Czytaj książkę: «Ein Blick in die Schule und zwei dahinter»

Czcionka:


Jörg Ehrnsberger ist Lehrer und Storytelling-Trainer und hat in den letzten 20 Jahren Menschen von 6 bis 85 Jahren unterrichtet. Neben einer Tätigkeit in verschiedenen Schulen hat er die NGO «Teach First Deutschland» mitaufgebaut und ist 2015 für seine Tätigkeit als Storytelling-Trainer von der Bundesregierung mit dem Titel «Kreativ- und Kulturpilot» ausgezeichnet worden. Er bietet häufig Storytellingseminare im Bereich Stadtentwicklung und Partizipation an, macht aber ebenso Storytelling-Projekte im Bildungsbereich und für Lehrer. Kontakt: joerg@ehrnsberger.de
Katrin Hille hat als promovierte Psychologin das ZNL TransferZentrum für Neurowissenschaften und Lernen der Universität Ulm mitgegründet. Seitdem ist sie in dessen Leitung tätig. Ihre Forschungsarbeit bringt sie in Kontakt mit den spannenden Themen der Lehr- und Lernforschung, ihre Tätigkeit als Fortbildnerin mit den drängenden Fragen der Praktiker. Aus der Verknüpfung von beidem entstand die Idee zu diesem Buch. Kontakt: einblick@postwendend.net


Jörg Ehrnsberger & Katrin Hille

Ein Blick in die Schule und zwei dahinter

Geschichten aus dem Schulalltag – wissenschaftlich erklärt

ISBN Print: 978-3-0355-0419-4

ISBN E-Book: 978-3-0355-0741-6

Layout, Zeichnungen & Grafische Gestaltung:

Roland Noirjean, Beatenberg­, www.bilderbeck.ch

1. Auflage 2017

Alle Rechte vorbehalten

© 2017 hep verlag ag, Bern

www.hep-verlag.com

Inhalt

1 Warum Meike plötzlich gut in Bio ist

Was dahintersteckt

Zum Nach- und Weiterlesen

2 Wie Karl zum Lesen kommt

Was dahintersteckt

Zum Nach- und Weiterlesen

3 Was Walid noch zum Schulerfolg fehlt

Was dahintersteckt

Zum Nach- und Weiterlesen

4 Warum es bei Sammi mit den Hausaufgaben nicht so klappt

Was dahintersteckt

Zum Nach- und Weiterlesen

5 Was Phillip neugierig werden lässt

Was dahintersteckt

Zum Nach- und Weiterlesen

6 Was Lehrerin Enders ins Grübeln bringt

Was dahintersteckt

Zum Nach- und Weiterlesen

7 Wie ein Elterngespräch gelingt

Was dahintersteckt

Zum Nach- und Weiterlesen

8 Warum es Michael trotzdem weiss

Was dahintersteckt

Zum Nach- und Weiterlesen

9 Warum Julia die Schule plötzlich mag

Was dahintersteckt

Zum Nach- und Weiterlesen

10 Wie Lehrer Karski sich selbst ein Bein stellt

Was dahintersteckt

Zum Nach- und Weiterlesen

1 Warum Meike plötzlich gut in Bio ist


Es war Dienstag, kurz nach 10, und gleich würde die dritte Stunde beginnen. Herr Funk stand im Biologie-Vorbereitungsraum und bestaunte die ganze neue Glasware und die Lern-DVDs im Regal. In seiner alten Schule, an der er bis zu den Sommerferien unterrichtet hatte, hatte es keine so moderne Ausstattung gegeben. Mal gucken, was man damit alles für Versuche machen könnte, da würden sich ja ganz neue Möglichkeiten ergeben, den Schülerinnen und Schülern etwas beizubringen.

Aber jetzt, jetzt ging es erst mal darum, die neue Klasse kennenzulernen, achtes Schuljahr, Biologie. «Eine ganz normale Klasse, ein paar Interessierte, ein paar weniger Interessierte, ein paar, die immer eine Extraaufforderung brauchen», so hatte sein Kollege Dr. Poggemeier, der sich gerade in die Pension verabschiedete und die Klasse vorher gehabt hatte, sie beschrieben. Funk hatte genickt, er hatte ja selbst schon eine ganze Menge Klassen gesehen und konnte sich daher gut vorstellen, was Dr. Poggemeier meinte. «Aber dann ist da noch die eine, diese eine Meike, die brauchen Sie gar nicht dranzunehmen. Die weiss immer schon alles. Fragen Sie mich nicht, woher, aber wenn Sie der eine Frage am Anfang der Stunde stellen, gibt die Ihnen gleich immer das ganze Stundenergebnis. An sich ja toll, aber die Stunde ist dann meist hin. Ich hab sie immer kurz gehalten. Allerdings: Wenn die die Frage zu simpel findet, kann es sein, dass sie gar nicht antwortet.»

Vor Funk sassen 23 Achtklässler, einige schauten ihn, den Neuen, interessiert an, andere guckten aus dem Fenster und ein Schüler kam gerade noch in die Klasse geschlurft. Tatsächlich, eine ganz normale Klasse. Wer ist wohl diese Meike, fragte sich Funk. Ist es die Blonde, die ihr Buch und ihren Hefter ordentlich auf dem Tisch hat? Oder ist es die Grosse in der ersten Reihe, die etwas gelangweilt Kaugummi zu kauen scheint?

«Wer kann mir denn sagen, was ihr zuletzt bei Herrn Dr. Poggemeier gemacht habt?», fragte Funk, nachdem er sich kurz vorgestellt hatte. Natürlich wusste er das selbst, er hatte ja ausführlich mit Dr. Poggemeier gesprochen, aber er wollte erfahren, was die Schülerinnen und Schüler noch wussten. Knapp 20 Finger gingen in die Höhe. Er grinste in sich hinein: «Für den ersten Eindruck gibt es eben keine zweite Chance, und die wollen hier wohl alle ihre erste nutzen.»

Nach der Stunde, wieder im Biologie-Vorbereitungsraum, ging Funk seine Notizen durch, die direkt neben seinem frisch gezeichneten Sitzplan lagen. Meike hatte sich kein einziges Mal gemeldet. Aber ja, Wiederholungen, vielleicht war es das, was der Kollege mit zu simpel meinte.

In den folgenden Wochen lernten Funk und die Klasse sich besser kennen, das Thema «Verdauung und Körper» kam gut bei den Schülerinnen und Schülern an. Alle waren von den Versuchen begeistert, die Funk mit ihnen machte. Eine Schülerin, Tatjana, die nach der Stunde immer noch etwas blieb und beim Aufräumen half, sagte: «So viele Versuche haben wir bei Herrn Dr. Poggemeier nicht gemacht.»

Mittlerweile kannte Funk auch die Namen der Schülerinnen und Schüler, und es stellte sich heraus, dass Dr. Poggemeier sie gut beschrieben hatte. Nur Meike bekam Funk nicht zu fassen. Am Anfang des Jahres hatte sie sich ein paar Mal gemeldet, er hatte sie aber nicht drangenommen. Denn er wollte ja nicht, dass sie durch ihre Erklärungen das ganze Stundenergebnis schon in den ersten Minuten vorwegnahm. Ein andermal hatte er sie einfach mal so drangenommen, weil sich sonst niemand meldete. Sie war sichtlich überrascht, vielleicht hatte er sie in einem Moment der Abwesenheit erwischt, aber es gelang ihm, das schnell überzuleiten, jeder konnte ja mal mit den Gedanken woanders sein und er wollte ja niemanden blossstellen: «O. k., Meike, ich denke, du meinst hier das Richtige, auch wenn es jetzt vielleicht nicht ganz so rausgekommen ist. Ich fass das noch mal zusammen …» Sie starrte ihn gross an, protestierte aber nicht.

In den Folgestunden meldete sich Meike ein paar Mal zaghaft, aber Funk wollte auch den anderen Kindern eine Chance geben, sich die Lösung zu erschliessen. In einer Gruppenarbeitsphase ging er deshalb zu ihr: «Du, Meike, du hast ja sicher gemerkt, dass ich dich nicht so oft drannehme, wie du dich meldest.» Aus grossen Augen schaute sie ihn an, abwartend, zurückhaltend. «Weisst du, ich mach das, damit die anderen Kinder auch eine Chance haben, auf die Lösung zu kommen. Bei dir», er lächelte sie aufmunternd an, «sehe ich einfach, dass du die richtige Antwort weisst.» Sie starrte ihn weiter an: «Woher wissen Sie das denn?» Funk wollte nicht verraten, dass er es von seinem Vorgänger Dr. Poggemeier wusste, ein paar Geheimnisse muss man ja auch für sich behalten. «Als Lehrer kann man das sehen.» Ein paar Tische weiter fiel ein Becherglas vom Tisch, Funk musste hingehen und so blieb das Gespräch kurz.

In den kommenden Stunden ging alles so weiter, Meike meldete sich immer mehr, er nahm sie auch ab und zu mal dran, einfach, damit sie nicht ausstieg. Die Antworten waren nicht ganz so klar und umwerfend, wie Dr. Poggemeier berichtet hatte, mitunter eher etwas zurückhaltend, vielleicht hatte er sie ja doch etwas verunsichert mit seiner Ehrlichkeit.

Aber dann kam der erste Biologietest, er fiel durchschnittlich aus, Herr Gauss hätte seine Freude gehabt. Bloss, dass Meike nicht die beste Arbeit hatte. Es hatte nur zu einer Zwei gereicht, einer soliden Zwei, aber mit Abstand die Beste und so weiter, davon war nichts zu sehen.

Irgendwas musste hier passiert sein. Denn als er die Arbeit wiedergab und die Mitschülerinnen und -schüler sahen, was für eine Note Meike hatte, wurde das, wenn auch hinter vorgehaltener Hand, kommentiert: «Oha, ne Zwei. Die Meike.» Oder: «Na, da hätte wohl keiner mit gerechnet.» Meike sass nur da und starrte ungläubig auf den Zettel. Bevor er sie aber nach der Stunde dazu befragen konnte, war sie schon draussen.

Tatjana, die ihm mal wieder half, den Klassenraum aufzuräumen, goss gerade die Blumen auf der Fensterbank. «Tatjana, du musst mir jetzt mal eins sagen: Was ist denn mit Meike los? Die war ja total überrascht, als ich ihr den Test wiedergegeben habe.» Tatjana, die weiter die Pflanzen pflegte, meinte nur: «Ach, das wäre ich an ihrer Stelle wohl auch gewesen.» «Die hat sonst noch nie eine Zwei geschrieben, oder?» «Nee, soweit ich mich erinnere, war das das erste Mal.» Funk stand jetzt ratlos vor der Tafel: «Aber sie war doch sonst immer Klassenbeste, hab ich da was falsch gemacht?» Jetzt drehte sich Tatjana um: «Klassenbeste? Meike? Niemals! Die war doch sonst immer bei ’ner Vier.» «Aber Herr Dr. Poggemeier, euer alter Lehrer, hat mir doch gesagt, dass die Meike mit Abstand die Beste in Biologie war.» Tatjana, immer noch die Giesskanne in der Hand, starrte ihn an, bis sie laut loslachte: «Ach so, nein, Herr Dr. Poggemeier hat die andere Meike gemeint, die war so unheimlich gut in Biologie, aber die ist doch im Sommer ganz überraschend mit ihren Eltern weggezogen.»

Funk ging nach der Stunde beschämt nach Hause und fragte sich, ob er Meike wegen des Missverständnisses zu gut bewertet hatte. Aber als er den Test noch einmal ganz genau durchlas, war das Ergebnis wieder eine Zwei. Und auch sein Kollege, den er um eine Zweitkorrektur bat, kam zu keinem anderen Ergebnis.

Funk freute sich durchaus für Meike, auch wenn ihm nicht ganz klar war, was hier passiert war.


Was dahintersteckt

Herr Funk fragt sich, warum Meike plötzlich gut in Bio ist. Licht in die Sache könnten ein paar alte Studien des amerikanischen Psychologie-Professors Robert Rosenthal bringen. In den 1960er-Jahren liess er Studenten mit Ratten experimentieren. Sie sollten die Leistungen von genetisch identischen Laborratten messen. Glaubten sie, Ratten vor sich zu haben, die auf «superschlau» gezüchtet waren, zeigten ihre Messungen genau das an. Meinten sie, es mit genetischen «Dummerchen» zu tun zu haben, sahen sie nur Unfähigkeit.

Nun ging Rosenthal einen Schritt weiter. Seine nächste Studie nahm nicht Ratten und studentische Versuchsleiter, sondern Grundschulkinder und ihre Lehrpersonen ins Visier. Dabei absolvierten kalifornische Schüler einen neuen IQ-Test. Ihren Lehrern wurde erzählt, es handele sich um einen Test, der schulische Entwicklungsschübe voraussage. Und wie erwartet kamen die Forscher mit einer Liste von Namen zurück. Was die Lehrpersonen nicht wussten: Welcher Name auf der Liste landete, entschied nicht der Test, sondern der Zufall. Aus jeder Klasse wurden 20 Prozent der Schüler ausgewählt. Die Lehrer sollten von diesen einen unmittelbar bevorstehenden Entwicklungsschub erwarten dürfen. Und nun begann in den Klassenzimmern das eigentliche Experiment. Was in den acht Monaten bis zur nächsten Testung genau geschah, weiss man nicht. Aber es ähnelte wohl dem, was Meike und ihr neuer Lehrer erlebt hatten. Wenn ein Listenkind Fragen halbrichtig beantwortete, wurden diese als zutreffend bewertet. «O. k., ich denke, du meinst hier das Richtige, auch wenn es jetzt vielleicht nicht ganz so rausgekommen ist. Ich fass das noch mal zusammen …» So wie Meike von Herrn Funk bestärkt wurde, wurden auch die Listenkinder womöglich durch diese und ähnliche Begebenheiten ermuntert. Sie beteiligten sich stärker am Unterricht und lernten in diesen Monaten: Ich kann das. Ich bin gut in der Schule. Sogar mein Lehrer hält was von mir.

Dann wurden die IQ-Tests noch mal durchgeführt. Es wurde berechnet, wie viel schlauer jedes Kind geworden war. Bei den Erstklässlern war der Unterschied am markantesten: Die Listenkinder hatten durchschnittlich 27 Punkte zugelegt, ihre Klassenkameraden nur 12. Ein satter Unterschied von 15 IQ-Punkten.

15 IQ-Punkte haben oder nicht – das macht schon was aus. Es holt den einen von der Sonderschule, es bringt die andere aufs Hochbegabtengymnasium. Wie entstehen solche Unterschiede? Liegt es an dem Bild, das die Lehrperson vom Schüler hat? Möglicherweise hatten die Lehrkräfte von den Kindern, deren Namen auf der Liste standen, ein positiveres Bild. Da ein Entwicklungsschub angekündigt worden war, überschätzten sie deren Leistungen. Und bewerteten zu gut. Aber in der Geschichte von Meike macht sich der Lehrer die Mühe, noch einmal die Arbeit zu kontrollieren. Er kommt dabei zum selben Ergebnis! Und in der Studie von Rosenthal wurden die Leistungstests von Externen ausgewertet. Die wussten nicht, für welches Kind ein Entwicklungsschub vorausgesagt worden war. Die Bewertung der Lehrer erklärt also kaum, warum die Listenkinder locker doppelt so gut abschnitten wie ihre Klassenkameraden. Ein anderer Grund für diese Unterschiede ist das Bild, das die Schüler von sich selbst haben.

Was haben Optimist und Pessimist gemeinsam? Sie haben beide recht! Wenn die Schülerin optimistisch meint: «Ich kann das. Ich bin gut in der Schule. Sogar mein Lehrer hält was von mir», wird sie bei der Aufgabe so lange probieren und sich bemühen, bis sie den Dreh gefunden hat. Wenn der Schüler pessimistisch denkt: «Ich kann das nicht. Ich bin nicht gut in der Schule. Sogar mein Lehrer hält nichts von mir», wird er sich bei der Aufgabe nicht lange bemühen. Es hat doch alles sowieso keinen Zweck. Selbstbilder bestätigen sich auf diese Weise in einer selbsterfüllenden Prophezeiung.

Rosenthals Experiment funktionierte bei den älteren Jahrgängen nicht mehr so gut wie bei den Erst- oder Zweitklässlern. Möglicherweise sind gefestigte Selbstbilder dafür verantwortlich. Bei einem gefestigten negativen Selbstbild («Ich kann das alles nicht») hilft auch eine Lehrperson wenig, die auf einen Entwicklungsschub wartet.

Angenommen, ein Schüler denkt: «ICH KANN EINFACH KEIN MATHE!!!!! Diese Vier in Mathe versaut mein Zeugnis und ich weiß nicht, was ich dagegen tun soll! Ich kann nämlich nicht mathematisch denken. VERDAMMT, ICH KANN’S NICHT.» Was passiert dann? Schon bei dem Gedanken an eine Mathearbeit schaltet sich das Stressnetzwerk in seinem Gehirn an und das Frontalhirn stellt sich aus. Es fällt ihm sogar schwer, zwei plus zwei zusammenzuzählen. Nicht, weil er es nicht kann, sondern weil er unter Stress steht. Wer meint, unsportlich zu sein, weil er dick ist, wird sich vor Sport drücken. Wer als Afroamerikaner immer wieder mit dem Vorurteil konfrontiert ist, dumm und faul zu sein, wird sich kaum um Fleiss bemühen. Und auch nicht um Verständnis.

Schon der Gedanke an ein Vorurteil kann die eigene Leistung torpedieren. Das zeigte eine Studie, bei der junge Frauen Matheaufgaben lösen sollten. Manche von ihnen lasen zuvor einen Text zu genetisch bedingten Unterschieden bei Matheleistungen. Männer seien halt anders als Frauen, hiess es da. Das liege in den Genen. Deshalb könnten sie auch besser Mathe. Andere Frauen lasen einen Text, der solche Unterschiede auf die Lehrpersonen zurückführte. Mathelehrer behandelten Mädchen eben anders als Jungen, wurde dort erklärt. Deshalb seien Männer besser in Mathe. Die Frauen, die die erste Begründung gelesen hatten, schnitten schlechter ab. Dabei waren die Gruppen eigentlich gleich gut. Aber der Text hatte das Vertrauen der Frauen in ihr Können erschüttert. Der Gedanke, als Besitzerin zweier X-Chromosomen Mathematik eben nicht so gut zu können, führt genau dazu: zum «Eben-nicht-so-gut-Können». Wer also denkt, etwas nicht zu können, weil er so ist, wie er ist, stellt sich damit selbst ein Bein.

Was kann man also gegen schädliche negative Selbstbilder tun? Nicht jeder bekommt wie Meike einen neuen Lehrer, der sie irrtümlich, aber voller Überzeugung, für eine sehr gute Schülerin hält, der sie so behandelt, dass sie selbst beginnt zu glauben, eine sehr gute Schülerin zu sein. Aber hier ist etwas, was jeder kann: nachmachen, was amerikanische Sozialpsychologen probiert haben. Sie testeten eine einfache Intervention. Zu Beginn des Schuljahres schrieben Sechstklässler einen Aufsatz. Dafür bekamen sie eine Liste von Werten und sollten denjenigen aussuchen, der für sie am wichtigsten war und ihre Wahl begründen. Dabei ging es nicht um Rechtschreibung oder Grammatik. Es ging nur um die Gedanken und Ideen der Schüler zu ihrem eigenen Leben.

«Beziehungen zu Freunden oder zur Familie» wählte ein Mädchen und schrieb: «Meine Freunde und meine Familie sind mir am wichtigsten, wenn ich eine schwierige Situation zu meistern habe und darüber reden möchte. Von meinen Freunden bekomme ich Zuspruch. Von meiner Familie Liebe und Verständnis.» «Sportliche Fähigkeiten» wählte ein Junge und notierte: «Sportlich zu sein ist mir wichtig. Wäre ich nicht sportlich, könnte ich nicht mit meinen Freunden spielen. Ich hätte wohl gar keine. Wir spielen immer draussen, Fussball, Baseball, Basketball.» Jemand wählte «religiöse Werte» und meinte: «Gott ist die Antwort auf alles.» Ein Mädchen entschied sich für «kreativ sein»: «Ich bin gern anders als die anderen. Ich brauche Kreativität. Wenn wir Projekte machen und alle machen dasselbe, wähle ich etwas anderes.»

Nach dem Aufsatz kreuzten die Schüler noch an, ob der Wert ihr Leben beeinflusst hatte und ob sie versuchten, diesen Wert zu leben. Die gesamte Prozedur wurde in abgewandelter Form noch zwei- bis dreimal pro Schuljahr wiederholt.

Die Aufsätze, die beantworteten Fragen und auch die Ergebnisse der zentralen Prüfungen gingen an die Forscher. Diese verglichen die Resultate der Schüler mit denen einer Kontrollgruppe. Dort wurde nur über Werte geschrieben, die nichts mit den Schülern zu tun hatten.

Im Fokus der Studie standen besonders die afroamerikanischen Schüler. Diese wurden als Gruppe im Alltag immer wieder mit dem Vorurteil konfrontiert, dumm und faul zu sein, bis sie es selber glaubten. Die Intervention wirkte! Sie verbesserten ihre Noten. Der Effekt war besonders deutlich bei den schlechteren Schülern. Sie bekamen bessere Zeugnisse und blieben über zwei Jahre hinweg stabil auf dem Niveau. Manche verbesserten sich sogar noch weiter. Sitzenbleiber gab es unter hundert Schülern nur noch drei. Nicht so in der Kontrollgruppe. Da blieben dreimal so viele Afroamerikaner sitzen. Ein deutlicher Effekt, noch dazu für so eine simple Intervention.

Die Aufsätze, in denen sie sich auf ihre eigenen Werte besonnen hatten, halfen den afroamerikanischen Schülern, ihr Bild von sich selbst zu verbessern. Dadurch drängten sie negative Selbstbilder zurück. Das ist wichtig: Denn wer schlecht über sich und seine Leistungen denkt, strauchelt tatsächlich. Und gerät in eine Abwärtsspirale. Doch diese Spirale funktioniert auch aufwärts – wie bei den Afroamerikanern in der Studie und bei Meike in der Geschichte.

Zum Nach- und Weiterlesen

Die Studie mit den Ratten, die von den Versuchsleitern jeweils als dumm oder schlau eingeschätzt wurden:

Rosenthal, R. & Fode, K. L. (1963). The effect of experimenter bias on the performance of the albino rat. Behavioral Science, 8(3), 183–189.

Die Studie an den Grundschulkindern und ihren Lehrern, die von einem Entwicklungsschub überzeugt wurden. Der gefundene Effekt wurde fortan als Pygmalion-Effekt bezeichnet:

Rosenthal, R. & Jacobson, L. (1966). Teachers’ Expectancies: Determinant of Pupils’ IQ Gains. Psychological Reports, 19, 115–118.

Eine Zusammenfassung von Studienergebnissen zu Pygmalion-Effekten mit einer Beschreibung von Wirkmechanismen und Bedingungen, unter denen diese besonders ausgeprägt sind:

Rosenthal, R. (2002). Covert communication in classrooms, clinics, courtrooms, and cubicles. American Psychologist, 57(11), 839–849.

Die Studie zu den Matheleistungen von jungen Frauen, die durch das Lesen verschiedener Texte beeinflusst wurden. Anders als oben der Einfachheit halber dargestellt, kamen vier verschiedene Texte zum Einsatz:

Dar-Nimrod, I. & Heine, S. J. (2006). Exposure to scientific theories affects women’s math performance. Science, 314(5798), 435–435.

Die Studien zur Verbesserung des Selbstbilds mithilfe der Aufsätze zu persönlich bedeutsamen Werten. In den Artikeln und deren «Supporting Online Material» wird auch die Durchführung der Intervention genauer beschrieben:

Cohen, G. L., Garcia, J., Apfel, N., & Master, A. (2006). Reducing the racial achievement gap: A social-psychological intervention. Science, 313(5791), 1307–1310.

Cohen, G. L., Garcia, J., Purdie-Vaughns, V., Apfel, N., & Brzustoski, P. (2009). Recursive processes in self-affirmation: Intervening to close the minority achievement gap. Science, 324(5925), 400–403.

Eine zusammenfassende Darstellung der letzten drei Literaturquellen in deutscher Sprache findet sich unter:

Spitzer, M. (2009). Ja, ich kann! Nervenheilkunde, 28(7), 425–430.