Wenn Schattenmächte weichen

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Wenn Schattenmächte weichen
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Inhaltsverzeichnis

Lichtung des Geheimnisses

Weiße Begegnung

Von zitternder Hand

Der Atem der Macht

Halte ein!

Die Kerbe

Leb wohl, Lerchenkind

Hasenherz

Baumstämme versetzen

Das Brausen der Bitterkeit

Zu Boden geschmettert

Entscheidungsträchtig

Zwischen kalten Häuserfronten

Mit Messer und Feder

Feind und Feind

Der Schrei der Not

Gattertür ins Verderben

Die letzte Wandlung

Hexenmacht

Blind

Die Tiefe der Schuld

Gejagt

Bittere Beeren und grausiges Gras

Dein Liebstes

Vogelwesen

Flügelrauschen

Wind gegen Federn?

Düstere Ahnung

Lächelnde Scherben

Wirrnis im Kiefernwald

Tücke, Trug und Täuschung

Kein Entrinnen

Grüne Splitter

Dem Himmel entgegen

Stachel der Verlassenheit

Der Eule letzte Warnung

Ort des Fluches

Die Zelle der Verzweiflung

Am Rand des Todes

Der Hall des Ungehörten

Bei allen bösen Mächten dieser Erde

Der geheime Ort

Die Wahrheit

Hexenwerk

Herzen in Fetzen

Der Fraß des Bösen

Selbst Wahrheit schwindet

Feuerkugel der Macht

Heilung der Herzen

Im Licht

Danke an meine wunderbaren Begleiter

Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© 2021 Judith Berger, www.judithberger.ch

Verlag: spiritbooks · www.spiritbooks.de · 70771 Leinfelden-Echterdingen

Satz & Layout / E-Book: Büchermacherei· www.buechermacherei.de

Covergestaltung: OOOGRAFIK · www.ooografik.de

Landkarte: Liza Maria Denski

Autorenfoto: © Deborah Berger

Cover- / Layoutbilder: #20101700, #193542119, #220696040, #253223174, #278136692, #278918146, #354624020, #115690281 | AdobeStock

Druck und Vertrieb: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg · www.tredition.de

1. Auflage (Version 1.1)

978-3-949720-00-0 (Paperback)

978-3-949720-01-7 (Hardcover)

978-3-946435-11-2 (E-Book)


Zarte Hände, hell wie Porzellan, legten behutsam einen frisch gepflückten Blumenstrauß auf die dunkle Erde direkt unter das Holzkreuz. Die Sonne beschien die Farbenpracht und brachte sie zum Leuchten. Mila ließ die Strahlen auf ihrer Haut tanzen. Schaute dem Spiel aus Licht und Schatten zu. Die Natur war durcheinander. Blumen um die Wintersonnenwende. Doch es war schön. Genau so schön, wie die Sonnenstrahlen im Wald. Mila sog den Duft von feuchtem Moos und würzigen Tannen tief ein. Und noch viel schöner war diese Lichtung. Hier stand die Zeit still. Hier wohnte Ruhe, die Kraft der Bäume und das Zwitschern der Vögel. Hier war der Ort des Seins. Vielleicht zog es Mila deshalb täglich hierher.

Ein Windhauch strich ihr durchs Haar.

„Hell wie das Mondlicht“, hatte Oma immer gesagt, wenn sie sie gebürstet hatte, „und schimmernd wie flüssiges Silber.“ Stundenlang hätte die alte Frau ihre Haare bürsten kann. Viel länger, als ein kleines Mädchen stillsitzen kann. Doch wann immer Mila angefangen hatte mit den Beinen zu zappeln, hatte Oma gelacht und gesagt: „Ab mit dir. Spring mit dem Wind, hüpfe im Regen und tanze im Licht.“

Inzwischen war sie kein Kind mehr. Morgen würde sie 16 Jahre alt werden und damit erwachsen. Ihre Haare hatte sie auf Schulterlänge gestutzt und Oma war seit über zwei Jahren tot. Heimlich hatte Mila ihr Grab ausgehoben, damit niemand erfuhr, dass sie tot war. Heimlich hatte sie Tränen vergossen, bis keine mehr gekommen waren und heimlich zog es sie immer wieder an diesen Ort, wenn die Einsamkeit sich mit kaltem Griff um sie legte. Niemand durfte wissen, dass Milas letzte Verwandte gestorben war. Keiner durfte ahnen, dass sie allein in der Waldhütte lebte, denn sonst würde sie als Mündel des Roten Egon enden. Dem Mann ihrer verstorbenen Tante.

Mila versuchte den bitteren Geschmack in ihrem Mund herunter zu schlucken. Bei Egon wäre sie gebunden, für immer. Er würde sie nicht gehen lassen selbst wenn sie 16 war. Sie wäre gefangen in den Ketten der Sklaverei.

Schnell schüttelte sie den Kopf, um den Gedanken wegzuscheuchen.

„Ich habe dir noch etwas mitgebracht, Oma.“ Eifrig holte Mila eine Pflanze aus ihrer Gürteltasche, der Gürteltasche, die sie immer bei sich trug. Wie eine echte Heilerin. Wie Oma.

„Ich war gestern bei der Hauernquelle. Sie führt fast kein Wasser. Alles ist trocken. Dafür habe ich etwas gefunden, das ich niemals erwartet hätte. Speick. Weißt du noch, wie wir tagelang unterwegs waren, um zu der Stelle zu gelangen wo der Speick wächst? Und jetzt gibt es ihn keinen halben Tagesmarsch entfernt auf der Höhe der Hauernquelle. Weil es so trocken geworden ist. Jetzt gibt es ihn im Ostwald.“

Natürlich, sonst hätte ihn Mila nicht pflücken können. Sie bewegte sich nur im Ostwald. Er war groß und weit. Man konnte tagelang umherstreifen und Kräuter sammeln. Doch niemals würde sie dieses Gebiet verlassen. Niemals würde sie von ihrer Hütte aus den überwucherten Pfad Richtung Südwesten gehen. Den Pfad ins Dorf, nach Rielau. Zu den Menschen. Niemals zu den Menschen. Zu groß war die Angst, dass sie sich verraten könnte und jemand herausfände, dass sie alleine lebte. Nein, sie blieb hier, in der Ruhe. Liebevoll legte sie den Speick neben den Blumenstrauß. Oma hatte dieses Kraut geliebt. Nicht nur wegen seiner Heilkraft auf den Körper. Auch wegen der inneren Ruhe, die er dem Herzen schenkte.

 

Ein Knacken ließ Mila auffahren. Sie blickte zum Wald. Geräusche drangen an ihr Ohr. Fremd und ungewohnt. Etwas, das nicht hierhergehörte. Etwas, das nicht sein durfte. Menschen aus dem Dorf? Hier, mitten im Wald? Mila schauderte.

Kreischend stob ein Vogelschwarm in den Himmel. Mila blickte mit zitterndem Herzen in die Richtung, in der sie sein mussten. Die Menschen. Sie war sich ganz sicher, so bewegte sich kein Tier fort. So stampften nur Menschen, die den Herzschlag des Waldes nicht kannten. Und sie kamen näher.

Sie durften sie nicht sehen. Und das Grab auch nicht. Wenn sie das Grab von Oma sahen, war ihr Geheimnis aufgedeckt!

Mila griff nach Tannenzweigen, Ästen und Gehölz, die in der Nähe lagen. Wild schichtete sie alles über das Holzkreuz. Mehr und immer mehr, bis es nicht mehr zu sehen war.

Zwischen den Tannen blitzte Gelb und Grün auf. Zeternde Stimmen drangen an ihr Ohr. Jeden Moment würden die Menschen auf die Lichtung brechen. Milas Herz raste. Gehetzt warf sie einige Blicke um sich. Wo sollte sie sich verstecken?

Ein Haselstrauch am Rand der Lichtung. Grüne Zweige, zum Schutz gehoben. Mila hetzte hin, duckte sich und schlüpfte atemlos ins Grün. Ihre Brust hob und senkte sich. Sie drückte sich eng gegen die harten Zweige.

Schon brachen sie heraus. Eine kleine, stämmige Frau mit wippenden Locken. Eine Zwergin. „… ich weiß ganz genau, dass ich sie gesehen habe, wenn ich es dir doch sage!“

Mila kannte sie von früher. Sie war die Krämerin des Dorfladens.

„Ich habe hier etwas Rotes und etwas Helles durch die Tannen hindurch gesehen. Sie muss hier sein!“

Mila zog Omas rotes Schultertuch enger und starrte verzweifelt auf ihr hellblaues Kleid.

„Kriemhild, bist du denn wahnsinnig? So weit rennt niemand in den Wald und eine verblödete Ziege ist nicht rot!“

Ein Zwerg wankte auf die Lichtung. Mila wusste es sofort: Das war Ignaz, Kriemhilds Mann. Der graue, lange Bart und die stechenden Augen. Sie hatten etwas Linkisches. Wie oft hatte sich Mila hinter dem Rock ihrer Oma versteckt, wenn er im Krämerladen stand statt seiner Frau. Oma hatte einmal im Monat Dinge des Alltags gegen Kräutertinkturen eingetauscht. Schlussendlich war Mila schon von Anfang an durch den Laden nach oben in die Dachstube zur alten Hedwig gerannt, egal ob der Zwerg da gewesen war oder nicht.

„Nichts, zum Henker nochmal“, donnerte Ignaz. „Überhaupt nichts. Such die doofe Ziege allein, mir reicht’s.“

„Aber …“

„Nein! Ich will …“ Er stockte und starrte auf den Haufen Zweige in der Mitte der Lichtung.

„Ignaz, ich finde …“

„Schschscht!“ Es klang scharf. Ignaz hob die Hand, um seine Frau zum Schweigen zu bringen.

Mila hielt die Luft an. Der Zwerg starrte noch immer auf die Stelle, wo Omas Grab versteckt war. Er machte drei Schritte darauf zu.

Nein! Ein Sturm tobte in Milas Kopf. Er durfte das Grab nicht entdecken.

Die Hand des Zwerges glitt nach vorne zu einem großen Ast.

„Nein!“ Mila sprang aus ihrem Versteck, mitten auf die Lichtung.

Die Hand sank zurück. Zwei Augenpaare sahen sie verdutzt an.

„Ich …“ Milas Ohren wurden rot und unter ihren Füßen brannte es, als ob sie in einem Ameisenhaufen stände.

Die Augenpaare wanderten an ihrer Gestalt von oben nach unten und wieder hinauf.

„Wer bist du?“, fragte Kriemhild aus walnussgroßen Augen.

„Mila.“ Schon war es draußen. Herausgerutscht. Sie hätte ihren Namen niemals sagen sollen. Hätte ihn verborgen halten müssen.

Zu spät.

Ignaz kniff die Augen zusammen. „Mila …? Du bist doch das Mädchen von der alten Heilerin.“

„Was, die?“ Kriemhild schlug die Hände an ihre runden Backen. „Die kleine Enkelin von der alten Trude? Dich hätte ich gar nicht mehr erkannt, ohne Zöpfe und, meine Güte, bist du groß geworden. Beinahe schon eine junge Frau!“

„Kriemhild“, knurrte Ignaz.

„Das ist aber eine Überraschung, dich zu sehen. Du warst ja eine Ewigkeit nicht mehr im Dorf. Die Salben und Tränklein fehlen uns. Sag, wie geht es deiner Großmutter? Es heißt, sie sei sehr krank.“

„Kriemhild!“

„Kind, es wäre so schön, wenn du uns im Laden besuchen würdest.“ Sie watschelte auf Mila zu. Ignaz griff sie am Oberarm und riss sie zurück.

„Frau, schweig endlich!“

Erschrocken blickte Kriemhild ihren Mann an.

Der taxierte Mila mit stechendem Blick. Am liebsten wäre sie im Boden versunken. Unter ihren Füßen begannen die Ameisen wieder zu kribbeln.

„Du bist also die Kleine der Heilerin.“

Mila biss sich auf die Lippen.

„Und was hast du hier zu suchen?“ Er trat einen Schritt nach vorne. „Ich meine, hier, in dieser verlassenen Wildnis.“ Seine Hand machte eine ausholende Bewegung.

Mila sah unverwandt in die bohrenden Augen. Die Ameisen schienen ihre Beine hinauf zu krabbeln.

Er blickte zu dem versteckten Grab. „Du hast einen Holzhaufen gemacht. Wofür?“ Es blitzte in seinen Augen. Die Ameisen waren in Milas Bauch angekommen. Ignaz spürte ihre Angst das sah Mila genau. Der Zwerg schnüffelte dieser Angst nach, wie ein Wolf einem verletzten Reh.

Seine Hand hob sich zu einem der Äste auf dem Haufen, während er sie unverwandt anstarrte. Die Ameisen erreichten Milas Brust. Sie schnappte nach Luft.

Kriemhild patschte ihrem Mann auf die Hand. „Na, zum Feuer machen natürlich, Dummerchen. Schau sie nur mal an. Das zerrissene Kleid, der rote Umhang ist auch nur ein Fetzen und dieses selbst zusammengeflickte Schuhwerk hat nicht mal den Namen verdient.“

Kriemhild trat auf Mila zu und fasste ihre Hand. „Kind, du musst unbedingt in unseren Laden kommen. Bring Salben mit und vor allem das Lebenselixier. Hast du noch davon? Ein Fläschchen und du darfst dir alles aussuchen was dein Herz begehrt.“

Mila schluckte. Ignaz sah sie noch immer bohrend an. Er stieß ein drohendes Knurren aus. „Und ich frage, was sie in diesem Wald tut.“

„Natürlich sucht sie Kräuter“, sprudelte Kriemhild, „wie es sich für eine kleine Heilerin gehört. Und sie wird uns davon in den Laden bringen, richtig Kindchen?“

Mila sah von den braunen Kugelaugen zu den hämischen Schlitzen und wieder zurück. Ignaz machte einen weiteren Schritt auf sie zu. „Wird sie das?“

Die Ameisen verbrannten ihr beinahe die Kehle. Die Angst hatte sich wie eine bleierne Decke auf sie gelegt. Der Zwerg, der ihr nur bis zur Schulter ging, war zum Riesen geworden und die Angst wuchs unaufhaltsam weiter. So unaufhaltsam, wie Ignaz sich ihr näherte, dem waidwunden Reh.

Er würde sie packen, ins Dorf schleppen und Egon ausliefern. Er witterte was los war.

Um Mila herum war es still. Selbst Kriemhild schien für einen Moment die Luft anzuhalten. Mila sah nur die grauen Augen ihres Jägers. Noch ein Schritt, dann würde er sie erhaschen. Milas Angst explodierte. Sie war größer als die Angst vor dem Dorf, tiefer als die Gefahr des Roten Egon. Da war nur ihr Jäger und sie.

„Wird sie zu uns in den Laden kommen?“

Auge in Auge. Milas Kopf wog zentnerschwer. Langsam nickte sie.

„Haha“, Kriemhild lachte auf, „siehst du, ich sag es doch. Sie wird kommen und uns Ware liefern. In unseren Laden.“ Kriemhild nahm Mila am Arm und drehte sie mit sich um. „Komm Kind, du kannst gleich mitgehen. Ich zeige dir den Weg. Du bist ja ganz kalt.“

„Und wie soll sie ihre Waren holen?“

„Stimmt“, Kriemhild stieß ein meckerndes Lachen aus, „aber natürlich. Das habe ich ganz vergessen. Du musst zuerst nach Hause, um die Salben zu holen.“

„Und du musst eine Ziege suchen, Frau“, bellte Ignaz.

Kriemhild zog eine Schnute. „Aber Schatzelchen, das ist doch jetzt nicht so wichtig.“

„Natürlich ist es wichtig. Du suchst diese blöde Ziege und zwar auf den Feldern, nicht im Wald.“

„Wir suchen gemeinsam.“

„Nein, ich habe keine Zeit. Ich gehe weiter.“

„Du musst schon los? Ich dachte das Treffen beginnt erst in der Na...“

Ignaz trat ihr mit voller Wucht auf den Fuß.

„Au!“, schrie sie auf. „Das hat weh getan!“

„Wirst du wohl den Mund halten, Weib?“

„Aber …“

„Schweig!“

Kriemhild klappte ihren Mund zu.

Ignaz wandte sich schwungvoll Mila zu. „Und du, Mädchen, bringst uns noch vor Sonnenuntergang von deinen Kräutern, verstanden?“

Mila nickte.

Er trat an sie heran, hob den Kopf und flüsterte zu ihr hinauf: „Wir haben ein Häuschen im Wald gesehen. Ich weiß, dass du dort wohnst. Also spute dich, sonst hole ich dich eigenhändig mitsamt deinen Kräutern ins Dorf.“

Ihr wurde kalt.

Der Zwerg drehte sich um und marschierte von der Lichtung. In die entgegengesetzte Richtung aus der er und seine Frau gekommen war.

Mila stand neben Kriemhild und sah zu, wie Ignaz zwischen den Bäumen verschwand. Ihr Blick glitt über die Lichtung, das grüne Gras, den Haufen unter dem Omas Grab lag. Heimlich und versteckt. Nichts war mehr wie vorher. Die Ruhe und der Frieden waren von der Lichtung verschwunden.

„Ich muss gehen“, stieß Mila aus. Sie wandte sich um und rannte in den Wald hinein. Ihr Kopf war heiß. Tränen wollten herausbrechen. Als sie den ersten Schluchzer hinunterschluckte, flötete Kriemhild von weitem: „Bis heute Abend. Und vergiss das Lebenselixier nicht.“


Sie rannte und rannte. Ihre Haare peitschten gegen ihre Wangen. Das rote Schultertuch wurde von Ästen und Zweigen festgehalten. Zerrissen. Dornen zerkratzten Milas Beine, doch es war ihr gleich. Sie rannte blind in den Wald hinein. Rannte dem Zwerg davon, seiner Drohung und der ganzen Lichtung.

Und sie wollte nicht weinen. Nicht wegen eines Zwerges. Nicht wegen Oma und schon gar nicht wegen des Sturmes, der in ihr tobte. Mit dunklen, mächtigen Gewitterwolken.

Keuchend blieb Mila stehen. Sie wollte nicht ins Dorf, wollte nicht unter all die Menschen und keinesfalls wollte sie den Laden des Zwerges betreten.

Sie wollte in ihrem Wald bleiben. Bei den Tannen und den Vögeln. Ihre Ruhe haben. Sie wollte die Ruhe der Lichtung zurück. Doch die Ruhe war nirgends. Überall herrschte Aufruhr. In ihr. Um sie.

„Ich gehe einfach nicht hin“, stieß sie aus und wusste, noch während die Worte auf ihren Lippen lagen, dass es nicht ging. Ignaz würde in ihre Hütte kommen. Er würde keine Oma vorfinden. Und er würde wissen, dass Mila alleine war. Er würde sie noch am selben Abend zu Egon, ihrem Vormund schleppen. Und dann wäre sie seine Sklavin. Egon würde ihr niemals die Freiheit des Erwachsenseins geben.

Und wenn sie doch ins Dorf ging? Ihr Magen krampfte sich zusammen. Sie hatte Angst vor den Menschen. Ihren Fragen. Wie geht es deiner Oma? Warum haben wir dich so lange nicht mehr gesehen?

Was sollte sie sagen? Die Angst zog sich hinauf und legte sich wie ein Band um ihren Hals. Sie wollte nicht gehen. Sie konnte nicht bleiben. Es zerrte sie hin und her. Immer stärker. Gleich würde es sie in Stücke reißen!

„Und ich gehe doch nicht hin“, platzte es aus ihr heraus. „Ich gehe nicht dorthin!“

Wütend trat sie mit dem Fuß einen Stein fort. Er flog durch die Luft und landete raschelnd im Gebüsch. Wie eine weiße Kugel schoss ein Tier zwischen den Blättern heraus, flitzte über den Weg und verschwand im nächsten Strauch. Stille breitete sich aus.

Was war das gewesen? Neugier und Vorsicht legten sich über Mila, als sie behutsam einen Fuß vor den anderen setzte. Sie lugte zwischen den Blättern hindurch. Weißes Fell blitzte auf. Erneutes Rascheln, als sich das Tier weiter zurückzog. Es hatte mehr Angst vor ihr als sie vor ihm.

Mila ging in die Hocke. Langsam schob sie einen Zweig beiseite.

Zwischen den Ästen hockte ein Hase. Er hatte die Vorderpfoten schützend über den Kopf gelegt und hielt sich mit den langen Ohren die Augen zu. Sein Körper zitterte.

„Du musst keine Angst haben“, flüsterte Mila sanft. Sie zog sich ein Stück zurück. „Ich werde dir nichts tun.“

Ein Hasenohr schob sich zur Seite und brachte ein großes, blaues Auge zum Vorschein. Der Blick schweifte umher, bis er auf Mila traf. Er erstarrte. Schwupp, schnellte das Ohr wieder vors Auge. Leises Flüstern klang von dem Fellknäuel empor: „Ich bin nicht da. Niemand kann mich sehen, überhaupt gar niemand.“

 

Ein sprechendes Tier. Eines, das kaum Kontakt zu Menschen gehabt hatte. Das sich die Sprache erhalten hatte. Normalerweise mied sie diese Tiere. Sie konnten sprechen. Auch ihr Geheimnis aussprechen. Doch etwas in Mila hielt sie da. Vielleicht war es, weil das Häschen immer noch vor sich hinmurmelte.

„Niemand kann mich sehen …“

In Milas Mundwinkeln zuckte ein Lachen. „Hmmm … Wenn du ein weißes, süßes Häschen mit einer rosa Nase bist kann ich dich sehen.“

Die Ohren flogen nach oben. Das Tier setzte sich auf und funkelte Mila an. „Ich bin nicht süß und meine Nase ist rotbraun.“

Mila legte den Kopf schief. „Also, für mich sieht sie rosa aus.“

„Es ist ein sehr helles Rotbraun. Vielleicht hat es einen Stich rosa drin, aber deshalb bin ich noch lange nicht süß. Ich bin ein stattlicher Hasenmann! Und wer bitteschön bist du?“

„Ich bin …“ Sie stockte. Mit neuer Wucht brach es auf sie herein. Das Grab, der Zwerg und das dumme Versprechen das sie gegeben hatte. Hätte sie nur nie ihren Namen genannt.

„Wer ich bin ist nicht wichtig.“ Mila senkte den Blick. „Ich muss jetzt weiter.“ Hurtig stand sie auf.

„Moment!“ Der Hase sprang vor sie auf den Weg. Erschrocken sah er sich um und zog sich drei Schritte zurück unter einen schützenden Zweig. Nicht mehr ganz so fest klang seine Stimme hinter den Blättern hervor: „Du kannst nicht hierherkommen, herumschreien, mich aus meinem Versteck jagen und dann einfach so verschwinden, ohne mir zu sagen wer du bist. Außerdem hast du gerufen: Ich gehe nicht. Also kannst du auch nicht gehen.“

Er war so goldig. Und wie recht er hatte. Mila bückte sich zu dem Hasen hinab. „Ich bin …“

Angst ließ sie erneut stocken. Sie sah in die großen, blauen Augen. Vor ihr saß ein Tier, rein und klar. Ein Geschöpf des Waldes. Und dieses Geschöpf hatte ziemlich große Angst. Ein Hasenohr zitterte schon wieder. Es würde nichts geschehen, wenn sie ihren Namen aussprach.

Sie räusperte sich. „Mila. Ich bin Mila.“

„Und ich heiße Bamper.“