Czytaj książkę: «Mittendrin und am Rande – Lebenserinnerungen eines Vertriebenen», strona 7

Czcionka:

Die kleinen Gänsekinder übten auf uns Kinder eine große Anziehungskraft aus. Sie waren so schön kuschelig und weich und sprachen mit angenehmen Gänselauten miteinander. So war es nur verständlich, dass wir die Gänschen auf den Arm nahmen und uns ihr weiches Flaumgefieder an die Wangen drückten. Dann aber riefen die Kleinen nach ihrer Mutter, weil ihnen das ungewohnt war, und weil sie sich vielleicht auch vor uns fürchteten, obwohl wir doch selbst noch so klein waren. Aus der Sicht dieser Küken waren wir natürlich Riesen, und vielleicht waren wir auch noch sehr ungeschickt und fassten diese zarten Wesen viel härter an, als es gut war. Jedenfalls riefen sie nach ihrer Mutter, die dann auch prompt zur Stelle war, aber wie! Sie streckte den Hals weit vor und zischte uns so gefährlich an, dass wir die Gänschen gleich wieder auf den Boden setzten und flüchteten. Heute weiß ich, dass das nur eine Drohgebärde war. Aber heute ist heute, und damals war damals.

Noch bedrohlicher oder gefährlicher war für uns Kinder der Gänserich. Wenn wir an einer Gänseherde vorbeikamen, war höchste Wachsamkeit geboten. Gänse grasen immer in Gemeinschaft, in einer richtigen Herde. Und zu einer solchen Herde gehörte bei uns im Dorf immer auch ein Gänserich.

Vor dem hatte ich große Angst. Immer wenn wir Gänseherden begegneten, machten wir Kinder uns aus dem Staub. Oft waren wir aber nicht schnell genug. Dann kam der Gänserich mit weit vorgestreckten Hals hinter uns hergerannt und stieß ein fürchterliches Zischen aus. Wenn wir ihn nicht entkommen konnten, biss er uns in die Waden oder, schlimmer, flog uns auf den Rücken, biss uns in den Hals und schlug Furcht erregend mit seinen großen Flügeln auf uns ein. Die Gänse schnatterten dabei lautstark. Es schien uns wie ein gewaltiges Getöse. Ein Albtraum.

Fielen wir dabei auch noch hin, dann war das Unglück komplett, wir schrien um unser Leben. Denn der riesige Vogel ließ freiwillig nicht von uns ab und jagte uns mit seinem Geschrei, Flügelschlagen und Beißen Todesangst ein. Ein Auge hätte dabei auch leicht verloren gehen können. Dazu kam es aber nicht, denn bald kam ein Erwachsener und befreite uns von dem Peiniger.

Schlittenfahren in Perbál

Es lag hoher Schnee. Auf dem Weg zwischen den Häusern unserer Großeltern war ein Pfad freigeschaufelt, der wegen der Glätte mit Asche bestreut war. Der Pfad senkte sich zum Haus der Kopp Großeltern hin etwas. Wir Kinder versuchten auf Schlitten, diesen „Berg“ hinunterzufahren. Als Kinder hatten wir einen selbst gemachten Schlitten, zumindest sah er so aus. Er bestand aus drei Brettern, zwei standen hochkant und bildeten rechts und links die Kufen. Ein etwas breiteres Brett war quer darüber genagelt und diente als Sitz. Selbstverständlich waren die Kufenbretter vorn abgerundet, sonst hätte der Schlitten nicht fahren können. Zwischen den Kufen war vorn eine stärkere Latte quergenagelt, an der das Zugseil festgebunden war. Zwischen dieser Latte und dem Sitzbrett war ein Zwischenraum. Wenn wir gezogen wurden, stellten wir die Füße vorne auf die Querlatte und hielten uns an den Sitzkanten fest. Griffe oder so etwas gab es dafür nicht. Auch eine Rückenlehne fehlte. Wenn wir schneller gezogen wurden, fielen wir leicht hinten vom Schlitten herunter, weil wir uns nicht richtig festhalten konnten. Wenn viel Schnee lag, war das weiter nicht schlimm, dann fielen wir weich. Wenn wenig Schnee da war und der Boden hart gefroren, dann tat so ein Sturz weh, und entsprechend groß war das Geschrei, wenn wir auf den Boden knallten.

Ich sehe noch heute deutlich die Schneewände rechts und links der Schlittenbahn und die Ascheflecken auf der sonst weißen glatten Fläche. Damals, im Winter 1945/1946, war ich vier Jahre alt. Unser Schlittenberg erschien mir riesig. Er erschien mir so groß, dass ich mich anfangs gar nicht hinunterzufahren traute. Ich stand auf diesem riesigen Berg und schrie fürchterlich, gerade so, als sollte ich augenblicklich umgebracht werden. Es bedurfte vieler Fahrten auf dem Schoß von größeren Kindern oder Erwachsenen, bis ich mich endlich allein hinunterwagte. Später, als ich Perbál nach zweiundvierzig Jahren wieder besuchte, musste ich über meine frühere Angst vor dem großen „Berg„ lächeln. Für einen Erwachsenen ist er nur eine flach abfallende Böschung zwischen zwei parallel verlaufenden Lehmwegen, die im Unterdorf die Straßen bildeten. Der kleine Hügel war mit Gras bewachsen, und ein ausgetretener Fußweg verband die beiden Straßen miteinander, unsere ehemalige Schlittenbahn.

Um ihre Benutzung gab es Streit zwischen Kindern und den Erwachsenen. Wenn Schnee lag und die Erwachsenen ihn festgetrampelt hatten, konnten wir besonders gut Schlitten fahren. Dadurch wurde der Weg mächtig glatt und die Erwachsenen rutschten aus und fielen hin. Dann schimpften sie laut auf diese nichtsnutzigen Kinder, die durch ihre Schlittenfahrerei alles glatt machten. Wenn einer hingestürzt war, dauerte es nicht lange, und er kam mit dem Aschkasten aus dem Ofen und streute Asche auf unsere schöne Schlittenbahn. Danach war sie stumpf. Jetzt waren es die Kinder, die schrien und schimpften, weil ihre Schlitten nicht mehr den Berg hinunterfuhren. Wenn das ein paar Mal vorgekommen war, fuhren wir Kinder neben diesem verhunzten Weg den Berg hinunter, und dagegen hatten die Erwachsenen nichts mehr. Leicht war es aber nicht, eine neue Bahn festzutrampeln, denn in Perbál lag im Winter meistens viel Schnee.

Wintergeschichten

In Perbál zogen die Pferde bei Schnee große Schlitten. Es gab solche für „vornehme Leute“, die dienten quasi nur zum Spazierenfahren und waren so etwas wie Kutschen auf Schlittenkufen. Man saß auf zwei Bänke hintereinander und die darauf saßen, hatten es schön warm. Ihre Füße, an denen sie sowieso schon dicke Fellstiefel trugen, steckten in warmen Fußsäcken aus Fell. Um Beine und Körper waren zudem dicke Felldecken gewickelt, durch die kein noch so kalter Wind hindurch blies. Natürlich trugen sie auch Felljacken oder solche aus dicker Wolle und auf dem Kopf war eine Pelzmütze. Aber das konnten sich nur die reichen Leute leisten, zu denen wir nicht gehörten, auch wenn uns mein Großvater später oft erzählte, wie weit er es in Ungarn aus eigner Kraft gebracht hatte. Die ärmeren Leute, die kleinen Bauern und Händler, fuhren gewöhnlich mit einem gröberen Lastschlitten, der wie ein Ackerwagen auf Kufen aussah. Auf ihm hockten die Männer und jungen Burschen und ließen die Beine vorn, rechts und links der Deichsel, herunterbaumeln. Resolutere Mädchen und Frauen fuhren ebenso mit, ihre Beine baumelten hinten herunter. Für die Ängstlicheren wurde eine Bank oben auf den Schlitten geschraubt, auf der sie dick vermummt saßen.

Wenn es etwas zu transportieren gab, zum Beispiel Säcke mit Getreide zur Mühle, lagen sie oben auf den Brettern. Oft wurde auch ein Schwein oder ein Schaf transportiert, das in einer Kiste aus Latten eingesperrt war. So konnte immer jeder sehen, welche Fracht mit dem Schlitten durch die Gegend gefahren wurde. Neugierig wurden die Leute nur, wenn jemand mit einer geschlossenen Bretterkiste durch die Gegend fuhr. Sie hätten nur zu gern gewusst, was da wohl drin war. Wenn einer keine zwei Pferde zum Vorspannen hatte, musste er sich eines beim Nachbarn oder bei Verwandten ausleihen. Aber wer verleiht schon gern seine Pferde? So kam es, dass vor manche Schlitten nur ein Pferd gespannt war. Das sah man öfter. Ein Pferd war damals für einen Kleinbauern schon ein kleines Vermögen, das nicht jeder hatte.

Lenkten jüngere Männer oder Burschen einen Schlitten, standen sie meistens darauf und knallten laut mit der Peitsche, vor allem dann, wenn weniger Schnee lag und die Pferde gut laufen konnten. Dann flitzten die Schlitten die Dorfstraße entlang, die Pferde trabten oder liefen im Galopp, und die Schlittenlenker mögen sich wohl vorgekommen sein wie die Wagenlenker im alten Rom, die mit ihren Rennkarossen durch die Arena jagten. Aber die allermeisten dieser Flitzer hatten von der Rennbahn in Rom nichts gehört, denn in Perbál ging man zu dieser Zeit nur sechs Jahre zur Schule, noch früher sogar nur vier. Und der Dorfschullehrer hatte sicher anderes zu tun, als diesen Sprösslingen etwas über die römische Geschichte zu erzählen. Viele werden ihre Mühe gehabt haben, richtig lesen und schreiben zu lernen. Aber das machte damals nicht so viel aus, weil nur die wenigsten Zeitungen oder Bücher lasen. Ausnahmen gab es jedoch. Ein Buch befand sich in jeder Familie, das war die Bibel, und wer nicht richtig lesen konnte, dem wurde eben vorgelesen. Rechnen musste man können, darauf kam es an. Wer nicht rechnen konnte, der kam auf keinen „grünen Zweig“ oder wie man heute sagt: Der konnte es nicht weit bringen. Im Sommer konnten die Kinder an Wochentagen häufig nicht zur Schule gehen, weil sie auf den Feldern helfen mussten. Für die gab es die Sonntagsschule, in der sie im rechten Glauben unterwiesen wurden und das versäumte Schulpensum nachholen konnten.

In manchem Winter war der Schnee so hoch, dass ein Dorf tagelang von den Nachbardörfern und damit von der übrigen Welt abgeschnitten war Die Straße konnte man nicht benutzen. Einen Schneeräumdienst, wie wir ihn heute kennen, gab es nicht. Der Schnee musste mit Schippen beiseitegeschafft werden oder bestenfalls mit einem Schneepflug, der von Pferden gezogen wurde. Aber wenn der Schnee sehr hoch war und die Pferde darin stecken blieben, konnten sie den Pflug natürlich auch nicht mehr ziehen. Innerhalb des Dorfes wurden dann Pfade freigeschaufelt. So entstanden regelrechte Schluchten im Schnee, über deren Rand wir Kleinen nicht hinausgucken konnten. Die Erwachsenen mussten uns auf die Arme heben oder gar auf die Schultern setzen, wenn wir etwas sehen wollten. Es gibt viele Geschichten über den Schnee und die eingeschneiten Dörfer in Ungarn, die wir an den langen Winterabenden den Erwachsenen in der warmen Stube abgelauscht haben. Die haben vielleicht ein bisschen übertrieben, aber etwas muss an ihnen dran gewesen sein. Wir Kinder haben sie jedenfalls geglaubt, z. B. folgende:

In einem solchen schneereichen Winter fuhr ein Mann mit seinem Pferdeschlitten von Perbál nach Budapest. Das ist ein Weg von etwa fünfundzwanzig Kilometern. Von dieser Fahrt, so erzählte es uns der Großvater, ist der Mann nicht mehr ins Dorf zurückgekommen. Tagsüber hatte es so viel geschneit, dass die Pferde in einem Hohlweg zwischen zwei Dörfern im Schnee versanken und nicht mehr weiterkamen. Es war schon dunkel, und der Mann wollte zu Fuß Hilfe holen. Aber auch er blieb im Schnee stecken und kam nicht weit. Den Mann, die Pferde und den Schlitten fanden am anderen Tag Männer, die sich aufgemacht hatten, ihren Nachbarn zu suchen. Denn natürlich hatte die Frau in der Nacht noch die Dorfleute alarmiert, dass ihr Mann nicht zurückgekommen sei. Aber in einer solchen stürmischen Winternacht, bei so tiefem Schnee konnte man niemanden suchen, ohne selbst zu erfrieren.

Man fand den Mann nur etwa hundert Meter von seinem Schlitten entfernt. Erschöpft war er in den Schnee gesunken und in der eiskalten Nacht erfroren. Stocksteif lag er da, und man musste ihn vorsichtig transportieren, damit ihm die glashart gefrorenen Arme und Beine nicht abbrachen. Auch die Pferde waren erfroren. Sie standen noch angeschirrt im Schlitten, und die Männer konnten an den Spuren im Schnee sehen, wie die armen Tiere verzweifelt versucht hatten, aus dieser Schneefalle herauszukommen. Es war leider vergebens. Der Mann und seine Tiere waren das Opfer seines Leichtsinns geworden. Später erfuhren die Dorfleute nämlich, dass der Mann aus Perbál von seinen Bekannten in der Stadt gewarnt worden war, in der Dunkelheit und bei dem großen Schneetreiben noch nach Hause zurückzufahren. Er hatte aber nicht auf ihren Rat gehört. So hatte er sich und seine Pferde umgebracht. „So geht es denen, die nicht auf den Rat von vernünftigen Leuten hören“, sagte der Großvater zu uns staunenden Kindern gewandt. Wir saßen nämlich vor dem Ofen auf einem kleinen Holzschemel und hörten mit weit offenen Augen und aufgesperrten Mündern dieser Geschichte zu, voll Mitleid mit dem Mann und den armen Rössern.

Eine weitere Gefahr für Schlittengespanne waren in schneereichen Wintern die Wölfe. Dazu gab es auch eine Reihe von Geschichten. An eine erinnere ich mich. Auf dem Weg zurück nach Perbál wurde ein Schlittengespann, das im tiefen Schnee nur langsam vorankam, von einem Wolfsrudel angegriffen. Die Tiere versuchten, die Pferde am Hals zu packen und umzureißen. Die zwei Männer auf dem Schlitten schlugen mit ihren Peitschen auf sie ein, konnten sie damit aber nicht vertreiben. Zum Glück hatten sie Streichhölzer dabei. Einer der beiden riss Stroh aus einem Bündel heraus, das auf den Schlitten lag. Doch das Streichholz ging immer wieder aus. Nach mehreren Versuchen konnten sie endlich ein Büschel anzünden. Schnell zog er ein weites heraus, das er an dem ersten anzündete usw. Die brennenden Strohbüschel warf er auf die Wölfe, die er mit dem Feuer endlich vertreiben konnte. Ich bibberte vor Angst und malte mir vor unserem Feuer in der Stube riesige Wölfe mit weit aufgerissenen Rachen aus, die die armen Pferde fressen wollten und dann doch durch ein großes Feuer vertrieben werden konnten. Erleichtert atmete ich auf. Meine Oma, die meine Angst wohl bemerkt hatte, nahm mich in ihre Arme und beruhigte mich: „Hier in die Stube können die Wölfe ja nicht kommen.“

18 Verlegt bei Franz Greno Verlagsgesellschaft, Nördlingen 1985

Die Vertreibung der Ungarndeutschen

Die Volkszählung von 1941

1941 hatten in einer Volkszählung in Ungarn 477.000 Personen Deutsch als Muttersprache angegeben. Von diesen hatten sich rund 300.000 auch zur deutschen Nationalität bekannt und damit zu ihrem Selbstverständnis, zur deutschen nationalen Minderheit zu gehören.

„In mehreren Verordnungen der provisorischen Nationalregierung wurde ab März 1945 mehrfach festgelegt, dass

1 ‚Der Besitz der Landesverräter, der führenden Pfeilkreuzler, der Nationalsozialisten und anderen Faschisten, der Mitglieder des Volksbundes, ferner der Kriegsverbrecher und Volksfeinde, konfisziert wird‘

2 zur Umsiedlung nach Deutschland derjenige ungarische Staatsbürger verpflichtet ist, der bei der letzten Volkszählung 1941 deutsche Volkszugehörigkeit oder Muttersprache angegeben hat, oder seinen magyarisierten Namen wieder in einem deutsch klingenden ändern ließ19, oder Mitglied des Volksbundes oder einer bewaffneten deutschen Formation (SS) war.

Artikel VIII des Potsdamer Abkommens20 gab den Ländern Ungarn, Tschechoslowakei und Polen die Möglichkeit, ihre dort vorhandenen deutschsprachigen Minderheiten nach Deutschland zu überführen. Die ungarische Nationalversammlung berief sich offiziell drauf und verabschiedete am 22. Dezember 1945 die entsprechende Verordnung, wonach im Januar 1946 die Um/Aussiedlung der Ungarndeutschen (per Zug in Viehwaggons) in die Amerikanische Besatzungszone (ABZ) Deutschlands begann. Ende 1946 betrug ihre Zahl etwa 190.000 Personen.“ 1947/48 wurden etwa 49.000 in die SBZ vertrieben. Zudem verlor die ungarndeutsche Bevölkerung etwa 33.000 Kriegstote swie Verschleppte in sowjetische Arbeitslager. Insgesamt betrugen die Verluste etwa 272.000 Menschen.

„In Ungarn lebt immer noch die Potsdam-Legende, dass die Um/Aussiedlung der Deutschen eine Verordnung der Siegermächte im Potsdamer Abkommen war. In Wirklichkeit war es die ungarische Regierung – und darin waren praktisch mit der Ausnahme der Sozialdemokraten und zum Teil der Kleinlandwirte-Partei – alle ungarische Parteien –, die die Besatzungsmacht der Russen um Genehmigung bat, die Vertreibung „der heimatverräterischen deutschen Faschisten“ zu ermöglichen.“21

Die Vertreibung der Ungarndeutschen fiel der Regierung argumentativ umso leichter, als der Volksbund von seiner Gründung bzw. Legalisierung durch die ungarische Regierung 1938 einen aktiven Naziflügel hatte, und die sogenannten „Volksdeutschen“ 1940 pauschal dem Kommando Himmlers unterstellt worden waren. Aufgrund der Unterlagen der Volkszählung wurden auch in den deutschen Dörfern um Budapest Listen derjenigen aufgestellt, die zur Vertreibung und Enteignung vorgesehen waren. Die Zugehörigkeit zum Volksbund wurde als ein zusätzliches Merkmal herangezogen. Das Kriterium „Mitglied des Volksbundes oder einer bewaffneten deutschen Formation“ betraf mehrere Tausend Familien, deren junge, männliche Angehörige überwiegend unter Druck zur Wehrmacht oder Waffen-SS eingezogen worden waren. Wer in ihre Formationen eintrat, verlor automatisch seine ungarische Staatsbürgerschaft.

Welche Gewissenskonflikte jungen Wehrpflichtigen entstanden, die zunächst zur Ungarischen Armee und dann zur Waffen-SS einberufen wurden, schildert anschaulich der Bericht eines Betroffenen.22 Die Tendenz der Vertreibung schien sich dahin zu entwickeln, die Einzelfallprüfung aufzugeben, von der Kollektivschuld der Volksbundmitglieder auszugehen und sie als „fünfte Kolonne des Hitlerfaschismus“ anzusehen.23 Josef Stalin hatte nach diesem Muster die Wolgadeutschen kollektiv der Spionage bezichtigt und sie hinter den Ural in asiatische Sowjetrepubliken vertrieben. Warum sollte, was Stalin Recht war, den in Ungarn Regierenden nicht billig sein?

Kollektive Bestrafung

Mit einer Verordnung der ungarischen Nationalversammlung vom 22.12.1945 haben die bereits im Mai/Juni 1945 begonnenen wilden Vertreibungen, Enteignungen und Einweisung von Neusiedlern (Telepesek) in ungardeutsche Dörfer eine „gesetzliche Grundlage“ erhalten. D. h., die chaotischen Zustände auf lokaler und Kreisebene, die Willkür, Korruption und Gewaltanwendung örtlicher Funktionäre konnten mit dieser Verordnung gerechtfertigt werden. In einem Beitrag zum „Deutschen Kalender 1991“ veröffentlichte Dr. Georg Utto, ein Richter mit deutschen Wurzeln, der höchste Positionen in der ungarischen Justiz innehatte, das Ergebnis seiner Untersuchung von 50 rechtlichen Verordnungen der „ungarischen Demokratischen Macht“ in den Jahren 1945–1950, die sich auf die ungarndeutsche Minderheit bezogen. Seine Analyse hat die Überschrift: Grausame Rechtsbestimmungen der kollektiven Bestrafung. „Hierzu gehören die Deportierung zur Zwangsarbeit nach Russland, die Internierung, die gerichtliche Verurteilung, die Entziehung grundsätzlicher Menschen- und Staatsbürgerrechte sowie die Vermögenskonfiszierung.“ Dass die Potsdamer Beschlüsse solche Bestimmungen vorschrieben und die ungarische Politik „lediglich zwangsweise eine Entscheidung der Großmächte vollstreckt“ hat, nennt er eine bewusste Täuschung. „Dies diente der Falschinformation des ungarischen Volkes und der Weltöffentlichkeit, da die ungarischen Machthaber schon geraume Zeit vor der Potsdamer Konferenz den Alliierten Kontrollrat um Zustimmung zur Aussiedlung der Deutschen gebeten hatten Zur Willkür der örtlichen Funktionäre merkt er an: „Diese Leute waren sich darüber im Klaren, dass man den Deutschen alles wegnehmen, mit ihnen alles machen konnte, denn deren einziges und ausschließliches Recht bestand im Dulden, im Schweigen, im stillen – aber nicht deutschen – Gebet. Die geringste Äußerung einer gegensätzlichen Meinung, der geringste Widerstand von deutscher Seite löste sehr häufig blutige Vergeltung aus.“ Alles in allem „… atmeten die Gesetze und Verordnungen, welche die Ungarndeutschen betrafen, leider den Geist Hitlers und Stalins.“24

Die Nazis haben den Weg der Vertreibung der Ungarndeutschen durch ihr Programm „Heim ins Reich“ vorgezeichnet und vorbereitet.

Wenn man die Vertreibung der Ungarndeutschen nüchtern betrachtet, setzten die ungarischen Nachkriegsregierungen die Politik des Reichsverwesers Miklos Horthy fort, der die deutsche Minderheit „Heim ins Reich“ transportieren wollte. Hitlers Paladin Himmler formulierte die Ziele dieser Politik einmal wie folgt:

„Was an gutem Blut überhaupt in der Welt vorhanden ist, an germanischem Blut, das haben wir zusammen zu holen. Wir werden die Volksdeutschen heimführen: Die Germanen werden sich, ob sie wollen oder nicht, ob sie es einsehen oder nicht, zu diesem Reich bekennen müssen, aus dem Zwang des geschichtlichen Gesetzes heraus, aus dem Zwang des Blutes heraus. Jedes gute Blut … das Sie irgendwo im Osten treffen, können Sie entweder gewinnen oder totschlagen …“25

Einer der Siedlungsschwerpunkte der Ungarndeutschen war seit Ende des 17. Jahrhunderts das Ofener Bergland westlich von Budapest. Am Rande dieses Gebirges liegt die Ortschaft Perbál (dt. Perwall), unser Heimatort. Ein Auszug aus dem Internet von 2006 erzählt etwas zur Geschichte des Dorfes. Danach sind die ältesten Zeugnisse einer Besiedlung beinahe 4000 Jahre alt.

„Das Dorf war nicht immer bewohnt. Bei jedem Wechsel der Besatzer (Römer, Hunnen, Franken, Türken usw.) wurde die Siedlung entvölkert. Oft gab es gar keine Einwohner mehr, sie wurde aber immer neu besiedelt. … Nach 1467 (gehörte sie dem) Sohn von König Mathias, János Corvin, und seit 1504 dem Paulanerorden. In der Zeit der Türkenherrschaft 1549 bis 1686 war das Dorf gänzlich ausgestorben. Nach der Vertreibung der Türken gehörte Perbál der Familie Zichy. Sie holten schwäbische Siedler ins Dorf, die die eingefallenen Häuser wieder aufbauten … Auch heute besteht die Mehrheit der Einwohner aus den Nachkommen der schwäbischen Siedler, aber auch eine beträchtliche Anzahl von slowakischen Einwohnern lebt im Dorf. … Seit 1744 gibt es eine Schule, seit 1882 ein Postamt und seit 1899 einen Kindergarten. 1927 wurde das Dorf an das Stromnetz angeschlossen. Eine größere Veränderung brachte das Jahr 1946, in dem etwa die Hälfte der Bevölkerung, die sich zur deutschen Nationalität bekannt hatte, ausgesiedelt wurde. In ihre Häuser zogen 271 Familien aus 68 verschiedenen Ortschaften, insgesamt 1073 Personen.“26

Am 14. März 1946 begann auch in Perbál die aufgrund der o.g. Verordnungen eingesetzte Aussiedlerkommission ihre Arbeit und stellte die erste Aussiedlerliste auf. Sie wurde im Perbáler Rathaus durch Aushang öffentlich bekannt gegeben. Die Transporte begannen bald nach dem Aushang der Liste. Die Familien Wiest und Kopp gehörten zum zweiten Transport. Mit ihm fuhr auch die Perbálerin Theresa Beer.

Theresa Beer berichtet

„Not und Elend waren im letzten Kriegswinter 1944/45 bei uns in Ungarn schon recht groß. Die Russen besetzten unseren Ort Perbál am Heiligen Abend 1944. Schon Tage vorher hörten wir das Dröhnen der Kanonen, und verzweifelt fragten wir nach dem Stand der Front. Dann kamen die Panzer massenweise, und überall war Militär. Alles fuhr Richtung Wiener Straße. Verzweifelt hatten zuvor viele Menschen ein Versteck für ihre Wertsachen, Nahrungsmittel und Kleidung gesucht. Aber niemand dachte an Flucht. Gerüchte von Überfällen und Verschleppungen hatten sich verbreitet. Um die Hauptstadt Budapest wurde erbittert gekämpft. Leute aus unserem Dorf wurden von den Russen gezwungen, eine Verteidigungslinie zu graben. Viele Soldaten starben in den Wäldern um Perbál. Man begrub sie in Massengräbern am Dorfrand. Über drei Monate verlief die Front in der Nähe unseres Dorfes. Viele unschuldige Menschen mußten in diesen Kämpfen ihr Leben lassen. Ende März 1945 glaubten wir dann, daß alles einigermaßen gut vorübergegangen sei. Doch dann, fast ein Jahr später, begann das dunkelste Kapitel der Gemeinde Perbál, die Ausrottung unseres deutschstämmigen Bauernvolkes wurde eingeleitet. Die Parole hieß plötzlich: ‚Raus mit den Schwaben!‘ Was sollte das denn heißen? Vor 300 Jahren waren unsere Vorfahren – Deutsche – und einige Slowaken nach Perbál gekommen. Sie hatten die verwüstete Gegend neu besiedelt. Seit dieser Zeit wurde auch alles in Kirchenbüchern in deutscher Sprache festgehalten. Jetzt sollten wir unsere Heimat aufgeben? – Niemals –! Natürlich hatten wir im Jahr 1941 bei der Volkszählung alle auf unser Deutschtum hingewiesen. So kam es, daß zur Beurteilung der Volkszugehörigkeit diese Angaben herangezogen wurden. Uns wurde Untreue zur ungarischen Nation unterstellt. Von 2400 Perbálern mußten nun 2000 Einwohner mit max. 50 kg Gepäck nach Deutschland umgesiedelt werden. Auf die Vertreibungsabsicht reagierten die Perbáler zunächst völlig ratlos. Aber sie waren der Willkür der Machthaber wehrlos ausgesetzt. Die Stimmung war deutschfeindlich. Für alle Folgen des Krieges wurden wir Schwaben verantwortlich gemacht. Am meisten gefährdet waren diejenigen, die Haus und Hof hatten oder sonstige Vermögenswerte besaßen. Am 20. März 1946 wurde dann am Rathaus die Liste veröffentlicht wer auszusiedeln hatte. Von Vertreibung wurde nicht gesprochen. Man konnte eine Befreiung von der Aussiedlung beantragen. Eine Kommission überprüfte dann die Anträge. Dies war jedoch meist ohne Erfolg.

Auch andere Dörfer mit deutschstämmigen Einwohnern, wie Budajenö, Telki und Piliscsaba wurden Ende März 1946 ausgesiedelt. Viele auswärtige Ungarn zogen damals schon durch die Straßen der deutschen Dörfer, um die freigewordenen Höfe und Häuser billig zu übernehmen. Jeder von ihnen wollte preiswert zu Haus und Hof kommen. Für uns Umsiedler wurde die Dorfausfahrt überwacht und gesperrt. Alles, was Wert hatte, sollte und mußte zurückgelassen werden. Am 5. April kam dann der Tag des Abschieds. In langen Kolonnen bewegten sich die schwer beladenen Pferdewagen über den Mühlweg langsam zur Verladestation Piliscsaba.

Der Abschied von unserer Heimat und den wenigen Menschen, die zurückgeblieben waren, war schwer. In Piliscsaba wurde zuerst unser Gepäck in Viehwaggons verladen. Immer 32 Personen paßten in einen Waggon. Die Pferde und Wagen blieben am Bahnhof zurück. Abends um 10 Uhr fuhr dann der Zug ab. Es war sehr eng in den Viehwaggons, und so wurde es eine beschwerliche Reise. Säuglinge und alte gebrechliche Leute mussten auf engstem Raum zusammenleben. Spannungen waren gar nicht zu vermeiden. Alle waren verzweifelt, und viele weinten. Wir müssen fort und wissen nicht wohin. Wird es besser in der neuen Heimat, oder wird es uns schlechter gehen?

An die Viehwagen hatten einige mit Kreide geschrieben:

‚Leb wohl Du schönes Ungarnland,

Du bist jetzt unser Untergang.

Unsern Ahnen hast Du gegeben

ein verwüstet Land zu pflegen!

Und für die Müh’ und Plag’,

gibst Du uns nun den Bettelstab …‘

So rollten wir viele Tage über Györ zur Grenze Agendorf und dann Richtung Wiener Neustadt.

Niemand wußte, wohin die Reise ging, wo wir einmal landen sollten. In Österreich lagen wir einmal mehrere Tage fest. Eine neue Lokomotive sollte herbei. Mittlerweile war uns vieles gleichgültig. Eine Frau starb im Zug. Wir mußten ihren Sarg auf dem Bahnsteig zurücklassen.

Ihre letzte Ruhestätte kennt niemand.

Unsere intakte Dorfgemeinschaft wurde gewaltsam getrennt. Der l. Transport ging schon am 2. April 1946 von Perbál ab. Er landete im Kreis Bruchsal. Der 2. Transport am 5.4.46 war der unsere. Mit über 1000 Landsleuten kamen wir in den Kreis Frankenberg. Wir wurden auf die Gemeinden Fronhausen, Ernsthausen, Wetter, Simtshausen, Roda, Industriehof, Berghofen, Bromskirchen, Laisa und Eifa verteilt. Der 3. Transport startete am 12. April und kam nach Württemberg. Wir waren sehr verunsichert, als wir dann bei strahlendem Sonnenschein, am 14. April 1946, in der Endstation Allendorf die Waggons verlassen durften.

Dicht und etwas verängstigt standen wir alle zusammen. Man verwies uns an einen deutschen Mann, und wir waren froh, als dieser zu uns sagte: „Ihr kommt alle mit mir nach Eifa.“ Frau Gerli sagte erleichtert zu ihrer Schwester Frau Kopp: „Jesus, kommt‘s schnell, das muß das ein reicher Mann sein!“ Es war der damalige Bürgermeister von Eifa, Herr Stöcker. Als wir dann in Eifa mit 65 Personen ankamen, wurden wir in verschiedene Familien eingewiesen. Nach einigen Anfangsschwierigkeiten wurden wir in die Dorfgemeinschaft aufgenommen, und das Zusammenleben in Eifa normalisierte sich …“27

Auf einen Aspekt der Vertreibung weist ein Gedicht hin, das dem Enkel des aus Perbál stammenden Lorenz Wieszt aus Burgwald/Ernsthausen anlässlich eines Schüleraustauschs beider Partnergemeinden von einer Deutschlehrerin aus Perbál gegeben wurde.

Die Hunde von Perbál

(von Gerd Honsik)

Als wir dereinst dem Dorf den Rücken kehrten,

da winkte keiner einen Abschiedsgruß.

Nur unsre Hunde folgten unsren Fährten,

und Fremde traten schon in unsre Gärten,

und wir mit Sack und Pack dahin, zu Fuß.

Und dann am Bahnhof scheuchte man die Scharen

von Perbáls Hunden rauh von uns hinweg,

die alle, alle mitgekommen waren.

Es zischt und faucht: Schon kam die Lok auf Touren.

Im Riesenchor der Hunde schwoll das Leid.

Es dringt der Schmerz der treuen Kreaturen

in fensterlose Finsternis: Wir fuhren!

Der Kessel pfiff, schon drehten sich die Speichen:

Die Riesenmeute folgt’ dem Elendszug

gerad’ so weit wie Hundepfoten reichen

bis auch der schnellsten Tiere Kräfte weichen,

den letzten Laut der Pusztawind vertrug.

Wir ließen still das Haus, wo wir geboren,

fast ohne Schmerz und fügten uns darein,

doch quält seitdem die Klage unsre

Ohren von Perbáls Hunden, die wir einst

verloren, und herrenlos gelassen und allein.

Von unserer Fahrt mit dem Güterzug „Heim ins Reich“ habe ich zwei deutliche Erinnerungen. Damals war ich vier Jahre und zwei Monate alt.

Als wir an einem herrlichen Sonnentag ein Stück an den Alpen vorbeifuhren, wurde von innen die Wagentür geöffnet und die Leute riefen: „Die Schneebergn!“ Es war überwältigend. Ich werde diesen Anblick nicht vergessen: unten die grüne, blühende Ebene, und oben die verschneiten weißen Gipfel.

Wir hielten auf dem Bahnsteig einer Stadt, vermutlich Wiener Neustadt. Jemand aus unserem Waggon hatte Knochen, mit denen zuvor eine Suppe gekocht worden war, auf den Bahnsteig geworfen. Staunend sah ich, wie umstehende Menschen sich darauf stürzten und sich um die Knochen schlugen. Unsere Leute verstanden das zunächst nicht. Als Bauern hatten sie bisher genug zu essen gehabt. Die auf dem Bahnhof waren aber Städter. Sie hungerten.