Bald ließen sich zahlreichere Scharen von Vögeln, Sturmvögel und andere Bewohner dieser öden Gegenden sehen, woraus man die Nähe Grönlands erkannte. Der Forward fuhr rasch nordwärts.
Am Dienstag, den 17. April, gegen elf Uhr vormittags, meldete der Eismeister das erste Erscheinen des Eis-Blink, welches sich mindestens zwanzig Meilen in Nord-Nord-West zeigte. Es war ein blendend weißer Streifen, welcher trotz dichten Gewölkes den ganzen benachbarten Teil der Atmosphäre lebhaft erhellte. Die Leute von Erfahrung an Bord konnten über die Erscheinung keinen Zweifel haben, und sie erkannten an dem weißen Schein, dass dieser Blink von einem ausgedehnten Eisfeld dreißig Meilen über dem Gesichtskreis hinauskommen musste und durch Brechung der Lichtstrahlen entstand.
Gegen Abend schlug der Wind südlich um und war günstig; Shandon konnte tüchtig Segel aufspannen und ließ aus Sparsamkeit die Heizung aufhören. Der Forward fuhr mit vollen Segeln dem Kap Farewell zu.
Am 18. um drei Uhr ließ sich an einem weißen, nicht eben dichten, aber glänzenden Streifen, der lebhaft zwischen den Linien des Meeres und Himmels abstach, ein Eisstrom erkennen. Er trieb offenbar vielmehr von der Ostküste Grönlands her, als von der Davis-Straße, denn die Eisblöcke ziehen sich vorzugsweise an den Westrand des Baffins-Meeres. Eine Stunde nachher fuhr der Forward mitten durch abgesonderte Blöcke des Eisstroms, und da, wo sie am meisten zusammenhingen, folgten sie der Wellenbewegung.
Am folgenden Morgen, bei Tagesanbruch, meldete die Wache ein Schiff: Es war eine dänische Korvette, Walküre, welche in entgegengesetzter Richtung der Forward der Bank von New-Foundland zufuhr. Die Strömung von der Straße her machte sich schon fühlbar, und Shandon musste die Segel verstärken, um dagegen zu steuern.
Damals befanden sich der Kommandant, der Doktor, James Wall und Johnson beisammen auf dem Hinterdeck, um die Richtung und Kraft dieser Strömung zu untersuchen. Der Doktor fragte, ob wirklich diese Strömung gleichmäßig im Baffins-Meer existiere.
»Allerdings«, erwiderte Shandon, »und die Segelschiffe können nur mit Mühe dem Polarstrom entgegensteuern.«
»Umso mehr«, fügte James Wall bei, »als man ihn ebensowohl auf der Ostküste Amerikas als auf der Westküste Grönlands findet.«
»Nun«, sagte der Doktor, »das gibt den Aufsuchern der nordwestlichen Durchfahrt einen besonderen Grund! Dieser Strom fließt mit einer Schnelligkeit von etwa fünf Meilen die Stunde, und es ist schwerlich vorauszusetzen, dass er im Innern des Golfs entsteht.«
»Dies ist umso richtiger, Doktor«, fuhr Shandon fort, »als man gleich dieser Strömung von Norden nach Süden eine entgegengesetzte von Süden nach Norden in der Behrings-Straße findet, welche den Ursprung dieser bildet.«
»Demnach, meine Herren«, sagte der Doktor, »muss man zugeben, dass Amerika völlig von den Polarlanden losgetrennt ist, und dass die Gewässer des Stillen Meeres um diese Küsten herum bis ins Atlantische fließen. Übrigens ergibt sich auch aus dem höheren Niveau der Gewässer des ersteren noch ein Grund für deren Abfluss in die Meere Europas.«
»Aber«, fuhr Shandon fort, »es muss doch Gründe für diese Theorie geben, und wenn das der Fall ist, muss unser Universal-Gelehrter sie kennen.«
»Wahrhaftig«, versetzte letzterer mit liebenswürdiger Befriedigung, »wenn dies Sie interessieren kann, so will ich Ihnen sagen, dass Walfische, die in der Davis-Straße verwundet wurden, einige Zeit nachher in der Nähe der Tartarei1 noch mit der europäischen Harpune im Leibe gefangen wurden.«
»Wofern sie also nicht ums Kap Horn oder um das der guten Hoffnung gefahren sind«, erwiderte Shandon, »so müssen sie notwendig ihren Weg um die Nordküste Amerikas herum genommen haben. Das ist unbestreitbar, Doktor.«
»Wenn Sie jedoch nicht überzeugt wären, mein wackerer Shandon«, sagte der Doktor lachend, »so könnte ich noch andere Tatsachen vorbringen, z. B. das in der Davis-Straße flößende Holz, Lärchen, Zitterespen und andere Produkte der tropischen Zone. Nun wissen wir, dass des Golfstromes wegen dieses Holz nicht in die Enge hineintreiben kann; wenn sie also aus demselben heraustreiben, so konnten sie nur durch die Behrings-Straße in denselben hineinkommen.«
»Ich bin überzeugt, Doktor, und gestehe, dass man bei Ihren Beweisen schwerlich ungläubig bleiben kann«.
»Meiner Treu!« sagte Johnson. »Da kommt just etwas, was die Sache klarmachen kann. Ich sehe da draußen ein hübsch großes Stück Holz. Mit Erlaubnis des Kommandanten wollen wir den Baumstamm auffischen, an Bord ziehen und um sein Heimatland befragen.«
»Ganz recht«, sagte der Doktor, »das Beispiel nach der Regel.«
Shandon gab den Befehl dazu; die Brigg fuhr auf das wahrgenommene Holz, und bald darauf zog es die Mannschaft mit einiger Mühe an Bord.
Es war ein Acajoustamm, der vom Gewürm bis in den Kern zerfressen war, sonst hätte er nicht obenauf schwimmen können.
»Das ist ja überführend«, rief der Doktor freudig, »denn da die Strömungen des Atlantischen Ozeans denselben nicht haben in die Davis-Straße treiben können, weil er nicht durch nordamerikanische Flüsse in das Polarbecken getrieben werden konnte, da der Baum in der Gegend des Äquators wächst, so ist es klar, dass er direkt aus der Behrings-Straße kommt. Und sehen Sie, meine Herren, dies Meergewürm, von dem es durchfressen wurde, es gehört zu den Gattungen der heißen Zone.«
»Offenbar«, versetzte Wall, »haben die Widersacher der Durchfahrt unrecht.«
»Mit diesem da sind sie gänzlich geschlagen!« erwiderte der Doktor. »Geben Sie acht, ich will Ihnen den Weg beschreiben, welchen dieses Acajouholz gemacht hat. Es ist durch einen Fluss des Isthmus2 von Panama oder aus Guatemala in den Stillen Ozean geflößt worden; von da aus hat die Strömung längs der amerikanischen Küsten es bis zur Behrings-Straße geführt, und, gutwillig oder nicht, es musste in die Polarmeere hinein; es kann noch nicht lange her sein, dass es aus seiner Heimat abgefahren ist; sodann ist es glücklich über alle Hindernisse der langen Reihe von Engen bis zum Baffins-Meer hinausgekommen, und von der aus dem Norden kommenden Strömung lebhaft ergriffen ist es durch die Davis-Straße getrieben, um an Bord des Forward aufgefischt zu werden zu großer Freude des Doktor Clawbonny, welcher den Kommandanten um die Erlaubnis ersucht, ein Musterpröbchen davon aufzuheben.«
»Tun Sie es nur«, versetzte Shandon; »aber gestatten Sie auch mir, Ihnen mitzuteilen, dass Sie nicht der einzige Besitzer eines solchen Strandgutes sind. Der dänische Statthalter der Insel Disko …«
»An der Küste Grönlands«, fuhr der Doktor fort, »besitzt einen Tisch, der aus einem Block desselben Holzes gefertigt ist, welcher unter gleichen Umständen aufgefischt wurde; es ist mir dies nicht unbekannt, lieber Shandon; nun, ich beneide ihn nicht um seinen Tisch, denn, wenn es nicht zu viel zu schaffen machte, so hätte ich hier genug, um mir ein ganzes Schlafgemach zu zimmern.«
Während der Nacht vom Mittwoch zum Donnerstag wehte der Wind äußerst heftig; das Treibholz zeigte sich häufiger; die Annäherung an die Küste war gefährlich zu einer Zeit, wo die Eisberge sehr zahlreich sind; der Kommandant ließ daher die Zahl der Segel vermindern, und der Forward fuhr dann mit nur zweien.
Das Thermometer fiel unter den Gefrierpunkt. Shandon ließ angemessene Kleidung an die Mannschaft verteilen, wollene Jacke und Hosen, flanellnes Hemd, Strümpfe von Wadmel, wie die norwegischen Bauern tragen. Desgleichen wurde jeder Mann mit einem Paar völlig wasserdichten Meerstiefeln versehen.
Kapitän Hund war mit seinem natürlichen Pelz zufrieden; er schien gegen die Veränderungen der Temperatur wenig empfindlich; er musste schon mehr wie einmal die Probe bestanden haben. Er war fast immer in den dunklen Schiffsräumen versteckt.
Gegen Abend ließ sich durch eine Lichtung im Nebel, unter 37° 2' 7" Länge die Küste Grönlands sehen; der Doktor konnte vermittels seines Fernrohrs eine Reihe Pics mit breiten Gletschern erkennen.
Der Forward befand sich am 20. April früh im Angesicht eines hundertundfünfzig Fuß hohen Eisbergs, der seit undenklichen Zeiten an dieser Stelle festliegt; das Tauwetter hat ihn noch nie bewältigt und seine seltsamen Formen nicht angetastet. Snow hat ihn gesehen; James Ross im Jahre 1829 eine Zeichnung desselben aufgenommen, und der französische Lieutenant Bellot an Bord des Prinzen Albert hat ihn im Jahre 1851 bemerkt. Auch der Doktor entwarf eine gelungene Skizze desselben.
Solche unüberwindlich festliegenden Massen finden sich mitunter; dann haben sie gegen jeden Fuß Höhe über dem Wasser zwei unter demselben, was also bei diesem dreihundert Fuß Tiefe, also zusammen vierhundert Fuß beträgt.
Endlich bei einer Temperatur, die mittags zwölf Grad (-elf Grad hundertteilig) betrug, bekam man in nebeligem Schneewetter Kap Farewell zu sehen.
»Da ist denn«, sagte bei sich der Doktor, »das berühmte, richtig benannte3 Kap. Viele sind daran vorübergefahren und haben es nimmer wieder gesehen. So sind Frobisher, Knight, Barlow, Vaugham, Scroggs, Barentz, Hudson, Blosseville, Franklin, Crozier, Bellot nie zum heimischen Herd zurückgekehrt, ihnen rief es ein letztes Lebewohl zu.«
Grönland wurde von isländischen Seefahrern schon ums Jahr 970 entdeckt. Sebastian Cabot4 drang im Jahre 1498 bis zum sechsundfünfzigsten Breitengrad, Gaspard und Michel Cotréal, 1500 bis 1502, gelangten bis zum sechzigsten Grade, und Martin Frobisher 1576 bis zu der nach ihm benannten Bai.
John Davis entdeckte 1585 die Straße, welche seinen Namen führt, und zwei Jahre später, bei einer dritten Reise, gelangte dieser kühne Seefahrer und Walfischjäger bis zum 73°, noch siebzehn Grad vom Pol. Barentz 1596, Weymuth 1602, James Hall 1605 und 1607, Hudson, nach welchem die große Bai benannt ist, die sich so tief ins Festland hineinzieht, James Poole 1611, drangen weiter in der Straße vor, um die nordwestliche Durchfahrt zu suchen, durch welche der Verkehr zwischen den beiden Welten so sehr abgekürzt worden wäre.
Baffin, 1616, fand in dem Meere seines Namens die Lancaster-Straße; ihm folgte 1619 James Munk, und 1719 Knight, Barlow, Vaugham und Scroggs, von welchen man nie wieder Nachricht bekam.
Im Jahre 1776 erreichte der Lieutenant Pickersgill, welcher dem Kapitän Cook entgegengeschickt wurde, den 68°; im folgenden Jahr drang Young bis zur Fraueninsel vor.
Nun kam James Ross, der 1818 die Küste des Baffins-Meeres aufnahm und die hydrografischen Irrtümer seiner Vorgänger verbesserte.
Endlich, 1819 und 1820, drang der berühmte Parry durch den Lancaster-Sund inmitten unzähliger Schwierigkeiten bis zur Insel Melville und gewann den Preis von fünftausend Pfund, welcher durch eine Parlamentsakte den englischen Seefahrern versprochen war, die bei einer höheren Breite als 77° über den hundertundsiebzigsten Meridian gelangen würden.
Im Jahre 1826 kam Beechey bis zur Insel Chamisso; James Ross überwinterte 1829-1830 in der Prinz-Regenten-Straße und entdeckte, neben anderen wichtigen Leistungen, den magnetischen Pol.
Während dieser Zeit erforschte Franklin, auf dem Landweg, die Nordküsten Amerikas vom Mackenziefluss bis zu der Umkehr-Spitze; der Kapitän Back verfolgte von 1823-1835 diese Bahn weiter, und seine Entdeckungen wurden 1839 durch Dease, Simpson und den Doktor Rae vervollständigt.
Endlich fuhr Sir John Franklin, voll Eifer, die nordwestliche Durchfahrt aufzufinden, im Jahre 1845 auf dem Erebus und Terror aus England ab, drang ins Baffins-Meer hinein, und seit er bei der Insel Disko vorbeigekommen, bekam man keine Nachricht mehr von seiner Expedition.
Diese zahlreichen Entdeckungsfahrten haben zur Auffindung der Durchfahrt und zur Aufnahme der so tief ausgezackten Polarkontinente geführt; die unverzagtesten Seemänner Englands, Frankreichs und der Vereinigten Staaten wagten sich in die schrecklichen Gegenden, und ihren Anstrengungen ist zu verdanken, dass die so schwierige Karte dieser Landschaften im Archiv der königlichen Geografischen Gesellschaft zu London nun prangen kann.
So überblickte der Doktor im Geiste die merkwürdige Entdeckungsgeschichte dieser Landschaften, während er auf die Sente gelehnt mit den Augen dem langen Kielwasser der Brigg folgte.
1 Tatarei (auch: Tartarei, Tatarey, Tartarey) ist eine historische Bezeichnung für Mittelasien, Nordasien und Teile Osteuropas. Dieser Raum war die Heimat der Tataren, wie die Mongolen und Turkvölker verallgemeinernd bezeichnet wurden, und das Herrschaftsgebiet des mongolischen Reiches und seiner Nachfolgestaaten. <<<
2 engster Punkt einer Landbrücke <<<
3 ›Lebewohl.‹ <<<
4 Sebastiano Caboto (1484–1557) war ein aus Venedig stammender Entdecker und Kartograph, der im Dienst der englischen und spanischen Krone stand. Bekannt ist er heute vor allem für die in seinem Auftrag gedruckte Weltkarte, von der ein Exemplar aus dem Jahr 1544 erhalten ist. <<<
Diesen Tag über bahnte sich der Forward einen leichten Weg zwischen den halb zerbröckelten Eisblöcken; der Wind war günstig, aber die Temperatur sehr niedrig; die über die Eisfelder streichende Luft durchdrang mit frischer Kälte.
Die Nacht erforderte die strengste Achtsamkeit; die schwimmenden Berge drängten sich in der engen Straße zusammen: Man zählte ihrer oft bei hundert am Horizont; sie lösten sich durch Einwirkung der benagenden Wellen und der Aprilsonne von den vorragenden Küsten ab, um zu zerschmelzen oder in die Tiefen des Ozeans zu versinken. Man begegnete auch langen Flößen Treibholz, mit welchen man nicht zusammenstoßen durfte. Darum wurde auch das »Krähennest« an der Spitze eines Mastes angebracht, bestehend aus einer Tonne mit beweglichem Boden, worin der Eismeister, zum Teil gegen den Wind geschützt, das Meer überschaute, die herannahenden Eisblöcke meldete und selbst nötigenfalls das Manövrieren des Schiffes angab.
Die Nächte waren kurz; die Sonne war infolge der Strahlenbrechung seit dem 31. Januar wieder zum Vorschein gekommen und hielt sich allmählich länger über dem Horizont. Aber durch den Schnee war die Aussicht gehemmt, und wenn er auch nicht Dunkelheit veranlasste, so machte er doch die Fahrt schwierig.
Am 21. April zeigte sich mitten im Nebel das Kap Desolation; die Mannschaft war durch das Manövrieren erschöpft; seitdem die Brigg zwischen den Eisblöcken fuhr, hatten die Matrosen nicht einen Augenblick Ruhe gehabt; man musste bald den Dampf zu Hilfe nehmen, um sich mitten durch aufgeschichtete Blöcke einen Weg zu bahnen.
Der Doktor und Meister Johnson plauderten auf dem Hinterdeck miteinander, während Shandon in seiner Kabine einige Stunden Schlaf genoss. Clawbonny suchte die Unterhaltung des alten Matrosen auf, welchem seine zahlreichen Reisen eine interessante und verständige Erziehung gegeben hatten. Der Doktor gewann ihn sehr lieb, und der Rüstmeister blieb ihm nichts schuldig.
»Sehen Sie, Herr Clawbonny«, sagte Johnson, »dieses Land ist nicht wie alle anderen; sein Name bedeutet ›Grünes Land‹, aber nur wenig Wochen im Jahre ist diese Benennung gerechtfertigt!«
»Wer weiß, wackerer Johnson«, erwiderte der Doktor, »ob nicht im zehnten Jahrhundert dieses Land Anspruch auf eine solche Benennung haben konnte. Auf unserem Erdball ist schon manche Umänderung dieser Art vorgekommen, und Sie werden vielleicht staunen, wenn ich Ihnen sage, dass isländischen Chroniken zufolge vor acht- bis neunhundert Jahren zweihundert Dorfschaften auf diesem Kontinent blühten.«
»Diese Äußerung, Herr Clawbonny, versetzt mich dermaßen in Staunen, dass ich ihr nicht einmal Glauben beimessen kann, denn ’s ist ein ödes Land!«
»Gut! So öde es auch sein mag, so bietet es doch Bewohnern, und selbst zivilisierten Europäern, hinreichend eine Stätte ruhiger Abgeschiedenheit.«
»Allerdings! Zu Disko, zu Uppernawik werden wir Leute finden, die mit einem Leben in solchem Klima zufrieden sind; aber ich habe immer gedacht, sie hätten diesen Aufenthalt nicht mit Vorliebe, sondern notgedrungen gewählt.«
»Ich glaube es gern; doch gewöhnt sich der Mensch an alles, und es scheint mir, diese Grönländer sind nicht ebenso zu beklagen als die Arbeiter in unsern großen Städten; sie können unglücklich sein, aber sicherlich im Elend leben sie nicht, ferner, ich sage wohl unglücklich, aber dieses Wort drückt nicht völlig meinen Gedanken aus; in der Tat leben diese Leute auch nicht so im Wohlbehagen wie wir in der gemäßigten Zone; in diesem Klima geboren, finden sie offenbar darin Genüsse, für welche uns der Begriff abgeht!«
»Das muss man wohl annehmen, Herr Clawbonny, weil der Himmel gerecht ist; aber ich bin vielfach auf Reisen an diese Küsten gekommen, und der Anblick dieser traurigen Einöden hat mir stets das Herz zusammengeschnürt; man hätte z. B. den Kaps, Vorgebirgen, Baien freundlichere Namen geben sollen, denn die Bezeichnungen Farewell und Desolation sind nicht geeignet, die Seefahrer anzuziehen!«
»Diese Bemerkung habe ich ebenfalls gemacht«, erwiderte der Doktor; »aber diese Namen haben unverkennbar ein geografisches Interesse; sie bezeichnen die Erlebnisse derer, welche die Namen beigelegt haben; wenn ich neben den Namen Davis, Baffin, Hudson, Ross, Parry, Franklin das Kap Desolation (Trostlosigkeit) finde, so stoße ich bald auf die Bai der Gnade (Mercy): Es ist da die ununterbrochene Reihe von Gefahren, Hindernissen, Erfolgen, Verzweifeln und Gelingen verbunden mit den großen Namen meines Vaterlandes, dass ich die ganze Geschichte dieser Meere darin lesen kann.«
»Richtig geurteilt, Herr Clawbonny, und möchten wir nur bei unserer Reise auf mehr Baien des Erfolges (Succés) als Kaps der Desolation treffen!«
»Das wünsch’ ich, Johnson; aber, sagen Sie mir, hat sich die Mannschaft ein wenig von ihren Strapazen erholt?«
»Ein wenig, mein Herr; und doch, um alles herauszusagen, seit unserer Einfahrt in die Straße hat man wieder angefangen, sich über den eingebildeten Kapitän Gedanken zu machen; mancher war darauf gespannt, dass er an der Spitze von Grönland erschien, und bis jetzt, nichts! Sehen Sie, Herr Clawbonny, unter uns, ist das nicht etwas zum Verwundern?«
»Jawohl, Johnson.«
»Glauben Sie, dass der Kapitän existiert?«
»Ganz gewiss.«
»Aber was konnte er für Gründe haben, so zu handeln?«
»Soll ich völlig heraussagen, was ich denke, so glaube ich, dieser Mann wollte die Mannschaft erst weit genug fortziehen, dass sie nicht mehr umkehren konnte. Wäre er nun im Moment der Abfahrt an seinem Bord erschienen, so hätte jeder die Bestimmung des Schiffes haben hören wollen, wodurch er in Verlegenheit geraten wäre.«
»Und weshalb?«
»Wahrhaftig, wenn er eine übermenschliche Unternehmung wagen, wenn er vordringen will, wohin so viele andere vor ihm nicht konnten, glauben Sie, dass er seine Mannschaft beisammen behalten hätte? Dagegen, wenn man einmal unterwegs ist, kann man soweit gehen, dass das Vorwärtsdringen zu einer Notwendigkeit wird.«
Von Eisblöcken umgeben.
»Das ist möglich, Herr Clawbonny; ich habe mehr als einen unerschrockenen Abenteurer kennengelernt, dessen bloßer Name in Schrecken setzte und der keinen Mann gefunden hätte, um ihn bei seinen gefährlichen Unternehmungen zu begleiten …«
»Mich ausgenommen«, sagte der Doktor.
»Und mich nach Ihnen«, erwiderte Johnson, »und um mich Ihnen anzuschließen! Ich nehme also an, dass unser Kapitän ohne Zweifel zu solchen Abenteurern gehört. Wir werden es am Ende sehen; ich vermute, dass in der Gegend von Uppernawik oder der Bai Melville dieser tapfere Unbekannte sich im Stillen an Bord einfinden und uns zu erkennen geben wird, bis wohin seine Fantasie das Schiff fortzuziehen im Sinne hat.«
»Der Meinung bin ich auch, Johnson; aber die Schwierigkeit wird darin bestehen, bis zu dieser Bai Melville zu gelangen; sehen Sie, wie auf allen Seiten diese Eisblöcke uns umgeben! Sie lassen ja dem Forward kaum einen Durchweg. Betrachten Sie nur diese unermessliche Ebene.«
»Wir Walfischfänger, Herr Clawbonny, nennen dies ein Eisfeld, d. h. eine Fläche zusammenhängender Eisblöcke, deren Ende man nicht absieht.«
»Und hier, dieses unterbrochene Feld, diese langen Stücke, welche mehr oder minder aneinander anstoßen?«
»Das heißen wir pack, und palch, wenn die Form rund ist, sowie stream, wenn sie lang.«
»Und diese schwimmenden Blöcke?«
»Das ist Treibeis; sind sie etwas höher, so nennt man sie Eisberge; ein Zusammenstoßen mit ihnen ist den Schiffen gefährlich, und man muss sie sorgfältig meiden. Sehen Sie, dort unten auf jenem Eisfeld, eine vom Druck der Eisblöcke verursachte höher emporragende Stelle, die nennen wir hummock, und wenn sie an ihrer Basis unter Wasser ist, calf; diese Benennungen gab man, um sich darüber verständlich zu machen.«
»Ah! Das ist wahrhaftig ein merkwürdiger Anblick«, rief der Doktor beim Betrachten dieser Wunder des Eismeeres aus, »und was machen diese verschiedenen Anschauungen für einen lebhaften Eindruck auf die Fantasie!«
»Allerdings«, erwiderte Johnson; »die Eisschollen nehmen manchmal fantastische Formen an, und unsere Leute sind nicht in Verlegenheit, sie in ihrer Weise zu deuten.«
»Schauen Sie, Johnson, und staunen über dies Gesamtbild von Eisblöcken! Sieht es nicht wie eine sonderbare Stadt, eine orientalische mit Minaretts und Moscheen in bleichem Mondschein? Weiter dort eine lange Reihe gotischer Bogen gleich der Kapelle Heinrichs VII., oder wie am Parlamentshaus.«
»Wirklich, Herr Clawbonny; aber es wäre doch gefährlich, darinnen zu wohnen, und man darf ihnen nicht allzu nahekommen. Es gibt da Minaretts, die wanken auf ihrer Basis und könnten ein Schiff wie den Forward zertrümmern.«
»Und man hat sich in die Gefahr dieser Meere hineingewagt«, fuhr der Doktor fort, »ohne den Dampf bereit zu haben! Wie ist es möglich, dass ein Segelschiff mitten zwischen diesen schwimmenden Klippen eine Richtung verfolgen kann?«
»Man hat’s jedoch ausgeführt, Herr Clawbonny; wenn der Wind widrig wurde, was mir mehr wie einmal begegnete, hing man sich geduldig mit dem Anker an einen solchen Block fest, trieb mehr oder minder mit ihm, und wartete so die günstige Stunde zum Weiterfahren ab; zwar brauchte man bei dieser Art zu reisen einige Monate Zeit da, wo bei einigem Glück wir nur einige Tage darauf wenden.«
»Es kommt mir vor«, sagte der Doktor, »als sinke die Temperatur noch mehr.«
»Das wäre schlimm«, erwiderte Johnson, »denn es ist Tauwetter nötig, dass diese Massen sich zerteilen und sich im Atlantischen Meere verlieren; sie sind übrigens in der Davis-Straße zahlreicher, weil zwischen dem Kap Walsingham und Holsteinborg das Land merklich näher beisammen ist; doch über den siebenundsechzigsten Grad hinaus werden wir finden, dass im Mai und Juni die Meere leichter zu befahren sind.«
»Ja, aber man muss erst hinkommen.«
»Jawohl, Herr Clawbonny, im Juni und Juli hätten wir die Fahrt frei gefunden, wie die Walfischfänger auch; aber es war uns genau anbefohlen, dass wir im April uns hier einfänden. Darum irre ich sehr, oder unser Kapitän ist ein tüchtiger Schelm, der weiß, was er will; er ist nur deshalb so frühzeitig abgefahren, um recht weit zu fahren. Schließlich werden wir es sehen.«
Der Doktor hatte sich in seiner Äußerung über das Sinken der Temperatur nicht geirrt; das Thermometer zeigte um Mittag nur sechs Grad (-vierzehn Grad hundertteilig) und es herrschte ein Nord-West, der, obwohl er die Witterung heiter machte, doch zugleich mit der Strömung die schwimmenden Eisblöcke heftiger dem Forward entgegen beförderte. Es trieben jedoch nicht alle in derselben Richtung; nicht selten traf man solche, und zwar die höchsten, welche, an ihrer Basis von einer unterseeischen Strömung gefasst, in entgegengesetzter Richtung trieben.
Natürlich entstanden dadurch Schwierigkeiten für die Schifffahrt; die Maschinisten hatten nicht einen Augenblick Ruhe; die Leitung der Dampfkraft wurde unmittelbar auf dem Verdeck vorgenommen vermittels Hebel, welche sie verstärkten, hemmten, plötzlich, nach Befehl des Offiziers der Wache, in umgekehrte Richtung brachten. Bald musste man eilen, um durch eine Öffnung im Eisfeld zu dringen, bald an Schnelligkeit einem Eisberg, der den einzigen Weg zu versperren drohte, zuvorkommen; oder auch es nötigte ein unversehens rückwärts fallender Block zu raschem Umkehren, um nicht zerschmettert zu werden. Diese Anhäufung von Eisblöcken, welche von der Strömung aus Norden fortgetrieben und aufgeschichtet wurden, drängte sich in der Enge, und wenn der Frost sie festhielt, konnten sie dem Forward eine unüberwindliche Schranke setzen.
Es zeigte sich in diesen Gegenden eine unzählige Menge Gevögel; Sturmvögel flatterten überall mit betäubendem Geschrei, und Möwen mit dickem Kopf und langen Flügeln trotzten scherzend dem vom Sturm gepeitschten Schnee. Diese Munterkeit des Geflügels belebte die Gegend.
Zahlreiche Stücke Treibholz stießen widereinander; einige Pottfische mit enormen Köpfen kamen in die Nähe des Schiffes, aber zum Harpunieren war keine Zeit. Gegen Abend sah man auch einige Robben zwischen den Blöcken schwimmen.
Am 22. sank die Temperatur noch mehr; der Forward verstärkte seinen Dampf, um günstige Fahrwege zu gewinnen; der Wind war entschieden Nord-West geworden; die Segel wurden eingezogen.
Während dieses Tages, der ein Sonntag war, hatten die Matrosen wenig zu manövrieren. Nach dem von Shandon verrichteten Gottesdienst beschäftigte sich die Mannschaft mit der Jagd auf Weißmäntel und fing deren viele. Diese Vögel lieferten, gehörig zubereitet, ein angenehmes Gericht für die Tafel.
Um drei Uhr nachmittags hatte der Forward nordöstlich Kin de Sael erreicht, und das Gebirge Sukkertop lag südöstlich; die See ging sehr hohl; von Zeit zu Zeit senkte sich ein ungeheurer Nebel unvermutet vom grauen Himmel herab. Doch konnte zu Mittag eine genaue Beobachtung gemacht werden, und es zeigte sich, dass das Schiff sich unter 65° 20' Breite und 54° 22' Länge befand. Man musste noch um zwei Grad weiter vorwärtsdringen, um bessere Fahrt auf freiem Meer zu bekommen.
Während der drei folgenden Tage, am 24., 25. und 26. April, hatte man beständig mit den Eisblöcken zu kämpfen; die Behandlung der Maschine wurde sehr ermüdend.
Im dichten Nebel konnte man die Annäherung der Eisberge nur am dumpfen Getöse erkennen, welches von den Lawinen herrührte; dann wendete das Schiff sogleich; man kam in Gefahr, wider Eismassen aus süßem Gewässer zu stoßen, welche an der Durchsichtigkeit und einer Felsen gleichen Härte zu erkennen waren. Richard Shandon versah sich zur Ergänzung seines Trinkwassers täglich mit einigen Tonnen solchen Eises.
Der Doktor konnte sich nicht an die optischen Täuschungen gewöhnen, welche die Strahlenbrechung in diesen Gegenden erzeugte; in der Tat, mancher Eisberg, der zehn bis zwölf Meilen von der Brigg entfernt war, kam ihm wie eine kleine weiße Masse in nächster Nähe vor.