Mit dem 5. April war der zur Abfahrt bestimmte Tag erschienen. Die Aufnahme des Doktors an Bord beruhigte ein wenig die Gemüter. Wohin der würdige Gelehrte zu gehen sich entschloss, konnte man getrost auch gehen. Doch waren die meisten Matrosen etwas unruhig, und Shandon, in Besorgnis, es möchten einige ausreißen, wünschte lebhaft auf hoher See zu sein. War einmal die Küste außer Sicht, so würde die Mannschaft sich darein ergeben.
Die Kabine des Doktor Clawbonny lag im Hintergrund des Hüttendecks und nahm die ganze Rückseite des Schiffes ein. Die Kabinen des Kapitäns und des Schiffslieutenants, welche mehr zurückstanden, hatten eine Aussicht aufs Verdeck. Die des Kapitäns blieb, nachdem sie mit verschiedenen Instrumenten, Möbeln, Reisekleidern, Büchern, Kleidern zum Wechseln und Gerätschaften nach detaillierter Angabe ausgestattet worden, hermetisch verschlossen. Nach Weisung des Unbekannten wurde der Schlüssel zu dieser Kabine ihm nach Lübeck adressiert zugeschickt; er hatte also allein Zutritt zu seinem Gemach.
Diese Bestimmungen waren Shandon nicht nach dem Sinn und nahmen ihm viel Aussicht auf sein Oberkommando. Seine eigene Kabine hatte er vollständig nach den Bedürfnissen der projektierten Reise eingerichtet, da ihm die Erfordernisse für eine Polarexpedition gründlich bekannt waren.
Das Zimmer des dritten Offiziers lag innerhalb des falschen Verdecks, welches ein geräumiges Schlafgemach für die Matrosen bildete; die Leute hatten es hier sehr gemächlich, und sie hätten schwerlich an Bord eines anderen Schiffes eine so bequeme Einrichtung getroffen. Man bewies ihnen eine Sorgfalt, wie einer Ladung von Wert; ein geräumiger Ofen nahm die Mitte des gemeinsamen Saales ein.
Der Doktor Clawbonny fand alles nach Wunsch, er hatte seit dem 6. Februar, dem Tage nach dem Stapellassen des Forward, seine Kabine in Besitz genommen und wie ein Kind Vergnügen daran gefunden, sein wissenschaftliches Gepäck in Ordnung zu bringen. Seine Bücher, Herbarien, Messinstrumente, physikalischen Apparate, seine Sammlung von Thermometer, Barometer, Hygrometer, seine Brillen, Kompasse, Sextanten, Karten, Pläne, die Fiolen, Pulver, Fläschchen seiner sehr vollständigen Reiseapotheke, alles dies war dermaßen geordnet, dass es hätte das British Museum beschämen können. Dieser Raum von sechs Quadratfuß enthielt schätzbare Reichtümer.
Er war stolz auf diese Ausstattung und glücklich in seinem schwimmenden Heiligtume, das leider so eng war, dass es seine zum Besuch hinströmenden Freunde nicht aufnehmen konnte.
Zur vollständigen Beschreibung der Einrichtung des Forward habe ich noch beizufügen, dass die Lagerstätte des Hundes dicht unter dem Fenster der geheimnisvollen Kabine angebracht war; aber ihr wilder Bewohner zog vor, in den Gängen oder dem untersten Schiffsraum umherzustreifen, und bei Nacht hörte man ihn jämmerlich heulen, dass es in den leeren Räumen des Fahrzeugs in unheimlicher Weise widerhallte.
Tat er dies aus Sehnsucht nach seinem abwesenden Herrn oder aus innerem Vorgefühl drohender Gefahren? Die Matrosen waren geneigt, das letztere zu glauben.
Der Doktor Clawbonny, dessen Sanftmut und Liebkosungen einen Tiger zähmen konnten, bemühte sich vergebens um die Gunst dieses Hundes; er verlor Zeit und Mühe.
Da dieses Tier übrigens auf keinen der Namen hörte, welche sich im Hundekalender verzeichnet finden, so kamen die Leute an Bord zuletzt darauf, ihn Kapitän zu nennen, denn er schien die Gebräuche an Bord völlig zu kennen. Offenbar hatte er schon Seereisen gemacht.
Unter den gegebenen Umständen war Richard Shandon nicht ohne Unruhe und sprach diese am Abend vor der Abreise, dem 5. April, in seiner Unterhaltung mit dem Doktor, Wall und Johnson aus.
Diese vier befanden sich im Versammlungszimmer des Hüttendecks beim zehnten Gläschen Grog, ihrem letzten ohne Zweifel, da nach den Vorschriften des Schreibens aus Aberdeen die ganze Mannschaft, vom Kapitän bis zum Heizer an Bord, weder Wein, noch Bier oder geistige Getränke bekommen sollten, außer im Krankheitsfall auf Anordnung des Arztes.
Seit einer Stunde sprach man von nichts als der bevorstehenden Abreise. Den Instruktionen des Kapitäns nach musste Shandon morgen ein Schreiben mit den letzten Anordnungen erhalten.
»Wenn dies Schreiben«, sagte der Kommandant, »mir nicht den Namen des Kapitäns angibt, muss es uns wenigstens den Bestimmungsort des Schiffes melden. Wohinaus soll man sonst steuern?«
»Wahrhaftig«, erwiderte der ungeduldige Doktor, »an Ihrer Stelle würde ich selbst ohne den Brief abreisen; er würde uns wohl einzuholen verstehen, denk’ ich.«
»Sie haben keine Vermutung darüber, Doktor! Aber in welcher Richtung würden Sie steuern, wenn es beliebt?«
»Nach dem Nordpol zu, offenbar! Das versteht sich ja ohne allen Zweifel.«
»Ohne allen Zweifel!« entgegnete Wall. »Und warum nicht nach dem Südpol?«
»Nach dem Südpol«, schrie der Doktor, »gewiss nicht!«
»Sollte der Kapitän den Gedanken haben, mit einer Brigg durch den ganzen Atlantischen Ozean zu fahren! Denken Sie doch einmal daran, lieber Wall.«
»Der Doktor hat auf alles eine Antwort«, erwiderte letzterer.
»Gut, also nach Norden«, fuhr Shandon fort. »Aber, sagen Sie mir, Doktor, meinen Sie nach Spitzbergen? Grönland? Labrador? Oder die Hudsonbai? Führen diese verschiedenen Wege auch alle zu demselben Ziel, der undurchdringlichen Eisdecke, so wäre ich doch sehr in Verlegenheit, mich für einen oder den anderen derselben zu entscheiden. Können Sie mir darüber eine entschiedene Antwort geben, Doktor?«
»Nein«, erwiderte dieser in Verlegenheit, »aber schließlich, was wollen Sie tun, wenn Sie kein Schreiben erhalten?«
»Nichts; abwarten.«
»Abfahren nicht?« rief Clawbonny und schwang sein Glas in Verzweiflung.
»Allerdings nicht.«
»Das ist das Gescheiteste«, erwiderte Meister Johnson gelassen, während der Doktor, der an seinem Platz keine Ruhe hatte, um den Tisch herumspazierte. »Ja, das Gescheiteste; doch kann ein zu langes Abwarten missliche Folgen haben: Erstlich, die Witterung ist gut, und wenn es nach Norden zu geht, müssen wir den Eisbruch benutzen, um durch die Davis-Straße zu fahren; überdies wird die Mannschaft immer unruhiger; unsere Leute werden durch ihre Freunde und Kameraden veranlasst, den Forward zu verlassen, und ihr Einfluss könnte uns einen schlimmen Streich spielen.«
»Man muss weiter annehmen«, fuhr James Wall fort, »dass, wenn eine Panik einträte, die Matrosen bis zum letzten Mann ausreißen würden; und ich weiß nicht, Kommandant, ob es Ihnen gelingen würde, Ihre Mannschaft von Neuem aufzubringen.«
Clawbonny in seiner Cabine
»Aber was anfangen?« schrie Shandon.
»Was Sie gesagt haben«, versetzte der Doktor: »Abwarten, aber nur bis morgen, ehe man den Mut sinken lässt. Die Versprechungen des Kapitäns sind bisher mit einer Regelmäßigkeit erfüllt worden, die eine gute Bürgschaft ist; man hat also keinen Grund zu glauben, dass wir nicht zu richtiger Zeit über unsere Bestimmung werden in Kenntnis gesetzt werden; ich zweifle keinen Augenblick, dass wir morgen auf dem Irländischen Meere fahren; dazu, meine Freunde, schlage ich ein letztes Glas vor auf unsere glückliche Reise; sie beginnt zwar auf eine etwas unklare Weise, aber mit Seeleuten wie Ihnen gibt es tausend Wege zum guten Ende.«
Und alle vier stießen zum letzten Mal an.
»Jetzt, Kommandant«, fuhr Meister Johnson fort, »darf ich Ihnen einen Rat geben, so besteht er darin: Sie treffen alle Vorbereitungen zur Abfahrt: die Mannschaft muss Sie ganz sicher wissen. Morgen, mag ein Brief kommen oder nicht, machen Sie segelfertig, zu heizen ist noch nicht nötig; es sieht aus, als wolle der Wind gut halten, und es ist leicht, die hohe See zu gewinnen; der Lotse komme an Bord; zurzeit der Flut verlassen Sie die Docks und ankern draußen vor der Spitze von Birkenhead; dann haben unsere Leute mit dem Lande keine Verbindung mehr, und wenn der verteufelte Brief endlich kommt, wird er uns dort finden, wie anderwärts.«
»Brav gesprochen, wackerer Johnson!« sagte der Doktor und reichte dem alten Seemann die Hand.
»So wollen wir es machen!« erwiderte Shandon.
Jeder begab sich dann in seine Kabine und erwartete in unruhigem Schlaf den Sonnenaufgang.
Am folgenden Morgen fand sich bei den ersten Briefabgaben in der Stadt nicht ein einziger an den Kommandanten Richard Shandon.
Demungeachtet machte dieser seine Vorbereitungen zur Abfahrt; das Gerücht davon verbreitete sich sogleich in Liverpool, und es strömte eine außerordentliche Menge von Zuschauern auf die Kais von New-Princes-Docks.
Es kamen viele derselben an Bord der Brigg, dieser, um von einem Kameraden Abschied zu nehmen, jener um einem Freund abzuraten, ein anderer, um sich das seltsame Schiff zu besehen, wieder ein anderer, um den Zweck der Reise zu erfahren, und man murrte, als man den Kommandanten schweigsamer und rückhaltender sah wie jemals.
Dafür hatte er wohl seine Gründe.
Es schlug zehn Uhr; elf sogar. Gegen ein Uhr nachmittags sollte die Flut fallen. Shandon warf vom Hüttendeck aus einen unruhigen Blick auf die Menge; die Matrosen vollzogen schweigend seine Befehle, stets die Augen auf ihn gerichtet, in Erwartung einer Mitteilung, welche ausblieb.
Meister Johnson machte segelfertig; es war bedeckter Himmel, und vor den Bassins draußen ging die See sehr hohl; es wehte ein ziemlich starker Südost, doch konnte man leicht aus der Mersey herauskommen.
Um zwölf Uhr noch nichts. Der Doktor Clawbonny ging unruhig auf und ab, lorgnettierte,1 gestikulierte. Er fühlte sich aufgeregt, was er auch tun mochte. Shandon biss sich die Lippen blutig.
Jetzt trat Johnson heran und sagte zu ihm:
»Kommandant, wollen wir die Flut benutzen, so dürfen wir keine Zeit verlieren; vor Ablauf einer guten Stunde kommen wir nicht aus den Docks heraus.«
Shandon blickte noch einmal umher und sah auf seine Uhr. Die Zeit der Briefausgabe zu Mittag war vorüber.
»Wohlan denn!« sagte er zu seinem Rüstmeister.
Dieser rief den Zuschauern zu, das Verdeck zu räumen.
Es entstand eine rege Bewegung, indem die einen auf den Kai eilten, die anderen die Taue lösten.
In der Verwirrung, da die Matrosen ohne viel Rücksicht die Neugierigen wegtrieben, hörte man den Hund heulen.
Abfahrt des Forward
Dies Tier sprang auf einmal vom Vorderkastell mitten durch die dichte Menge. Man wich ihm aus; er sprang auf das Hüttendeck, und – tausend Zeugen sahen es – der Kapitän Hund hielt zwischen den Zähnen einen Brief.
»Ein Brief!« rief Shandon. »Aber da ist er ja an Bord?«
»Da gewesen ist er ohne Zweifel, aber nun ist er nicht mehr da«, erwiderte Johnson und zeigte auf das nun völlig geräumte Verdeck.
»Kapitän! Kapitän! Ici!«2 rief der Doktor und versuchte den Brief zu nehmen, aber der Hund wich ihm aus mit lebhaften Sprüngen. Es schien, er wolle seine Botschaft nur Shandon selbst einhändigen.
»Kapitän, ici!« rief dieser.
Der Hund kam herbei; Shandon nahm ihm den Brief ab, und Kapitän bellte dreimal laut beim tiefen Schweigen der Menge.
Shandon zögerte den Brief zu öffnen.
»Ei, so lesen Sie doch! Lesen Sie!« rief der Doktor. Shandon sah ihn an. Die Adresse, ohne Ort und Datum lautete:
»An den Kommandanten Richard Shandon, an Bord der Brigg Forward.«
Shandon öffnete und las:
»Sie fahren nach dem Kap Farewell zu. Am 20. April werden Sie dort eintreffen. Wenn der Kapitän sich da nicht an Bord einfindet, fahren Sie durch die Davis-Straße und das Baffins-3 Meer hinauf bis zur Melville-Bai.
Der Kapitän des Forward.
K. Z.«
Shandon legte den lakonischen Brief sorgfältig zusammen, steckte ihn in seine Tasche und gab Befehl zur Abfahrt. Seine im Pfeifen des Ostwindes hallende Stimme hatte etwas Feierliches.
Bald war der Forward aus den Bassins heraus und fuhr, von einem Lotsen aus Liverpool geleitet, die Strömung des Mersey. Die Menge stürzte auf den äußeren Kai längs der Docks Victoria, um das seltsame Schiff noch einmal zu sehen. Die Mastbäume waren rasch aufgerichtet, die Segel aufgehisst, und mit deren Beistand fuhr der Forward, nachdem er um die Spitze Birkenhead gebogen, äußerst schnell ins Irländische Meer.
1 durch die Lorgnette betrachten: scharf ansehen, genau beobachten <<<
2 Hierher <<<
3 Die Baffin Bay, Baffin-Bucht oder Baffinbai ist ein nördliches Randmeer des Atlantischen Ozeans. <<<
Der Wind war ungleich, doch günstig, mit starken Aprilstößen. Der Forward durchschnitt rasch das Meer, und seine Schraube beseitigte jedes Hindernis. Gegen drei Uhr kreuzte er mit dem Postdampfer zwischen Liverpool und der Insel Man. Der Kapitän rief ihn von seinem Bord aus an, das letzte Lebewohl, welches die Mannschaft des Forward zu hören bekam.
Um fünf Uhr gab der Pilot die Leitung des Schiffes an Richard Shandon zurück, und sein Kutter1 verschwand bald im Südwest.
Gegen Abend fuhr die Brigg um das Südende der Insel Man. Während der Nacht ging das Meer sehr hohl; der Forward hielt sich gut, ließ die Spitze von Ayr nordwestlich und steuerte dem Nord-Kanal zu.
Johnson hatte recht; auf dem Meer gewann bei den Matrosen die Liebe zur See die Oberhand. Beim Anblick der Trefflichkeit des Fahrzeugs vergaßen sie das Besorgliche ihrer Lage. Das Leben an Bord gestaltete sich regelmäßig.
Der Doktor schlürfte mit größtem Behagen die Seeluft; er ging kräftigen Schrittes allen Windstößen entgegen, für einen Gelehrten auf ziemlich seemännischem Fuß.
»Das Meer ist doch etwas Herrliches«, sagte er zu Meister Johnson, als er nach dem Frühstück wieder auf das Verdeck sich begab. »Ich mache mich etwas spät mit demselben vertraut, aber ich werde mich bald darein finden.«
»Sie haben recht, Herr Clawbonny; ich gäbe alle Kontinente der Welt für ein Stückchen Ozean. Man behauptet, die Seeleute würden bald ihr Geschäft müde; nun bin ich schon vierzig Jahre Seefahrer, und dies Leben gefällt mir noch so gut wie am ersten Tag.«
»Es ist doch eine wahre Lust, ein gutes Schiff unter den Füßen zu haben, und irre ich nicht, so hält sich der Forward trefflich.«
»Sie urteilen richtig, Doktor«, erwiderte Shandon, der zu den beiden hinzutrat, »’s ist ein trefflich Fahrzeug, und ich sage offen, noch nie ist ein für die Fahrt ins Eismeer bestimmtes Schiff besser versehen und bemannt gewesen. Das erinnert mich, wie vor dreißig Jahren der Kapitän James Ross,2 als er die nordwestliche Durchfahrt suchte …«
»Er fuhr auf der Victoria«, sagte lebhaft der Doktor, »einer Brigg von etwa gleichem Tonnengehalt wie die unsrige, und ebenfalls mit einer Dampfmaschine.«
»Wie? Das wissen Sie?«
»Urteilen Sie selbst«, fuhr der Doktor fort, »damals waren die Maschinen noch in ihrer Kindheit, und die der Victoria verursachte derselben mehr wie eine nachteilige Verzögerung: Nachdem der Kapitän Ross sie Stück für Stück vergeblich repariert hatte, ließ er sie zuletzt auseinandernehmen und gab sie bei seinem ersten Winteraufenthalt auf.«
»Teufel!« rief Shandon, »Sie wissen es genau, sehe ich!«
»Was meinen Sie?« fuhr der Doktor fort. »Das hat man vom Lesen. Ich habe die Werke von Parry, Ross, Franklin, die Berichte von Mac Clure, Kennedy, Kane, Mac Clintock gelesen, und es ist dabei etwas an mir hängengeblieben. Ich sage weiter, dass dieser nämliche Mac Clintock an Bord des Fox, einer Schraubenbrigg, wie die unsrige, leichter und direkter zum Ziel gelangte, als alle seine Vorgänger.«
»Sie haben vollkommen recht«, erwiderte Shandon, »dieser Mac Clintock ist ein kühner Seemann; ich hab’ ihn bei der Arbeit gesehen. Sie können beifügen, dass wir uns gleich ihm schon im April in der Davis-Straße befinden werden, und wenn es uns gelingt, zwischen den Eisblöcken durchzudringen, so wird das unserer Reise einen bedeutenden Vorschub geben.«
»Sofern nicht«, entgegnete der Doktor, »es uns geht wie dem Fox im Jahre 1857, dass wir gleich im ersten Jahre zwischen den Eisblöcken des nördlichen Baffins-Meeres steckenbleiben und mitten in der Eisdecke überwintern müssen.«
»Wir müssen hoffen, dass wir glücklicher sein werden, Herr Shandon«, erwiderte Johnson, »und wenn man mit einem Fahrzeug wie dem Forward nicht dringen kann, wohin man will, muss man es ganz aufgeben.«
»Übrigens«, fuhr der Doktor fort, »wenn der Kapitän an Bord ist, wird er besser als wir wissen, was zu tun ist, und umso mehr, als es uns vollständig unbekannt ist; denn aus seinem gar zu lakonischen Briefe können wir den Reisezweck nicht erraten.«
»Es ist schon viel wert«, erwiderte Shandon lebhaft, »dass wir wissen, welchen Weg wir zu nehmen haben; und jetzt, seit einem Monat, denk’ ich mir, wir können die übernatürliche Einwirkung dieses Unbekannten und seiner Instruktionen schon entbehren. Übrigens wissen Sie meine Meinung über ihn.«
Der Forward steuert ein.
»Ho! Ho!« rief der Doktor aus. »Ich glaubte wie Sie, dieser Mann werde das Kommando des Schiffes Ihnen lassen und niemals an Bord kommen, aber …«
»Aber?« versetzte Shandon etwas ärgerlich.
»Aber seit Ankunft des zweiten Briefes hab’ ich in dieser Hinsicht meine Ideen ändern müssen.«
»Und weshalb, Doktor?«
»Weil dieser Brief Ihnen zwar die Richtung angibt, welche genommen werden soll, allein über die Bestimmung der Forward keine Auskunft gibt; man muss aber doch wissen, wohin man fährt. Wie kann, frage ich, ein dritter Brief an Sie gelangen, weil wir uns auf hoher See befinden! Auf Grönland muss der Postdienst etwas zu wünschen übrig lassen. Sehen Sie, Shandon, ich denke mir, dieser Schalk wartet auf uns an einem dänischen Platze, zu Holsteinborg oder Uppernawick; dort wird er zu seiner Ladung noch Robbenfelle, Schlitten und Hunde kaufen, kurz alle Gerätschaften, welche für eine Reise in das nördliche Eismeer nötig sind. Es wird mich daher wenig überraschen, wenn wir ihn eines schönen Morgens aus seiner Kabine herauskommen und das Kommando auf eine durchaus nicht übernatürliche Weise führen sehen.«
Sonntagsfeier an Bord
»Möglich«, erwiderte Shandon trocken; »aber inzwischen weht frischer Wind, und es ist nicht klug, zu solcher Zeit seine Masten einer Gefahr auszusetzen.«
Shandon verließ den Doktor und gab Befehl, die hohen Segel aufzugeien.
»Es hält«, sagte der Doktor zum Rüstmeister.
»Ja«, erwiderte letzterer, »und das ist zu bedauern, denn Sie könnten wohl recht haben, Herr Clawbonny.«
Am Samstag gegen Abend fuhr der Forward am Vorgebirge Galloway vorüber, dessen Leuchtturm nordöstlich bemerklich ward; während der Nacht ließ man das Vorgebirge Cantyre im Norden und Kap Fair im Osten der Küste Irlands. Gegen drei Uhr früh lief die Brigg neben der Insel Rathlin vorbei aus dem Nord-Kanal in den Ozean.
Es war Sonntag, der 8. April; die Engländer, besonders die Matrosen, feiern diesen Tag streng; daher widmete man einen Teil des Vormittags dem Vorlesen der Bibel, welches der Doktor gern vornahm.
Der Wind wurde darauf zum Orkan, welcher die Brigg an die irländische Küste zurückzuwerfen drohte; die Wellen wurden stark, und das Schwanken des Schiffes arg. Der Doktor spürte nichts von der Seekrankheit, weil er nicht wollte. Um Mittag verschwand im Süden Kap Malinhead, das letzte Stück von Europa, welches die kühnen Seeleute erblicken sollten.
Man befand sich damals unter 55° 57' Breite und 70° 40' Länge.
Gegen neun Uhr abends legte sich der Sturm, und der Forward blieb als guter Segler in nordwestlicher Richtung; er war nach dem Urteil der Kenner zu Liverpool vorzugsweise Segelschiff.
Während der folgenden Tage kam der Forward rasch nordwärts voran; der Wind schlug um in Süd, und das Meer ging gewaltig hohl; die Brigg fuhr damals mit vollen Segeln. Einige Sturmvögel flatterten über dem Hinterverdeck; der Doktor war so glücklich, einen der letzteren zu schießen, und derselbe fiel an Bord. Er verstand es auch denselben schmackhaft zuzubereiten, indem er zuerst alles unter der Haut liegende Fett ablöste, sodass der ranzige Geschmack, welcher den Seevögeln mitunter eigen ist, völlig beseitigt wurde.
Während des letzten Sturmes hatte Richard Shandon Gelegenheit, sich von den Vorzügen seiner Leute besonders zu überzeugen.
James Wall, der Richard höchst ergeben war, fasste gut auf, verstand gut auszuführen, aber es mochte ihm am selbstständigen Auftreten fehlen; in einer Stellung dritten Ranges war sein Platz.
Johnson, ein erfahrener Seemann, ergraut in Fahrten nach dem Eismeer, war an Kaltblütigkeit und Kühnheit unübertrefflich.
Der Harpunier Simpson und der Zimmermann Bell waren zuverlässige Leute, an strenge Disziplin und Pflichterfüllung gewöhnt. Der Eismeister Foker, im Seedienst erfahren, in Johnsons Schule gebildet, versprach die trefflichsten Dienste zu leisten.
Von den übrigen Matrosen schienen Garry und Bolton die besten zu sein: Bolton, ein lustiger Geselle, munter und redselig; Garry, ein Junggeselle von fünfunddreißig Jahren, energischen Gesichtszügen, doch etwas blass und traurig.
Die drei Matrosen Clifton, Gripper und Pen schienen weniger eifrig und weniger entschlossen; sie murrten gern. Gripper wäre bei der Abfahrt selbst den Dienst wieder aufzugeben geneigt gewesen, hätte ihn nicht einiges Schamgefühl gehalten. Ging es gut, waren nicht allzu viel Gefahren zu bestehen oder Manöver auszuführen, so konnte man auf diese drei Männer bauen; aber man musste sie tüchtig nähren. Trotz der Vorschrift fiel ihnen die Enthaltsamkeit schwer, und bei der Mahlzeit vermissten sie den Branntwein oder Gin; sie entschädigten sich jedoch an Kaffee oder Tee, welche reichlich an Bord gespendet wurden.
Die beiden Maschinisten, Brunton und Plover, und der Heizer Waren waren zufrieden, dass sie bis jetzt die Arme kreuzten. Shandon wusste also, wie er mit jedem dran war.
Am 14. April durchschnitt der Forward den großen Golfstrom, welcher, nachdem er entlang der Ostküste Amerikas bis zur Bank New-Foundlands nordwärts geflossen, sich nordöstlich dem Gestade Norwegens zuwendet. Man befand sich damals unter 51° 37' Breite und 22° 58' Länge, zweihundert Meilen von der Spitze Grönlands ab. Das Wetter wurde kälter; das Thermometer fiel auf 0° des hundertteiligen, d. h. den Gefrierpunkt.
Der Doktor hatte noch nicht seine Polarwinterkleidung angezogen, sondern sein Seemannskostüm, gleich den Matrosen und Offizieren. Es war eine Lust, ihn zu sehen, wie er ganz in den hohen Stiefeln steckte, mit seinem großen Hut von Wachsleinwand, Hosen und Jacke von gleichem Stoff; durch die starken Regen und großen Wellen, welche die Brigg überschütteten, bekam der Doktor das Aussehen eines Seetieres, worauf er sich etwas einbildete.
Zwei Tage lang war das Meer äußerst unruhig; der Wind schlug um nordwestlich und hemmte die Fahrt des Forward. Vom 14. bis 16. April ging die See sehr hohl; aber am Montag erfolgte ein heftiger Platzregen, der das Meer fast augenblicklich beruhigte. Shandon machte den Doktor auf diese eigentümliche Erscheinung aufmerksam.
»Ei«, erwiderte letzterer, »dies bestätigt die merkwürdigen Beobachtungen des Walfischfahrers Scoresby, welcher Mitglied der königlichen Gesellschaft zu Edinburgh ist. Sie sehen, dass während des Regens die Wellen wenig merkbar sind, selbst bei heftigem Wind; dagegen bei trockenem Wetter würde die See auch bei minder starkem Wind mehr aufgeregt sein.«
»Aber, wie erklärt man diese Erscheinung, Doktor?«
»Sehr einfach, man erklärt sie nicht.«
In diesem Augenblicke machte der Eismeister auf eine rechts vom Bord, etwa fünfzehn Meilen unterm Wind, schwimmende Masse aufmerksam.
»Ein Eisberg in diesen Strichen!« sagte der Doktor.
Shandon richtete sein Fernrohr nach der bezeichneten Stelle und bestätigte die Angabe des Piloten.
»Das ist merkwürdig!« sagte der Doktor.
»Darüber staunen Sie?« sagte der Kommandant lachend. »Sollten wir so glücklich sein, auf etwas zu stoßen, das Sie in Erstaunen versetzt?«
»Es ist mir auffallend, ohne dass es mich in Staunen versetzte«, erwiderte lächelnd der Doktor, »denn die Brigg Ann de Poole aus Greenspond blieb im Jahre 1813 unterm vierundvierzigsten Grade nördlicher Breite in wahren Eisfeldern stecken, und ihr Kapitän Dayement zählte die Blöcke nach Hunderten!«
»Gut!« sagte Shandon. »Sie können uns noch dazu belehren!«
»Oh! Das will noch wenig heißen«, erwiderte bescheiden der liebenswürdige Clawbonny, »ist man ja unter noch weit niederen Breitengraden auf Eisberge gestoßen.«
»Damit sagen Sie mir nichts Neues, lieber Doktor. Als ich Schiffsjunge an Bord der Kriegskorvette Fly war …«
»Im Jahre 1818«, fuhr der Doktor fort, »zu Ende März, oder auch April sind Sie unterm zweiundvierzigsten Breitengrad zwischen zwei große schwimmende Eisinseln geraten.«
»Ah! Das ist zu arg!« rief Shandon aus.
»Aber ’s ist wahr; ich brauche also nicht in Staunen zu geraten, wenn uns zwei Grad weiter nördlich ein schwimmender Eisberg aufstößt.«
»Sie sind wie ein Brunnen, Doktor«, erwiderte der Kommandant, »aus dem man nur zu schöpfen braucht.«
»Gut! Ich werde rascher seicht werden, als Sie sich denken, und jetzt, können wir die Erscheinung näher ansehen, Shandon, so würde mir es eine große Freude sein.«
»Sogleich, Johnson«, sagte Shandon zu seinem Rüstmeister, »der Wind wird, scheint es, stärker.«
»Ja, Kommandant«, erwiderte Johnson; »wir gewinnen jedoch wenig, und die Strömung der Davis-Straße wird sich bald fühlbar machen.«
»Sie haben recht, Johnson, und wenn wir am 20. April das Kap Farewell in Sicht haben wollen, müssen wir mit Dampf fahren, oder wir werden an die Küste von Labrador getrieben. Herr Wall, wollen Sie also Befehl zum Heizen erteilen.«
Dieser Befehl wurde ausgeführt; nach einer Stunde hatte der Dampf schon hinreichende Treibkraft; die Segel wurden beschlagen, und die Schraube trieb den Forward kräftig dem Nordwest entgegen.
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