelnen Geräuschen innerhalb einer Klasse überhören oder vernachlässigen wir. Wir nehmen nicht wahr, wie unterschiedlich ein stimmloses pa ausgesprochen wird, es bleibt ein pa. Aber die Grenze zum stimmhaften ba wird messerscharf lokalisiert; ba klingt für deutsche Ohren eindeutig weicher als pa, obwohl dieser Unterschied akustisch nicht größer ist als zwischen Varianten von pa. Im Innenohr werden gewisse Unterschiede erfaßt und durch eine rund tausendfache Schallverstärkung verschärft. Dabei werden andere – rein akustisch gesehen ebenso große – Unterschiede als nicht existent erklärt und übersehen. Diese Art von Entweder-oder-Wahrnehmung heißt kategoriale Wahrnehmung. Elemente eines Kontinuums werden getrennten Kategorien zugeordnet, Zwischenstufen nicht zugelassen. Es kommt darauf an, die einkommenden Hörreize auf Wesentliches herunterzubrechen, eine wichtige Einsparung! Unsere Wahrnehmung vollzieht einen scharfen Schnitt und erleichtert damit unser Sprachverstehen.

Mit dem Begriff der »kategorialen Wahrnehmungkategoriale Wahrnehmung« ist auch schon gesagt, daß es nicht allein um das Hören geht. Alle unsere Sinnesorgane benutzen diese Strategie der Kontrastbetonung, um wichtige Informationen aus dem ständigen Zustrom von Reizen zielgenau herauszufiltern. Wo diese Kontraste gesetzt oder nicht gesetzt werden, darüber entscheidet der jeweilige sprachliche Input.

Frühe Verluste des Hörens

Mit sechs Monaten differenziert das Kind schon unterschiedliche Silbenlängen und Satzmelodien und ortet die Grenzen zwischen Sätzen, die in vielen Sprachen durch Verlängerung der letzten Sprechsilbe, Absenken der Stimme und kurzer Sprechpause danach markiert sind. Offen für alle Sprachen der Welt, stellt es sich aber noch vor dem Sprechbeginn auf die Unterschiede in den Sprachen ein, die ihm zugesprochen werden. Die Einzelsprachen nutzen ja nur jeweils einen für sie charakteristischen Teil der möglichen distinktiven Schallmerkmale. So kennen Japaner den Unterschied zwischen /r/ und /l/ nicht, die Finnen nicht den zwischen /f/ und /v/, die Spanier nicht den zwischen /v/ und /b/. Sie alle haben entsprechende Schwierigkeiten beim Erlernen des Deutschen, wo reiten und leiten, fühlen und wühlen, Besen und Wesen Verschiedenes bedeuten. Japanische, finnische und spanische Kleinkinder hören diese Unterschiede durchaus, während sich diese Fähigkeit bei Erwachsenen stark zurückgebildet hat. Besen oder Wesen: Spanier hören hier kein neues Wort, für sie ist es dasselbe. Unser Ohr wird also für die Muttersprache insofern geschärft, als die von ihr nicht verwendeten Lautkontraste ausgeblendet werden, ein Gewinn, der zugleich ein Verlust ist. Sprechen Sie Ihrem Vorschulkind die englischen Zahlen vor. Es wird one wie deutsch wann, natürlich three wie sri, five wie faif und eight wie eht aussprechen, weil es zunächst genau das auch hört. (Dass z.B. das lange e der natürliche Ersatzlaut für den englischen Doppellaut /ei/ ist, kann man daran erkennen, dass Englisch cakes im Munde der Deutschen zu Keks wurde.) – Ebenso können noch Fünfjährige kleinste Tonhöhenunterschiede in beliebigen musikalischen Konstellationen wahrnehmen, danach verschwindet diese Fähigkeit. Denn auch hier stimmen sich die Kinder auf die Klangwelt ihres Kulturkreises ein und verlieren Fähigkeiten, die ihnen nicht abgefordert werden. Solche Möglichkeiten, die in uns stecken, verkümmern wie eine Blume, die man zu gießen vergisst.

In einer Studie (unter mehreren ähnlich gelagerten) wurden englische Säuglinge geprüft, ob sie den Unterschied wahrnehmen zwischen einem t, das mit zurückgebogener Zungenspitze gegen den harten Gaumen artikuliert wird (retroflexes t), und einem englischen oder deutschen t, wo man die Zungenspitze gegen die oberen Zähne drückt (dentales t). Dieser Unterschied ist im Hindi, einer Sanskritsprache, wichtig, im Englischen (oder im Deutschen) nicht. Bis zum Alter von sieben Monaten konnten auch jene Kinder, die in einer englischen Umgebung aufwuchsen, diese Unterscheidung ohne Schwierigkeiten wahrnehmen, und zwar so gut wie Kinder aus einer rein hindisprachigen Umgebung. Anschließend verändert sich diese Fähigkeit. Im Alter von etwa neun Monaten nimmt sie bei den englischsprachigen Kindern ab; schon zwei Monate später ist sie bei der überwiegenden Mehrzahl fast verschwunden, und im Alter von etwa vier Jahren sind nicht einmal mehr Reste davon nachweisbar. Selbst Einüben brachte bei den Erwachsenen dieser Studie keinen Erfolg.1

Um all dies herauszufinden, hat man wieder die Veränderung der Nuckelgeschwindigkeit gemessen. In vereinfachter Darstellung: In ruhigem Rhythmus wird die Silbenkette ba-ba-ba … vorgespielt. Die Kinder nuckeln langsam vor sich hin. Dann verändert man das Signal zu pa-pa-pa … Horcht das Kind jetzt auf, indem es genau an diesem Punkt regelmäßig und kurzfristig die Nuckelrate verändert (die sich bald auf den alten Wert einpendelt), hat es wohl einen Unterschied bemerkt. Andere Forschergruppen haben stattdessen die Veränderungen der Herzschlagfrequenz gemessen – mit ähnlichen Ergebnissen.2

Wieder zeigt sich eine sensible PhaseSensible Phase, eine Zeit erhöhter Empfängnisfähigkeit und Ansprechbarkeit, in der wir bestimmte Dinge besonders leicht lernen. Später sind wir nicht mehr im gleichen Maße aufnahmebereit – wahrscheinlich weil wir, wie alle Organismen, mit unseren Kräften haushalten müssen. Fazit: Kinder spezialisieren sich sehr früh – im Alter von sechs Monaten – auf ihre Muttersprache. Gegen Ende des ersten Lebensjahres haben sie sich weitgehend auf ihre Klangwelt eingestellt. Neun Monate alte Babys kennen nicht nur muttersprachliche Melodien und Betonungsmuster, sie haben auch schon ein Ohr für die typischen in ihrer Sprache zulässigen Lautfolgen. So würden deutsche Kinder die Folge kn im Wortanlaut (wie in Knie, Knoten) bevorzugt anhören, nicht aber englische, denn im Englischen ist kn nur noch im Schriftbild existent (knee, knot). Solches »Wissen« wiederum verhilft dazu, Wörter in fortlaufender Rede zu unterscheiden. Man spricht vom statistischen LernenStatistisches Lernen, Phonotaktik. Das schnelle Erkennen muttersprachlicher Lautfolgen ist hier der Gewinner. Als polyglotte Weltbürger geboren, werden unsere Kleinkinder schon bald zu Staatsbürgern.

Babys: Geborene Statistiker

Hören wir eine uns ganz fremde Sprache, so erleben wir zunächst ein undurchdringliches Chaos. Und doch hat jede Sprache nicht nur ihre ausgewählten Laute, sondern auch bestimmte Lautfolgen, die sehr wahrscheinlich, andere, die zwar möglich, aber doch selten sind und solche, die überhaupt nicht auftauchen. Noch feiner könnte ein Statistiker analysieren, welche Laute bzw. Lautfolgen bevorzugt am Anfang, in der Mitte oder am Ende eines Wortes erscheinen. Im Deutschen, aber auch im Englischen sind Anfangslaute mit schr… (Schraube, schreiben; to shrink) geläufig, es gibt jedoch keinen Wortbeginn mit sri. »Sri Lanka« ist somit sofort als ein nicht aus dem Deutschen oder Englischen kommendes Wort identifizierbar. Zieht unser Statistiker dann auch noch typische Betonungsmuster und Pausenlängen mit ins Kalkül ein, wird er schon einige Wort- und Satzstrukturen bestimmen können, besonders in Kombination mit ebenso regelmäßig wiederkehrenden Bedeutungen. Es werden also Informationen aus unterschiedlichen Quellen aufeinander bezogen: Lernen in der Schnittstelle. Die Hirnforschung hat mit dem Modell von neuronalen Netzwerken gezeigt, dass unser Gehirn für solche statistischen Analysen geradezu prädestiniert ist. Schon 8 Monate alte Kinder analysieren den sprachlichen Input erfolgreich nach solchen regelmäßigen Wiederholungen im Gehörten, natürlich automatisch und unbewusst, und können schon bald wiederkehrende Silbenmuster als Einheiten erfassen, noch vor Sprechbeginn. »Zufälle« wollen sie nicht wahrhaben, sie vermuten hinter einem Zusammentreffen einen Zusammenhang, sie wollen ein System herauslesen. Diese erstaunliche, elementare Fähigkeit der MustererkennungMustererkennung gilt für Lautfolgen ebenso wie für Kombinationen von Wortteilen und Wörtern, sprich Grammatik, und für nichtsprachliche Informationsverarbeitung.

Man nehme vier dreisilbige Kunstwörter wie dapiku, tilado buropi und pagotu und spiele sie in einer Zufallsreihenfolge zwei Minuten ununterbrochen vor (dapikutiladoburopipagotuburopitiladodapikupagotu……). Babys, Kinder und auch Erwachsene haben aus dem Gehörten dann zweifelsfrei die vier Kunstwörter herausgefiltert. Völlig unbewusst haben statistische Auftretenswahrscheinlichkeiten die Analyse geleitet. Nach da folgt immer ein piku, nach ti ein lado, nach bu ein ropi und nach pa immer ein gotu. Weiterhin: Nach einem ku folgt mit 25prozentiger Wahrscheinlichkeit immer entweder ein ti, bu, pa oder da. Für die Anfangssilben der anderen Kunstwörter gilt dies analog.

Babys erfassen also über Auftretens- und Übergangswahrscheinlichkeiten von einer Silbe zur nächsten die für die jeweilige Sprache typischen Gruppierungen und können somit einen Fuß in die Tür des ununterbrochenen Lautzuflusses stellen und Hinweise nutzen, wo wohl einzelne Worte aufhören und andere beginnen. Später sind es dann z.B. die Veränderungen an den Wörtern, die grammatischen Markierungen, die ebenfalls in ihrer Häufigkeit erfasst und danach auch gegliedert werden. Das Erstaunliche: solche Analysen leistet unser Gehirn einfach so. Wir brauchen noch nicht einmal konzentriert bei der Sache sein. Unser Gehirn, dieser ausgebuffte Statistiker, munitioniert unser Erkenntnisvermögen vom Säuglingsalter an nahezu unentwegt und unbemerkt. Wir können es eben. Überhaupt kann der Mensch viel mehr, als er bewusst versteht.1

Die Muttersprache als akustischer Filter

Originäre Fähigkeiten, die durch die Muttersprache nicht gefordert sind, werden abgebaut oder immer weniger aktivierbar. Man lernt also auch durch Verlernen. Wieder ein Schritt, in dem das Gehörte auf Wesentliches heruntergebrochen wird. Der Grad dieser Rückbildung ist für die einzelnen Schallmerkmale unterschiedlich. Einige Fähigkeiten werden sehr stark gedämpft, so daß sie später gar nicht oder nur sehr schwer für den Erwerb weiterer Sprachen aktiviert werden können. Für andere Unterschiede ist die Dämpfung weniger drastisch. Japaner sind z.B. durchaus in der Lage, den Unterschied zwischen /l/ und /r/ zu erlernen. Handelt es sich um Laute, die unserer Muttersprache ganz fremd sind, meistern wir sie eher als solche, die sehr dicht bei unseren eigenen liegen. Hier findet eine Art Verklumpung statt, die es uns enorm erschwert, den Unterschied wahrzunehmen und entsprechend zu artikulieren. Um ein anderes Bild zu gebrauchen: Typische muttersprachliche Laute verhalten sich wie Magnete, die benachbarte, ähnliche Laute in ihr Kraftfeld saugen, bis sie mit ihnen verschmelzen.1 Bei Japanern funktioniert also das /r/ wie ein Magnet, das alle /l/ an sich zieht, so daß es für sie wie /r/ klingt – was auch zu Fehlschreibungen wie »umbrerra« statt »umbrella« führt. Bei den Chinesen ist es umgekehrt, sie bringen von beiden Lauten nur das /l/ zuwege.

So kommt es, daß wir gewöhnlich Fremdsprachen mit erkennbarem AkzentAkzent (von der Norm abweichende Aussprachenuancen) sprechen. Die Erstsprache ist wie ein akustischer Filter, der sich über die dazukommenden Sprachen legt. Begegnet man einer weiteren Sprache noch vor der Pubertät, kann man sie unter günstigen Umständen akzentfrei erlernen. Italienische Immigranten in New York wurden danach beurteilt, wie weit sie akzentfreies Englisch sprachen. Das Alter bei der Ankunft in New York variierte zwischen sechs und zwanzig Jahren, die Aufenthaltsdauer variierte zwischen fünf und achtzehn Jahren. Es zeigte sich, daß das Alter bei der Ankunft viel entscheidender als die Aufenthaltsdauer war: je jünger, desto weniger Akzent.2 Was die Klangwelt der Sprachen anbetrifft, müßte man also, wie in den Waldorfschulen üblich, mit den Fremdsprachen früh anfangen. Der geniale Rudolf SteinerSteiner, Rudolf hat es erahnt:

Die Sprache, die der Mensch als seine Muttersprache aufnimmt, wurzelt sich ganz tief in das Atmungssystem, in das Zirkulationssystem, in den Bau des Gefäßsystems, so daß der Mensch nicht nur nach Geist und Seele, sondern nach Geist, Seele und Körper hingenommen wird von der Art und Weise, wie sich seine Muttersprache in ihm auslebt.3

»Jeder trägt seine Sprache wie eine unauslöschliche Tätowierung, die allen bis an sein Lebensende verraten wird, in welche Gruppe er gehört.«4 ZugehörigkeitZugehörigkeit zu signalisieren (und Fremde auszugrenzen!) ist denn auch der evolutionsbiologische Sinn des Auseinanderfallens unserer Sprachbegabung in Tausende von Sprachen und Dialekten.