Czytaj książkę: «Nomade»
Jörg
Juretzka
Nomade
Ein Roadmovie
Rotbuch Verlag
eISBN 978-3-86789-845-4
1. Auflage
© 2021 by BEBUG mbH / Rotbuch Verlag, Berlin
Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin
Umschlagabbildung: Anterovium/AdobeStock
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Rotbuch Verlag
Axel-Springer-Str. 52
10969 Berlin
Tel. 01805/30 99 99
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FÜR CORA UND VERENA
Spezieller Dank an Sleaford Mods feat. Billy Nomates für ›Mork n Mindy‹
Sämtliche Figuren dieses Romans sind frei erfunden.
Tiefe Nacht unter der Kuppel eines sternklaren, wenn auch mondlosen Himmels. Der Diesel nagelte gelassen vor sich hin, der Aufbau quietschte und knarzte, wann immer eines der Räder in eine Vertiefung sackte oder sich eine weitere hüfthohe Düne hochwälzte. Die Monotonie des Geschaukels und des erzwungenen Schneckentempos drohte mir allmählich den Saft abzudrehen, da erfasste mein Fernlicht das Wrack. Ich ließ den Truck darauf zurollen, stoppte und nahm den Gang raus. Das Auto, ein SUV mit Starrachsen, lag auf dem Dach, ausgebrannt und umgeben von wild verstreuten Ausrüstungsteilen. Es war nicht das Fahrzeug, das ich suchte, aber es sah so aus, als ob es noch nicht lange daläge. Und das nicht etwa entlang einer Piste, sondern mitten im wegelosen Niemandsland. Da stellt sich dann schon die Frage, was wohl mit den Insassen ist. Deshalb fuhr ich erst mal nicht weiter, sondern knipste den Suchscheinwerfer an, ließ den Lichtschein langsam hin und her über die platte Einöde streifen. Ein Paar schmaler, gelber Augen leuchtete kurz auf und verschwand blitzartig wieder. Ansonsten nichts als helle Dünen auf dunklem Geröll, wie Schaumkronen auf nächtlicher See, ununterbrochen bis hin zu der fernen Linie, wo die matte Schwärze des Landes auf die mit Gefunkel durchsetzte Schwärze des Himmels stieß. Müde presste ich den Zugschalter ins Armaturenbrett und der Motor verstummte. Dann klickte ich der Reihe nach alle Scheinwerfer aus und Dunkelheit senkte sich über die Szenerie. Mit kurzem Zischen blies die Bremse etwas Druck ab, als ich den Fuß vom Pedal nahm. Stille folgte. Knisternde Stille und fast völlige Finsternis, all der Sterne zum Trotz.
Bella hob den Kopf und sah mich fragend an.
»Feierabend«, entschied ich.
Sie erhob sich von ihrem Lager im Beifahrerfußraum, streckte sich einmal durch, schüttelte schlackernd den Kopf und trottete dann durch die schmale Passage nach hinten, in die Wohnkabine. Ich stieß die Fahrertür auf, schwang mich aus dem Sitz und kletterte die Sprossen runter. Der Wind hatte für den Moment etwas nachgelassen, und doch war es zu kalt für T-Shirt und Shorts. Am Heck löste ich die Verriegelung und ließ die Alutreppe runter, stieg rauf, öffnete die Tür. Bella kam heraus und zögerte kurz, bevor sie sich mit der ihr eigenen Skepsis hinabtastete. Die Lochblechstufen sind und bleiben ihr nicht geheuer. Ich hätte sie auch aus der Beifahrertür rauslassen können, doch der Truck ist zu hoch und Bella zu groß und zu schwer für solche Akrobatik. Von einem Haken an der Tür schnappte ich mir meine Windjacke und mein Stirnlicht und streifte beides über.
Bella war schon vorgelaufen, um das Wrack zu inspizieren. Es schien tatsächlich höchstens ein, zwei Tage alt, das Blech noch nackt und glänzend, wo es den Lack weggebrannt hatte, ohne auch nur einen Hauch von Flugrost. Ein Viertürer, das Dach komplett zu einer Seite weggeknickt, kein Blick ins Innere möglich. Den ringsum verteilten Krempel hatte der Wind schon halb unter Flugsand begraben. Alles war angekokelt, zerrupft, zertrampelt, aber, zumindest auf den ersten Blick, ziviler Natur – Kleidung, Campingausrüstung, Vorräte in Dosen, Kanistern, Tüten und Kartons. Keine Waffen, keine Munition, nichts in Tarnfarben. Gut so. Hätte es sich um ein Militärfahrzeug gehandelt, wäre ich augenblicklich weitergefahren. Man möchte nicht von einem übellaunigen, schwerbewaffneten S&R-Kommando überrascht werden, wie man in den Resten von etwas herumprockelt, das vielleicht ein Unfall, unter Umständen aber auch ein Anschlag gewesen sein konnte.
Bella schnüffelte eifrig, aber ohne einen Laut an der Karosserie herum. Solang sie still ist, hat sie noch nichts gefunden. Nichts oder niemanden, je nachdem. Nach einer Weile hob sie den Kopf, stand einen Moment steif da, und setzte sich dann in Bewegung, als ob sie von ihrer Nase gezogen würde. Ich seufzte unwillkürlich und ging ihr hinterher. Keine Minute später hörte ich ihr kurzes, heiseres Heulen.
Sie lagen in einer flachen Mulde. Die eine Leiche war komplett verbrannt, ein schauderhaftes, mit schwarzen Fetzen behangenes Gerippe, die andere nur zur Hälfte, von den Füßen hoch bis zur Hüfte. Der Wind, vermutete ich. Der verbliebene Torso – wahrscheinlich der eines Mannes, schwer zu sagen, die gelbäugigen Tiere der Nachbarschaft hatten ihn schon ausgiebig benagt, ein Anblick, der für immer bei mir zu bleiben versprach – war noch frisch genug, um zu stinken, etwas, das in der Wüste wegen der rapiden Austrocknung nur ein paar Tage anhält. Beide hatten je ein Loch in der Stirn und keine Hinterköpfe mehr. Hingerichtet, aus nächster Nähe.
Ich knipste das Stirnlicht aus, tätschelte Bella den Kopf und raunte ein paar Worte, halb lobend, halb tröstend. Drehte mich um, ging zurück und erklomm die Leiter, rauf auf den Dachgepäckträger, verschaffte mir einen Rundumblick. Kein Licht, kein Funkenflug, kein Anzeichen menschlicher Anwesenheit, soweit mein Auge reichte. Nach einem langen, tiefen Atemzug kraxelte ich wieder runter.
Zwei Zivilisten, ermordet. Direkt neben dem Tatort die Nacht zu verbringen erscheint ein bisschen eine bizarre Idee, doch die Täter würden nicht zurückkehren – wozu? – und Tote sind und bleiben die ruhigsten Nachbarn.
»Sollen wir?«, fragte ich, und wir machten uns auf unsere übliche, spätabendliche Runde, Bella wie immer dicht an meiner Seite. Sie ist es auch, die den Kurs bestimmt. Weil sie meinen Sinnen nicht so recht traut. Man mag es nicht für möglich halten, sich in einer Ebene zu verlaufen, doch es wird dunkel in der Wüste, viel dunkler, als man sich das als Städter vorstellen kann, und die Gleichförmigkeit mancher Landschaften bewirkt, dass da nichts ist, woran man sich orientieren könnte. Mit anderen Worten: Du gehst nachts ohne Lampe kacken und wenn du den Rückweg nur um ein paar Grad verpeilst, kann es sein, dass du anschließend dein Fahrzeug nicht wiederfindest.
Bella drängte mich sanft immer mal wieder ein bisschen nach links, zwischen der nächsten und dann der übernächsten Düne hindurch, so dass unsere Runde tatsächlich zu einer Kreisbahn wurde, die da endete, wo sie begonnen hatte. Zurück im Truck schloss ich die Tür hinter uns, streifte Jacke und Schuhe ab und zwängte mich in meine Koje. Bella rollte sich direkt neben meinem Kopfende auf einem Läufer zusammen, grunzte zufrieden und schlief ein, während mir noch eine Weile skelettierte und angefressene Leichen auf der Netzhaut herumtanzten.
Zum x-ten Mal fragte ich mich, was ich hier eigentlich tat, und warum. Leute suchen, Tote finden. Ganz ähnlich wie damals, in der Anfangsphase meiner Zeit als Privatdetektiv. Vom ersten Auftrag an war mir das Aufspüren Vermisster einerseits leichtgefallen, wie eine sich spontan manifestierende Begabung, und gleichzeitig seltsam abwegig erschienen, geradezu verstörend. Natürlich hoffst du, die jeweilige Person lebend, gesund und munter anzutreffen, die Gründe für ihr Verschwinden eigentlich trivial und bald vergessen. Umarmungen, Schulterklopfen, Tränchen, Happy End für alle. Doch in der sogenannten Zivilisation verschwinden Leute äußerst selten aus trivialen Gründen. Und um ahnen zu können, wohin sie sind, hilft es, zu wissen, woher sie kommen. Sobald du diesen Deckel lüftest, kriegst du – egal in welchem Umfeld – immer wieder Verhältnisse zu Gesicht, die geprägt sind von Erbärmlichkeit, Gier und Gewalt. Immer wieder Alk und Drogen, immer wieder niedere Beweggründe, immer wieder Missbrauch. Du kniest dich trotzdem rein, und wenn du den oder die Gesuchten endlich vor dir hast, dann sind sie so gut wie nie gesund und munter und schon gar nicht immer lebend. Irgendwann bin ich ausgestiegen, hab mir andere Jobs gesucht, andere Probleme aufgehalst und andere Beklemmungen zugelegt. Und jetzt rutschte ich da wieder rein, als ob ich wider besseres Wissen nicht genug davon bekäme.
Mein Umzug in die Wüste hatte als Versuch begonnen, ein paar tiefer sitzende Traumata zu verarbeiten. Und es hat geklappt, erstaunlicherweise. Die Weite, die Menschenleere, die fantastische Ruhe, die notwendige Konzentration auf die Anforderungen eines Daseins allein in der Wildnis, all das zusammen regelte mich runter. Nach und nach schlief ich wieder ein bisschen besser, bekam meine Paranoia in den Griff, meine Schuldgefühle, fand zumindest ansatzweise, streckenweise so was wie Frieden.
Und dann wurd mir fad.
Die Geschichte meines Lebens, wenn ich nur eine Sekunde drüber nachdenke.
Bellas gleichmäßige Atemzüge lullten mich schließlich ein und ich driftete weg in ein paar Stunden voll der üblichen Alpträume.
Ich klemmte den Spaten zurück in seine Halterung an der Seite des Aufbaus, ging neben dem Wrack auf die Knie, beugte den Kopf runter und inspizierte die mittlerweile kaum noch auszumachenden Reifenspuren im frühen, flachen Licht der Morgensonne. Sie verliefen schnurgerade. Keinerlei Verwerfungen, wie sie einem Überschlag unweigerlich vorausgehen.
Bella stupste mich mit der Nase an, ihr war nach Frühstück, also kraxelten wir rein in unsere mobile Behausung. Das SatPhone blinkte in seiner Halterung auf der Werkbank. Eine SMS, weitergeleitet von Mombassa. missing: mitsub. pajero. uk. 2 pers. m/m. dest. dakar. last seen 4.1. tam. Ich warf einen Blick auf den Wandkalender über der Spüle, ein Geschenk von Freund Charly, wie jedes Jahr. Dünne Frauen mit dicken Titten über hochglanzpolierten Harley-Davidsons, wie jedes, wie jedes, wie jedes, jedes, jedes Jahr. Ich sag: ›Wie wär’s mal mit Leuchttürmen, oder Hundewelpen, oder Alpenpanoramen?‹, doch er lacht nur, als ob ich das unmöglich ernst meinen könnte.
Anhand der wie ein Nachgedanke unter die Stilettos und Chromspeichenräder gequetschten Datumsleiste war das letzte Lebenszeichen der beiden Briten mittlerweile zehn Tage alt, aus Tamanrasset, von wo ich vor nur zwei Tagen aufgebrochen war.
Ein Napf frisches Wasser und ein Napf Trockenfutter für Bella, ein Becher Kaffee und eine Handvoll Trockenfutter (Kekse) für mich. Ab und zu mal wieder ein Toast wäre schön, und abends auch mal irgendetwas anderes als Spaghetti mit Öl, Knoblauch und Chilischoten, doch die Vorratshaltung in einem kühlschranklosen Vehikel, das sich jeden Mittag wie ein Ofen aufheizt, beschränkt sich zwangsläufig auf lauter Zeugs, das unter solchen Bedingungen durchhält, ohne schon am zweiten oder dritten Tag anzufangen zu gären, abzugasen und in unansehnliche Pilzkulturen aufzublühen.
Fertig mit Frühstück, spülte ich ab und räumte weg, schnappte mir meine Nikon und machte mich an die Arbeit. Ohne eine nachvollziehbare Dokumentation werden die Leute nicht für tot erklärt, was es den Angehörigen erheblich erschwert, sich um das Erbe zu streiten.
Die Sonne jagte den Himmel hoch, die Temperaturen hechelten ihr hinterher, der verfluchte Wind nahm wieder Fahrt auf. Bella verzog sich unter den Truck, bettete ihr Kinn auf einer Vorderpfote und sah mir unter schläfrigen Lidern hervor zu. Erst mal knipste ich die Karosse. Die Kennzeichen waren im Feuer geschmolzen, doch es handelte sich um einen Mitsubishi Pajero, und ich hatte keine Zweifel, dass es das vermisste Fahrzeug war. Am Heck hatte noch eine größere Stelle silbermetallicfarbenen Lacks überlebt, mit einem Rest Sprühlack-Slogan (…kar or bust), und der Vollständigkeit halber machte ich auch davon ein Bild. Dann zog ich ein Paar Latexhandschuhe über, ging zur Mulde und fotografierte nacheinander die Leichen aus möglichst gnädigen Winkeln im Ganzen, schließlich, so gut es ging, ihre Zähne, Ober- und Unterkiefer separat. Dem Halbverbrannten schnitt ich obendrein noch eine Haarsträhne ab und tütete sie ein. Er trug eine Fliegerjacke mit zahlreichen Taschen, die ich der Reihe nach durchfingerte, obwohl klar war, dass mir da schon jemand zuvorgekommen war. Musste ja nicht heißen, dass sie dasselbe gesucht hatten wie ich. Doch ich fand nichts. Ein Schwarm Schmeißfliegen stieg auf, und mein Frühstück mit ihnen, als ich den Toten auf den Bauch drehte. Unter seiner rechten Achsel kam ein kurzläufiger Trommelrevolver zum Vorschein, sandig, feucht und stinkig vor Leichenflüssigkeit. Ich nahm ihn hoch, wischte ihn so gut es ging sauber, zog den Stift, die Trommel schwenkte raus. Alle Kammern voll, alle Patronen intakt, nicht eine davon abgefeuert. Die Opposition war einfach schneller und entschlossener gewesen, wie es so oft den Unterschied macht zwischen Profis und Amateuren. Was ich nicht kapierte war, wieso sie den Wagen nicht mitgenommen, sondern aufs Dach gewälzt und abgefackelt hatten.
Eigentlich drängte es mich, weiterzufahren, ich suchte ein Schweizer Ehepaar, doch erstens ist eine Stunde in der Wüste kein Zeitmaß – man verlernt sehr schnell, sich beeilen zu wollen – und zweitens hatte ich eine Vorahnung in diesem Fall, rechnete instinktiv mit dem baldigen Eingang einer Lösegeldforderung. Obendrein wollte ich einfach wissen, was hier passiert war. Deshalb entriegelte ich die Seilwinde des Trucks, packte den Haken, legte mir das Drahtseil über die Schulter, stapfte los, zog es über das Wrack und befestigte es auf der anderen Seite unten an der B-Säule. Zurück im Truck startete ich den Motor, ruckte den Bedienungshebel nach vorn und die Winde begann zu wickeln, straffte das Seil, drehte die Karosse erst auf die Seite und schließlich um auf die reifenlosen Räder. Ich ließ den Motor laufen, bis ich den Haken gelöst und das Seil wieder komplett auf der Spule hatte. Aus Gewohnheit und – wie man sah – guten Gründen halte ich mein Fahrzeug gern in einem Zustand sofortiger Aufbruchsbereitschaft.
Die Windschutzscheibe des Pajero war zerborsten und hing nur noch hier und da an Resten von Dichtgummi, doch die Fahrzeug-ID-Nummer in ihrem linken unteren Winkel hatte das Feuer überstanden. Ich machte ein Foto. Unter der Motorhaube kam ein Benziner mit großem, rundem Luftfiltergehäuse zum Vorschein, allerdings minus Deckel und Filter. An der Seite des Motorblocks sabberte schwarzes Öl aus einem beinahe faustgroßen Loch. Pleuel abgerissen, Kurbelwelle gebrochen, irgend so was, das so hässlich knallt, dass man gleich weiß, das war’s. Also: Motorschaden mitten in der Einöde, fernab jeder Piste und Oase. Eijeijei. Katastrophe. Kein SatPhone, oder kein Signal, was auch immer, kein Kontakt zur Welt. Eijeijei. Doch sie haben Wasser dabei, Lebensmittel. Ein Tag vergeht, noch einer, noch einer. Wachsende Beklemmung. Es muss doch … Und Tatsache: Da naht ein Fahrzeug. Frenetisches Winken und Rufen, große Erleichterung. Denn man hilft sich gegenseitig in der Wüste, das weiß jedes Kind. Die Rettung naht in Form eines, ich rate mal, Toyota Pick-ups. Die Dinger heißen ›Hilux‹, doch ›Trouble‹ wäre wesentlich passender. Denn die Insassen – in der Regel mehrere meist bewaffnete Männer – wollen in diesem Fall gar nicht helfen, sie denken noch nicht mal dran. Sie wollen Geld und alles andere von Wert und sich dann aus dem, tja, Staub machen. Erleichterung schlägt in Entgeisterung um, dann in Empörung. Ein Wort gibt das andere, man verliert die Nerven, versucht sich zur Wehr zu setzen, das misslingt. Peng und peng. Geschätzte fünf, sechs Tage hatten sie hier ausgeharrt, Tage und Nächte, hatten gehofft, gebangt, ihre Vorräte schwinden sehen, nur um dann kurz vor knapp ausgerechnet an die Falschen zu geraten. Ja, Scheiße.
Mombassa lag mir dauernd in den Ohren, dass ich nicht länger unbewaffnet herumfahren soll. Es stimmt schon, weite Teile der Sahara sind gesetzlos, sich selbst überlassen. Schmuggler, Schleuser, Räuberbanden und Milizen jeglicher Couleur nutzen diese Gegenden als Transitrouten und Rückzugsgebiete. Doch die Räume sind riesig, die Chancen auf Begegnungen gering. Bisher hatte ich Glück gehabt, doch es gab keine Garantien, dass es für immer halten würde. Andererseits waren die Briten im Besitz einer Schusswaffe gewesen, und viel hatte sie ihnen genützt. Man muss damit umgehen können, man muss blitzartig entscheiden, sie einzusetzen, und das dann knallhart durchziehen, ohne auch nur einen Gedanken an die Konsequenzen. Alles nicht so einfach.
Eher lustlos und ziemlich hastig suchte ich den ganzen Kram zusammen, der rings um die Karosse verstreut lag. Sämtliche Behälter waren geöffnet, Schlafsäcke, ja selbst die Sitzpolster aufgeschlitzt, alles war zerrupft und durchwühlt worden, bis hin zum Luftfilterkasten. Die Täter hatten gründlich gesucht, das Fahrzeug regelrecht ausgeweidet, schließlich aufs Dach gerollt – um zu schauen, ob irgendetwas unter dem Wagen versteckt war – und letzten Endes zusammen mit den Leichen angesteckt. Um Spuren zu beseitigen oder wozu auch immer.
Ich ließ nur die Lebensmittel liegen, stopfte alles andere in den Motorraum, gab einen Schluck Diesel drüber, steckte es an. Ja, ja, ich weiß, das Klima. Doch in der Wüste verrottet nichts, man muss es verbrennen oder es vermüllt die Landschaft für immer. Der Wind blies die Flammen hoch, und im letzten, im allerletzten Moment griff ich noch mal hinein und zog den Luftfilter wieder heraus. Meine Finger hatten beim Reinstopfen etwas entdeckt, das mein Hirn erst ein bisschen später mitbekam: eine Klebenaht, rings um den Innenrand. Jemand hatte den Luftfilter aufgesägt, auseinandergenommen und nachher wieder zusammengeklebt. Ich riss die obere Hälfte ab. In einem sauber und kreisrund in das Filtermaterial geschnittenen Loch steckte ein Senfglas. Ich pulte es raus, besah mir den Filter noch mal gründlich, warf ihn zurück in die Flammen. Dann hielt ich das Glas hoch ins Licht. Es war voll harter, runder, fingerdicker, rotbrauner Stäbe. Opium, vermutlich iranisch oder afghanisch, wenn nicht jemenitisch oder sonst woher. Kaum ein bewaffneter Konflikt weltweit, der nicht auch mit Drogen finanziert wird. Doch das interessierte mich in diesem Augenblick nicht, schließlich hatte ich das Zeug nicht bezahlt. Ich schraubte den Deckel ab, holte einen Stab raus, schnupperte, leckte daran – bitterer als eine Kündigung, bitterer als eine Scheidung, bitterer als ein Haftantritt, also richtig, ernsthaft bitter – und fühlte eine Wärme, die an Zärtlichkeit grenzte. Ich würde schlafen, diese Nacht. Tief und fest.
Ich ließ die Toten, wo sie lagen, zog nur mein GPS-Gerät zurate und notierte ihre Position. Vielleicht wollte sie ja jemand holen kommen. Vielleicht wollte ja tatsächlich eine Behörde einen Blick drauf werfen. Dann schickte ich Mombassa eine SMS mit den Fakten, den Daten und der Fahrzeug-ID. Die Haarprobe würde ich versenden, sobald ich zurück in Tamanrasset war, die Fotos nur auf behördliche Anforderung. Sie waren im Grunde nicht zumutbar.
Bella und ich liefen noch eine kleine Runde, vertraten uns ein wenig die Füße, bevor wir einstiegen und unseren Weg fortsetzten, dem Züricher Ehepaar hinterher. Sie wollten ins Adrar des Ifoghas, einen Gebirgszug im Südwesten Algeriens, um nach Felszeichnungen zu suchen. Es gab exakte Koordinaten, einen klar definierten Punkt, von wo sich die beiden ein letztes Mal gemeldet hatten, und den steuerte ich jetzt an, so direkt es das Gelände zuließ. Noch zwei Tage, schätzte ich, vielleicht auch drei. Bella kraxelte auf den Beifahrersitz, legte ihr Kinn auf die Tür und ließ sich den Fahrtwind um die Nase streichen. Ich konzentrierte mich aufs Fahren, hing dabei meinen Gedanken nach.
Das Opium war ein seltsamer Fund. Zu viel, um, sagen wir, nur ein paar Urlaubsnächte zu verdösen, zu wenig, um als professioneller Handel Sinn zu ergeben. Ich vermutete, sie hatten das Zeugs irgendwo im Norden erstanden, um es in der Partyszene von Dakar zu verkaufen und so die Reisekosten wieder reinzuholen. Und zwanzig Jahre in einem afrikanischen Knast zu riskieren. Es ist erstaunlich, auf was für Ideen die Leute kommen, um ein bisschen Geld zu sparen. Aber es erklärte auch ihren Versuch, die Grenze nach Mali irgendwo im Nirgendwo zu kreuzen. Arme Idioten.
Wann immer ein Vorderrad eine Düne erklomm, wollte es da wieder runter, wann immer es in eine Mulde sank, wollte es tiefer hinein. Das Resultat war ein Schlingerkurs, der pausenlose Lenkkorrekturen erforderte, die mit der Zeit auf die Arme gingen, und von da in die Schultern. Das Fahren abseits der Straßen schlaucht. Selbst mit einem Lkw mit extra großen Rädern musst du obendrein ständig auf der Hut sein, dir nicht an einem halb im Sand verborgenen Felsbrocken einen Reifen zu zerschneiden oder eine Spurstange zu verbiegen. Von den Risiken, die gesamte Fuhre aufs Dach zu legen, mal ganz zu schweigen. Die Schweizer waren in einem Expeditionsmobil unterwegs, auf Unimog-Basis, viel besser und viel teurer geht’s nicht. Doch auch ein Unimog ist auf vier aufgeblasenen Gummibälgen unterwegs und hat – vor allem mit Wohnaufbau – einen hohen Schwerpunkt. Ein Fahrfehler genügt, die Kiste kippt um und steht von allein nicht wieder auf. Okay, rufst du eben Hilfe. Doch Satellitenkommunikation und GPS haben Wüstenreisen nur scheinbar sicherer gemacht. Mit deinem SatPhone musst du im Fall der Fälle auch tatsächlich jemanden erreichen, und der muss wiederum in der Lage sein, entweder selbst loszufahren und dich zu retten oder aber jemanden aufzutreiben, der Zeit und Lust dazu hat. Und das sind nur die logistischen Unwägbarkeiten. Mechanische, elektrische, elektronische kommen hinzu. Ladegeräte können kaputtgehen, ohne dass du es merkst. Das Telefon als solches braucht nur ein bisschen viel Mittagssonne abzukriegen und seine Innereien schmelzen dahin wie die Weinbrandbohnen im Mund von Tante Mia, ausgerechnet kurz bevor du, sagen wir mal, diesen Böschungswinkel unterschätzt. Oder dir, festgefahren, die Kupplung verschmurgelst. Obendrein sind die Dinger mittlerweile selbstverständlich alle klein und handlich. Passen in jede Hemd- oder Hosentasche. Fallen raus, völlig geräuschlos im tiefen Sand der wunderschönen Düne, die du gerade erklimmst, und tauchen erst fünfzig Jahre später wieder auf. So wie du, wenn du Pech hast.
Mit dem Sonnenstand kletterten die Temperaturen, auch die des Kühlwassers. Als die Anzeige endgültig in den roten Bereich zu wandern drohte, tauchte am Horizont ein Baum auf, mit flacher, breiter Krone. Ein Baum, ein einzelner Baum, seit Jahrzehnten, Jahrhunderten einsam und allein inmitten all dieser Wüstenei. Man möchte ihn in den Arm nehmen. Ich hielt darauf zu, steuerte den Truck in den Schatten, stoppte, stellte den Motor ab. Bella erhob sich, drehte sich auf ihrem Sitz und sah mich fragend an.
»Mittagspause«, sagte ich.
Je nachdem, wie klar der Himmel ist, wie heiß es wird, legen wir um diese Zeit meistens eine Rast ein, halten Siesta im Schatten des Trucks und fahren später weiter, bei Bedarf bis in die Nacht.
Ich klappte die Leiter am Heck runter, ging rein und kochte mir einen Becher Tee, den ich mit nach draußen nahm, wo ich mich im Schatten der Baumkrone und im Windschatten des Stammes auf den Boden hockte.
Der Nordost-Passat ist ein muskulöser, sportlicher Typ, dem, einmal in Fahrt, nicht so bald die Puste ausgeht. Und er ist ein sturköpfiges, übellauniges Arschloch. An manchen Tagen, manchen Orten, pulsiert er geradezu vor grimmiger Energie. Und er ist sandhaltig, biestig stechend sandhaltig, immer und überall, es kann einen den letzten Nerv kosten.
Bella streunte ein Weilchen herum, schnüffelte hier, schnüffelte da, bis der Wind auch ihr zu viel wurde, und gesellte sich dann zu mir.
Eines der Motive, meine – und Bellas – Talente hier in der Wüste zur Anwendung zu bringen, war wohl die Aussicht auf unkompliziertere Ursachen, wenn Leute verloren gingen. Verunfallt, verirrt, stecken geblieben, Sprit alle, ein Schaden am Auto. Natürliche, durch die karge Landschaft geprägte Notlagen, keine sozialen Gründe, und bitte keine familiären. Und damit einhergehend rechnete ich mir größere Chancen auf ein Happy End aus. Bisher, ich sag’s nicht gern, ohne den gewünschten Erfolg. Positiv betrachtet, hatte mich mein Entschluss aber zumindest davor bewahrt, mir am Rhein-Herne-Kanal, auf unseren täglichen Spaziergängen – vor allem aber auf dieser Bank, dieser Parkbank in der Nähe dieses Kiosks – umgeben von Bierpullen den Arsch abzulangweilen.
Vielleicht brauchte ich einfach nur eine Aufgabe, eine Beschäftigung, egal was, wie ein Rentner, der vor seinem Haus das Moos aus den Gehwegfugen kratzt.
Ich schlürfte meinen Tee. Wer immer die beiden Briten umgebracht hatte, es waren mehrere gewesen, genug, um den Wagen aufs Dach zu wälzen. Sie lebten zu weit weg, um den Mitsubishi abzuschleppen und in Teilen zu verkaufen, und doch nah und gut versorgt genug, um auf die Vorräte und Ausrüstung der beiden Toten husten zu können. Obendrein hatten sie es einigermaßen eilig, mit ein bisschen mehr Zeit hätten sie das Opiumversteck schon herausgekitzelt aus den beiden, deshalb vermutete ich, dass sie irgendeiner Einheit angehörten, einer Truppe. Armee, Grenzpolizei, Zoll? Ganz egal, was – es war ein zutiefst unbehaglicher Gedanke. Man will, man muss jemandem vertrauen können, oder es fängt an, dir den Boden unter den Füßen wegzuziehen.
Bella rollte sich zusammen und schlief ein, und kurz darauf machte ich es ihr nach.
Die Dünen wuchsen in die Höhe, je länger sich der Nachmittag hinzog, drängten uns weiter und weiter nach Süden ab. Auf der Landkarte sieht alles immer simpel aus, gähnende Leere überall, man bräuchte eigentlich nur einer schnurgeraden Linie zu folgen, doch um allzu schroffes Terrain und gerade um diese ›Ergs‹ genannten Sandgebirge macht man meist besser einen Bogen. Selbst mit einem Wüstentruck kann es sonst passieren, dass du in einem Dünental strandest, aus dem du aus eigener Kraft nicht wieder rauskommst. Oder nur nach endloser Plackerei mit Seilwinde, Sandanker und Sandblechen. In den Sportvideos von Wüstenrallyes braten sie immer mit Vollgas über alles hinweg, doch diese Veranstaltungen haben mit der Realität der Fortbewegung in die Wüste so viel gemein wie die Formel Eins mit dem morgendlichen Stadtverkehr.
Schon bald war der dunkle Boden nicht mehr zu sehen, wühlten wir uns durch weichen Sand, der stündlich tiefer wurde. Der Motor musste jetzt richtig arbeiten, knurrte verbissen, saugte eine Menge Sprit weg. Ich wäre noch weiter ausgewichen, doch am südlichen Horizont reckten sich schon die nächsten Dünenkämme in den Himmel, leuchtend orange und ebenso schön wie schwer zu queren, so dass ich weiter Kurs Richtung Westen hielt, es dem Auge und dem Gefühl am Lenkrad überließ, wo der Sand den geringsten Widerstand zu leisten versprach.
Das Rätselhafte war, dass die Schweizer augenscheinlich perfekt vorbereitet zu ihrer Exkursion aufgebrochen waren. Ein Fahrzeug mit Allesüberwinder-Qualitäten, eine Bevorratung für Wochen und eine tägliche Meldung bei ihrem Amateurarchäologen-Verein, der schon mehrmals ähnliche Expeditionen von Lausanne aus begleitet hatte. Die Vereinsmitglieder waren es, die um Hilfe gebeten und sämtliche Informationen zur Verfügung gestellt hatten, doch auch sie konnten trotz mehrfachen Nachfragens keine GPS-Kennung des Unimogs liefern.
So blieb nur die letzte Positionsangabe der Züricher von vor ziemlich genau zwei Wochen. Nach fünf Tagen ohne Meldung hatten die Lausanner, wie vorher vereinbart, das Paar und den Unimog als vermisst gemeldet. Zwei Tage später war ein Suchtrupp von der Militärbasis in Timiaouine aufgebrochen, angeblich unterstützt von einem Flugzeug. Nach vier Tagen war die Suche ohne Ergebnis beendet worden. Immerhin. Wären es afrikanische Migranten gewesen, hätte man sich nur den Hintern gekratzt und die Schultern gezuckt. Doch nach Angehörigen der westlichen Industrienationen wird schon gesucht. Es gibt da einen gewissen Druck von den Botschaften auf die Regierung – Stichwort ›Reisewarnung‹ – und der wird weitergereicht an die Behörden der Provinzen und von da an die Vertreter in den nächstgelegenen Oasen. Die setzen jetzt nicht unbedingt Himmel und Hölle in Bewegung. Dazu mangelt es allzu oft an der rechten Begeisterung oder einfach nur an Empathie.
Ich muss das erklären. Vor allem Individual- oder Abenteuerreisende sonnen sich gern in dem Interesse, das ihnen von den Wüstenbewohnern entgegengebracht wird, halten es nicht selten für Respekt, wenn nicht Bewunderung für ihren Mut und ihre Zähigkeit, mit denen sie sich einen Urlaub lang den Widrigkeiten der Sahara stellen, und übersehen dabei, dass die Leute einfach nur Zerstreuung suchen. Es ist scheiße langweilig in diesen isolierten Käffern, also lässt man sich bereitwillig auf Gespräche mit Auswärtigen ein, lauscht höflich ihren Angebereien und denkt sich seinen Teil dazu. Ich bin mir sicher, dass die meisten, mit denen ich hier Kontakt habe, innerlich den Kopf schütteln über das Streunerleben, das ich führe. Ein Typ, der aus einem Land kommt, in dem man nur einen Hahn aufdrehen muss, um an Wasser in beliebiger Menge zu kommen, anstatt es Eimer für Eimer aus einem tiefen Loch hochzerren zu müssen, der bequem zu Fuß zum Arzt oder zum Supermarkt gehen kann, der vom Staat fürs Nichtstun mehr Geld bekommt als ein algerischer Landarbeiter mit seiner tagtäglichen Wühlerei verdient – und der statt in diesem Luxus zu schwelgen lieber in einer rollenden Hundehütte haust und sich unablässig in der gottverfluchten Einöde herumtreibt? Seid nett zu ihm, Kinder, aber haltet ein bisschen Abstand, denn er muss einen an der Waffel haben, der Gute.
Wenn jetzt einer oder mehrere solcher Spinner verschüttgehen, dann ist das eben ihr Pech, vermutlich Schicksal, oder Allahs Wille, und da die Chancen, den oder die Vermissten zu finden, erfahrungsgemäß gering, Kosten, Strapazen und Risiken einer derartigen Suchaktion aber nicht zu unterschätzen sind, reißt sich dafür niemand wirklich ein Bein aus.