Czytaj książkę: «Unverglüht»
Jona Mondlicht
Unverglüht
Ein erotischer Roman
Jona Mondlicht
Jona Mondlicht wurde im März 1969 in Erfurt geboren, wuchs dort auf und wohnt nach einigen beruflich bedingten Umzügen wieder im regionalen Umfeld der Stadt.
Geschrieben hat er, seitdem er einen Stift in der Hand halten konnte. Anfangs krakelig, mittlerweile eher verschnörkelt. Sein erstes Manuskript verfasste er im Alter von sieben Jahren. »Der Gärtner, das Blümchen und der Papagei« wurde jedoch nie veröffentlicht. Es lag wohl daran, dass er erst auf der letzten Seite bemerkte, den Papagei in der Handlung vergessen zu haben.
Da sich davon also nicht leben ließ, erlernte er einen handfesten Beruf, studierte anschließend in der Fachrichtung Informatik und schloss 1998 ein Studium als Diplombetriebswirt ab.
Auch literarisch hat er dazugelernt. Im Jahr 2001 gründete er die Plattform „Schattenzeilen“ und beteiligt sich dort auch heute noch aktiv schreibend und betreibend. 2008 steuerte er zwei seiner Kurzgeschichten für das Buch »kopfkino« bei.
Aktuelle Infos: http://www.jonamondlicht.de
JONA MONDLICHT
Unverglüht
EIN EROTISCHER ROMAN
WWW.ELYSION-BOOKS.COM ELYSION-BOOKS TASCHENBUCH BAND 4053
1. Auflage: Mai 2014
VOLLSTÄNDIGE TASCHENBUCHAUSGABE
ORIGINALAUSGABE
© 2014 BY ELYSION BOOKS, LEIPZIG
ALL RIGHTS RESERVED
Sämtliche Namen, Orte, Charaktere und Handlungen sind frei
erfunden und reine Fiction der Autoren/innen. Alle Ähnlichkeiten
mit Personen, lebend oder tot, sind Zufall.
UMSCHLAGGESTALTUNG: Ulrike Kleinert
www.dreamaddiction.de Foto: Lelisanth/Fotolia LAYOUT & WERKSATZ: Hanspeter Ludwig www.imaginary-world.de
PRINTED BY OPOLGRAF
ISBN ebook: 978-3-945163-05-4
Printed in Poland
Mehr himmlisch heißen Lesespaß finden Sie auf:
Inhalt
Kapitel Eins
Kapitel Zwei
Kapitel Drei
Kapitel Vier
Kapitel Fünf
Kapitel Sechs
Kapitel Sieben
Kapitel Acht
Kapitel Neun
Kapitel Zehn
Kapitel Elf
Kapitel Zwölf
Neujahr
Kapitel Eins
Es ist ein dunkler und nasser Vormittag im Dezember, an dem diese Geschichte ihren Anfang nimmt. Einem milchgrauen, gelangweilten Himmel entfallen nasse und schwere Schneeflocken, die auf dem Boden sofort zu einer schlierigen Masse tauen. Die kleinen Geschäfte am Straßenrand spenden aus ihren Schaufenstern heraus ein wenig Licht, gerade ein paar Meter weit, bis es von der nächsten grauen Fassade wieder verschluckt wird. Lange Mäntel und aufgespannte Regenschirme schieben sich die Straße entlang, verhüllen Menschen und ihre Gedanken. Über ein Flickwerk aus zerbrochenen Steinplatten, mit Kies provisorisch gefüllten Löchern und kalten Pfützen. Wege zur Arbeit oder nach Hause, die letzten Einkäufe vor dem Wochenende und Besorgungen für das Weihnachtsfest begegnen sich, ohne einander zu kennen. Ein unangenehmer, scheinbar unbedeutender Tag.
Und doch nimmt etwas seinen Anfang.
Inmitten des zähen Stroms mit sich selbst beschäftigter Menschen treibt Sarah. Die Hände in den Taschen einer grauen, gefütterten Jacke vergraben. Den Kopf unter der Kapuze gesenkt. Mit knöchelhohen Stiefeletten aus nassem Wildleder an den Füßen. Sie ist nicht auf dem Weg zur Arbeit und trägt auch keine Einkäufe bei sich. Sie lässt sich vorbeischieben an den Schaufenstern, Kerzen, Lichterketten, Süßigkeiten. Das alles interessiert sie nicht. Schon zum dritten Mal geht sie die Straße scheinbar ziellos auf und ab. Jedes Mal mit zunehmenden Herzklopfen, wenn sie sich einer unscheinbaren, kleinen Toreinfahrt nähert. Gleich gegenüber dem alten Turm, der zu jeder vollen Stunde dunkles Glockenläuten über den Stadtteil schickt. Dort, wo ein von Rost ergriffenes Metallschild in der Größe eines Buchrückens befestigt ist. Schwarze Buchstaben auf braunem Grund.
Lederwaren Manufaktur, Inhaber C. B. Conrad.
Einen verstohlenen Blick wirft sie darauf, und noch einer folgt dem gepflasterten Weg in den dunklen Hinterhof. In dem nicht viel mehr zu sehen ist als ein Stück einer verfallenen Mauer, ein gegen sie gelehntes altes Fahrrad und mehrere Mülltonnen. Dieser Moment raubt ihr den Atem, ihr Schritt wird unsicher, beinahe biegt sie ab. Und dann lässt sie sich doch jedes Mal weiter schieben. Mit den Menschen, Mänteln, Regenschirmen. Um am Ende der Straße umzukehren und einen neuen Versuch zu unternehmen.
Natürlich weiß Sarah, dass die Mauer und das Fahrrad hinter der Toreinfahrt nicht das Ende der Welt ausmachen. Sie weiß, dass sich der schmutzige Hinterhof um das Haus herum fortsetzt und, wenn man sich weiter hineinwagt, zu einer kleinen Holztür führt. Das weiß sie. Denn sie war gestern bereits dort.
Genau genommen hat die Geschichte daher schon gestern begonnen. Sarah erinnert sich daran, wie sie das Metallschild entdeckte. Im Vorübergehen, denn eigentlich war sie auf der Suche nach einem Weihnachtsgeschenk. In noch keinem Jahr hat sie es gemocht, Geschenke zu Anlässen zu finden. Sie findet lieber die Anlässe zum Schenken. Spontane Überraschungen und kleine Aufmerksamkeiten, ganz so, wie es ihr in den Sinn kommt. So suchten ihre Augen nach einer Idee, nach einer Inspiration für das, was sie später in Geschenkpapier hüllen könnte. Und ihr Blick begegnete diesem rostigen Schild. Sarah konnte nicht einmal sagen, ob es schon immer dort befestigt war, denn sie hatte es noch nie zuvor wahrgenommen.
Lederwaren Manufaktur, Inhaber C. B. Conrad.
Einen Moment blieb sie verwundert stehen, sah durch die Toreinfahrt, neugierig den Kopf gereckt. Sah Mauer, Fahrrad, Mülltonnen. Ihr fiel ein, dass sie sich einen Gürtel zu Weihnachten schenken könnte, ein immerhin besseres Geschenk als Socken. Nicht wesentlich kreativer, aber etwas, das sie wirklich gebrauchen konnte. Kurz entschlossen wagte sie sich in den schmalen Gang hinein, durchquerte die Einfahrt. Sie fand einen Hinterhof, eingequetscht von einer grauen Hauswand, an der alte Kabel herunterhingen, und einer unansehnlichen, hohen und nassen Mauer. An einer Seite des Innenhofes entdeckte sie eine Holztür, und wenn es dort eine Manufaktur geben sollte, musste das deren Eingang sein.
Vorsichtig legte Sarah die Hand auf die kalte Metallklinke. Schwarz, geschwungen und abgegriffen. Sie hatte damit gerechnet, dass die Tür verschlossen sein könnte oder lediglich in ein Treppenhaus führen würde. Wer weiß, vielleicht gab es diese Manufaktur gar nicht mehr oder längst an einem ganz anderen Ort. Wahrscheinlich war dieser Gedanke der Grund, aus dem sie die Klinke schließlich doch mutig und kräftig nach unten drückte.
Die Tür sprang regelrecht nach vorn. Sarah war überrascht. Wärme strömte ihr entgegen wie eine Blase, hüllte sie ein und zog sie in den Raum. Aber nicht nur das. Mit der Wärme ergriff sie auch ein Geruch, der ihr durch die Nase direkt unter die Haut kroch. Leder. Ein würziger, fettiger Duft geschnittenen Leders. Mit einem Hauch Cognac. Sie sog die Luft ein. Es gab diese Manufaktur. Hier. Unüberriechbar.
Sarah trat leise in den Raum. Obwohl sie vorsichtig die Tür hinter sich zuzog, gab diese ein seufzendes, quietschendes Geräusch von sich. Wem immer dieser Laden gehörte, er brauchte keine Glöckchen, die über der Tür befestigt auf Kunden aufmerksam machen. Sarah stand am Anfang eines schwach beleuchteten Flures, dessen Wände von oben bis unten mit Gürteln, Riemen und Schnüren verhängt waren. Es schien, als seien die obersten Haken direkt an der Decke befestigt, was den Raum kleiner und drückender erscheinen ließ. Von der anderen Seite des Flures legte sich ein sanftes, gelbes Licht über den grauen, abgeschliffenen Parkettfußboden. Viel zu dunkel, als dass man dort hätte arbeiten können. Als sich Sarah von der Tür löste, berührte sie einen der Ledergürtel, der gleich neben ihr hing. Festes, schwarzes Leder. An den Seiten sorgfältig mit einem roten Faden genäht. Zweireihig gestanzte Lochreihen. Sie legte ihn über ihre Handinnenfläche, zog ihn ein wenig hin und her. Sie erinnerte sich an den Tag, an dem sie zum ersten Mal bemerkt hatte, wie aufregend Leder auf sie wirkte.
Das war im letzten Sommer. Nicht lange her. Sarah und ihr damaliger Freund waren in den Urlaub gefahren, sehr spontan, sehr individuell. Eine ihrer Übernachtungen hatte sie auf einen alten Bauernhof geführt, spartanisch eingerichtet, aber gastfreundlich. Sarah hatte an einem Haken im Stall Gurte und Zaumzeug entdeckt und über die Länge der Lederriemen gescherzt. »Die kannst du dreimal um mich wickeln«, hatte sie gesagt, und ihr Freund hatte sie beim Wort genommen. Noch am gleichen Abend. Als sie mit gebundenen Händen vor ihm lag und dabei nicht nur seine Lust bemerkte, war etwas geschehen in ihr. Das Leder hatte nicht nur auf ihrer Haut Spuren hinterlassen.
»Hallo?« Eine tiefe Stimme knarzte durch den Flur.
Sarah hatte in Gedanken den Ledergürtel um ein Handgelenk gelegt und erschrak. Am Ende des Flures war ein weißhaariger, älterer Mann aufgetaucht, dem sie höchstens bis zu den Schultern reichte. Eine kleine, runde Brille saß auf einer recht dicken Nase und ließ den Mann ein wenig verkniffen aussehen. Vielleicht war er es auch.
»Kann ich dir helfen?«
Sarah ließ den Gürtel aus ihrer Hand gleiten. »Danke, ich schaue nur mal.« Sie versuchte ein Lächeln, zog kurz den Kopf zwischen die Schultern.
»Nach was?«, rief der Mann von der anderen Seite des Flures interessiert und schob seine Brille ein wenig nach oben.
Sarah räusperte sich. »Nach einem Gürtel.« Sie sah die lederbehangenen Wände auf und ab, als sei das der Beweis. Ihre Antwort konnte keine unerwartete sein. Nichts anderes konnte man hier suchen. Unerwartet, dachte Sarah, war daher eher die Frage des Mannes.
»Für die Hand, Kindchen?« Der Mann schien nicht nachgeben zu wollen.
Sarah sah ihn irritiert an. Kindchen? Sie war knapp über dreißig, sah ganz sicher nicht wie ein Kindchen aus und wenn dieses Wort gerechtfertigt war, dann nur, wenn der Mann noch älter war, als er aussah. »Bitte? Für die Hand?«
»Für die Hand«, wiederholte der Mann von der anderen Seite des Flures. »Du hast eben einen Gürtel um dein Handgelenk gewickelt.« Der Mann räusperte sich. »Trägt man das jetzt so?«
Für einen Moment fühlte sich Sarah ihrer Gedanken beraubt, ertappt, dann fing sie sich wieder. Atmete tief aus. »Entschuldigen Sie. Ich wollte nicht stören.« Sie zog sich die Handtasche zurecht.
Draußen schlug die Turmuhr. Sechs Mal würde die Glocke dunkel läuten, das wusste Sarah. Es war Feierabend.
»Nein«, beeilte sich der Mann auf der anderen Seite des Flures zu sagen, »du störst nicht, Kindchen. Überhaupt nicht. Ich wollte gerade den Laden schließen, weißt du, und da hätte ich ohnehin aufstehen müssen.« Der Mann ließ die runde Brille wieder auf die Nase sinken und setzte sich in Bewegung. Langsam schritt er durch den Flur, griff mal rechts, mal links nach einem Riemen. »Wie soll der Gürtel denn aussehen, den du suchst?« Er sah zu Sarah. »Für dich?«
Sarah hatte den Eindruck, dass er sie von oben nach unten musterte.
»Breit? Schwarz?« Ohne eine Antwort abzuwarten, suchte der Mann in dem von der Wand hängenden Leder und zog einen Gürtel hervor. »Schau, dieser hier.«
Sarah trat keinen Schritt auf den Mann zu, aber das war auch gar nicht nötig, denn er war schnell bei ihr.
»Echtes Leder, Kindchen. Fühle mal.« Er hielt ihr den Gürtel entgegen und sah ihr dabei von oben herab in die Augen, als sei seine Feststellung eine zweideutige. Oder als wolle er etwas ergründen.
Sarah fürchtete, dass er ihr nicht glaubte. Vielleicht hielt er sie für eine Diebin, die sich durch die knarrende Tür verraten hatte. Sie entschied sich, besser die Flucht nach vorn zu ergreifen. »Ich würde mich wirklich gern später entscheiden. Sie wollten den Laden doch gerade schließen …«
»Natürlich«, sagte der Mann und ließ seine Hand sinken. »Selbstverständlich.« Sein Blick bohrte weiter in Sarahs Augen.
Mit einem verlegenen Lächeln griff Sarah hinter sich, tastete nach der Türklinke. Sie wollte sich nicht einfach wegdrehen. Dieser Flur war ihr beinahe unheimlich. Das trübe Licht, welches von der anderen Seite her leuchtete. Die vielen Riemen. Der Geruch. Und dann dieser Mann.
»Eine Frage noch, bevor du gehst.«
Sarah drückte bereits die Türklinke nach unten, zögerte aber. »Ja?«
»Was gefällt dir an einem Ledergürtel am besten?« Der Mann drehte den Riemen in seiner Hand zu einer Schlaufe und legte den Kopf schräg. Hinter seiner Brille forschten blaugraue Augen.
»Der Geruch«, antwortete Sarah und erschrak sogleich über ihre Antwort. Zu spontan. Zu ehrlich.
»Der Geruch. Verstehe.« Der Mann nickte langsam, als würde er darüber nachdenken und dann feststellen, dass die Antwort eine mögliche gewesen sei. »Wir sehen uns morgen, Kindchen. Ich glaube, ich habe da etwas für dich.« Lächelnd entließ er Sarah auf den Hinterhof. Während sie durchatmete und die kalte Luft einsog, hörte sie das Schloss der Holztür hinter sich zweimal schnappen.
Der Geruch. Sarah schüttelte den Kopf und wunderte sich über ihre Antwort. Der Schnitt, die Länge, die Farbe, die Prägung, die Schließe, das Material. Nachvollziehbare Eigenschaften, die man bewundern kann. Aber doch nicht den Geruch. Sarah musste sich eingestehen, dass diese Antwort aus dem Tiefsten ihrer Seele gerutscht war. Aufgewühlt kehrte sie durch die Toreinfahrt auf die Straße zurück, vereinigte sich mit den Mänteln und Regenschirmen und suchte das Weite.
Lederwaren Manufaktur, Inhaber C. B. Conrad.
Heute nähert sich Sarah ein viertes Mal diesem Blechschild. Sie weiß nicht, was mehr Reiz auf sie ausübt: Der Gedanke, dass Überwindung ihr eigenes Geschenk veredeln würde. Oder das seltsame Gefühl, dass in diesem halbdunklen Flur etwas auf sie wartet. Beides kämpft gegen das Unbehagen, sich wieder den seltsamen Fragen und Blicken dieses Mannes auszusetzen, dem sie gestern zwischen den vielen Gürteln begegnet war. Sarah wird sich bewusst, dass sie wohl noch stundenlang die Straße auf und ab gehen wird, solange sie nicht endlich die Toreinfahrt passiert. Dabei ist ihr jetzt schon kalt. Ihre Füße fühlen sich taub an, die Hände hat sie in den Taschen zu Fäusten geschlossen.
Die letzten Meter bis zu dem Schild spürt sie, als würde sie gegen den Strom laufen. Sie vermutet, dass niemand Notiz von ihr nehmen wird, wenn sie die Straße verlässt und auf den Hinterhof zusteuert. Und doch fühlt es sich an, als könnten in genau diesem Moment alle Passanten auf der Stelle verharren und ihr nachsehen. Als wäre es etwas Verruchtes, den Buchstaben eines braunen Blechschildes zu folgen und eine Ledermanufaktur aufzusuchen.
Die Glocke des alten Turms schlägt. Zehn Mal wird sie es tun. Ruhig, mit dunklem Ton.
Sarah hält die Luft an und biegt ab.
Sie durchquert die Toreinfahrt, lässt Mülltonnen und Fahrrad hinter sich. Dann bleibt sie vor der Holztür stehen. Nichts ist passiert. Sie lauscht kurz, aber niemand folgt ihr. Warum auch. Es ist ein dunkler und nasser Vormittag im Dezember, an dem diese Geschichte ihren Anfang nimmt. Mehr nicht.
Kapitel Zwei
Sarah zieht frierend die Holztür hinter sich zu und gibt sich keine Mühe, das Quietschen und Knarren zu vermeiden. Sie will gehört werden.
»Hallo?« Sie ruft halblaut in den Flur hinein. Nichts hat sich verändert. An beiden Seiten des Raumes hängen Gürtel und Riemen in einem halbdunklen Licht. Einen Moment fühlt sie sich wieder vom Geruch nach Leder und Cognac überwältigt, aber sie konzentriert sich. Sie will diesem Mann keine Chance geben, sie wie ein Kindchen zu behandeln. So wie am Vortag. Dieses Mal will sie souverän wirken.
»Komm näher«, tönt die dunkle Stimme von der anderen Seite des Flures. »Komm nur!«
Langsam durchquert Sarah den Flur, der ihr mit jedem Schritt länger erscheint. Er wirkt wie ein Tunnel in eine andere Welt. Als ließe sie gerade die Kälte, die Anonymität und alles, was bis eben um sie war, weit hinter sich. Ihre Schritte klingen leise auf dem alten Parkett, die behangenen Wände des Flures dämpfen jedes Geräusch. Sarah fühlt sich einen Moment eingeengt.
»Wo bleibst du, Kindchen?«
Als Sarah die andere Seite des Flures erreicht, öffnet sich vor ihr ein Raum in der Größe zweier Wohnzimmer. An den Wänden stapeln sich offene Regalfächer bis unter die Decke und in ihnen schwarze Rollen, Päckchen und Kisten. An einer Seite entdeckt Sarah eine Werkbank, die einem alten Holztisch ähnelt, die Arbeitsplatte mit Kimmen überzogen, stehend auf viel zu kräftigen Füßen. Ein kleiner Schraubstock klammert sich an seiner Seite fest, andere Geräte liegen verstreut auf ihm. Maßbänder und Lineale hängen in Griffweite an der Wand. Und es riecht nach Leder.
»Ich dachte schon, du kommst nicht, Kindchen. Setze dich zu mir!«
In der Mitte des Raumes steht ein kleines, schäbiges Sofa, über dessen rote Lehne zur Hälfte eine Decke gehängt ist. Auf der Sitzfläche sind zwei schwarze Kissen mit Fransen drapiert. Ein niedriger Holztisch vor dem Sofa trägt eine schmale Kerze, der nur eine handbreit Zeit bis zum Erlöschen bleiben wird.
»Komm!«
Sarah entdeckt den Mann mit dem weißen Haar in einem Sessel, der auf der anderen Seite des Tisches steht. Groß und wuchtig gepolstert, mit schwarzem Leder bezogen, weder zum Sofa noch zum Tisch passend. Mit einer Lehne, die bis über den Kopf reicht und an deren Seiten das Leder mit einer endlosen Reihe Nieten befestigt ist. Wie ein Thron, denkt Sarah.
»Guten Tag«, sagt sie. »Ich möchte keine Umstände machen. Ich bin nur wegen des Gürtels hier.« Sarah weiß, dass das nicht stimmt. Wenn dem so wäre, hätte sie nicht vier Anläufe benötigt, bis sie in den Hinterhof abbiegen konnte. Irgendetwas anderes hat sie hierher gezogen.
»Natürlich«, sagt der Mann. »Selbstverständlich.«
Sarah erinnert sich, dass er das auch gestern gesagt hat. Als sie den Laden schnell wieder verlassen wollte. Er hatte sie nicht daran gehindert.
Der Mann erhebt sich aus seinem Sessel, stützt sich mit den Armen auf den Lehnen ab. Ein wenig schwerfällig sieht es aus, denkt Sarah. Vielleicht ist er doch viel älter als angenommen? Er zieht sich seine schwarze, seidig glänzende Weste glatt, die er über einem weißen Hemd mit hohem Kragen trägt.
»Du frierst, oder?« Der Mann tritt auf Sarah zu und legt seine rechte Hand an ihren Arm. Sieht an ihr herab. »Und deine Schuhe, um Himmels willen, das Leder ist ganz durchnässt.« Die Vibrationen der tiefen Stimme spürt Sarah sogar über die Hand des Mannes an ihrem Arm.
Sarah bemerkt, dass sie instinktiv einen Schritt zurücktreten will, als der Mann ihr so nahe kommt, aber stattdessen steht sie wie angewurzelt. Sie ist nicht in der Lage, wieder Distanz herzustellen. »Geht schon«, quetscht sie heraus und lächelt verlegen, aber überzeugend klingt es nicht.
»Nein, das geht nicht.« Der Mann spricht langsam und erzeugt die Eindringlichkeit seiner Worte so ganz nebenbei, dass es Sarah schauert. »Weißt du, ich mache uns schnell einen heißen Tee. So viel Zeit hast du.«
»Das ist nett von Ihnen, aber …« Sarah stockt. Es gibt kein Aber. Jedenfalls kein ehrliches. Sie friert tatsächlich, sie hat noch genug Zeit, und wenn sie ehrlich ist, wäre sie über ein heißes Getränk nicht undankbar. Ganz abgesehen davon wollte sie den Laden noch gar nicht verlassen.
»Siehst du«, sagt der Mann, als hätte er ihre Gedanken gelesen. »Kein Aber. Zieh deine Jacke aus und setze dich.« Er nimmt seine Hand von ihrem Arm, lächelt und schiebt sich an ihr vorbei. »Einen kleinen Moment wird es wohl dauern, bis das Wasser kocht.«
Sarah sieht dem Mann hinterher, bis er durch einen kleinen, schwarzen Vorhang zwischen den Regalen aus dem Raum verschwindet. Seine Schritte sind noch kurz zu hören, dann wird es still. Keine tickende Uhr, keine Straßengeräusche, nichts. Fast wie in einem schalldichten Raum, denkt Sarah.
»Na gut«, sagt sie leise und eher zu sich selbst. Sie fühlt sich zwar ein wenig dirigiert, aber sie tröstet sich damit, dass sie jederzeit den Laden verlassen kann. Sie kennt den Weg durch den langen Flur bis zur Holztür. Er ist nicht versperrt. Bedrohlich wirkt nichts in diesem Raum. Sie hat keine Angst. Und sie will doch gar nicht gehen.
Sarah knöpft ihre Jacke auf, streift sie von den Schultern, faltet sie einmal und legt sie sich über den Arm. Sie sinkt in den großen Thronsessel, da sie aus ihm heraus den Vorhang im Blick behalten kann, durch den der Mann verschwunden ist. Auf dem Sofa hätte sie den verhängten Eingang zwischen den Regalen im Rücken gehabt. Sie betrachtet die Lampe, die über dem Holztisch mit der Kerze hängt. Altertümlich geschwungen, der Schirm aus längst nicht mehr weißem Milchglas. Keine dieser modernen Beleuchtungen, sondern tatsächlich noch ein brennender Glühwendel.
Hinter dem Vorhang klappert es metallisch, Wasser fließt. Sarah horcht auf. Schritte des Mannes sind zu hören, ein wenig schlurfend. Tatsächlich, er setzt Wasser auf.
Sarah atmet tief durch und knetet sich die Hände über der gefalteten Jacke, die sie auf ihren Schoß gelegt hat. Die warme Luft in dem Raum tut ihr gut. Der Geruch macht ihn sogar gemütlich, obwohl die Einrichtung eher einem gefüllten Lager gleicht. Sarah überlegt, aus welchem Grund sie neben dem fettigen Geruch des Leders immer wieder einen leichten Cognacduft wahrnimmt. Er stört nicht, im Gegenteil, er verleiht dem Raum eine besondere Note. Ob der Mann sie hinter dem Vorhang hören wird, wenn sie ihn danach fragt?
Der schwarze, hängende Stoff bewegt sich, eine Hand mit Tasse schiebt sich an seiner Seite vorbei und schließlich betritt der Mann den Raum. Er zögert kurz, als er Sarah sieht, und Sarah hat das Gefühl, dass er überrascht oder irritiert ist. Sie richtet aufmerksam den Oberkörper auf. »Kann ich helfen?«
Der Mann kommt zum Tisch, stellt wortlos zwei Tassen ab, schiebt eine an der Kerze vorbei auf die Seite des Sofas, die andere auf die Seite des Sessels. Aus einer Tasche seiner Weste zieht er zwei Teelöffel, platziert sie sehr genau neben den Tassen. Dann richtet er sich auf, mustert Sarah wenige Sekunden und verharrt, als würde er auf etwas warten.
Sarah schaut ihn fragend an. »Danke«, sagt sie schließlich aus ihrer Not heraus, auch wenn die Tassen noch leer sind und sie das Wasser hinter dem Vorhang gerade brodeln hört.
»Danke?«, wiederholt der Mann. Mit einem forschenden Blick sticht er in Sarahs Gedanken. »Danke für was?« Dann weist er mit dem Zeigefinger auf Sarah. »Das da, Kindchen, ist mein Platz.« Er kneift die Augen zusammen. »Nicht deiner.« Unvermittelt wendet er sich ab und verschwindet wieder aus dem Raum.
Sarah ist für einen Augenblick wie versteinert. Sein Platz? Sie erinnert sich, dass der Mann hier gesessen hat, als sie die Werkstatt betrat. Wie auf einem Thron, dachte sie. Tatsächlich. Sie hat sich auf seinem Thron niedergelassen. Woher aber konnte sie ahnen, dass er den Sessel für sich beansprucht? Sarah findet es zunächst unfreundlich, einem Gast seinen Platz streitig zu machen. Nie wäre ihr das in den Sinn gekommen. Erst recht nicht in einem so strengen und fordernden Tonfall. Und schließlich fühlt sie sich neben ihrer Eigenschaft als Gast noch immer als Kundin. Sie beabsichtigt, einen Gürtel zu kaufen. Vielleicht sollte sie doch einfach gehen? Kurz lacht sie empört auf, beißt sich aber schnell auf die Lippen. Dann fällt ihr Blick auf die Teetassen, die sich auf dem dunklen, glatten Holz des Tisches ein wenig spiegeln. Ganz so unfreundlich ist es jedenfalls nicht, einen heißen Tee anzubieten.
Wieder betritt der Mann den Raum, stellt eine Zuckerdose auf den Tisch. Sieht kurz und eindringlich zu Sarah. Verschwindet wieder. Ohne Worte. Hinter dem Vorhang beendet das Wasser sein Brodeln.
Sarah überlegt nicht lange. Der Blick des Mannes hatte sie getroffen. Nicht heftig, nicht schmerzend, aber in ihrer Seele. Genauso hätte er sagen können: »Steh sofort auf und mache meinen Platz frei. Steh sofort auf und begib dich auf den Platz, den ich dir zugewiesen habe.« Sie erhebt sich zügig, wechselt die Seite des Tisches. Bemüht sich, kein Geräusch dabei zu machen und mit der gefalteten Jacke nicht die Tassen und nicht die Zuckerdose zu touchieren. Dann lässt sie sich auf dem alten, roten Sofa nieder. Sinkt in ein Polster, dessen vergangene Jahre man nicht nur sehen, sondern auch fühlen kann. Setzt sich schräg, damit die Knie nicht nach vorn zeigen und die Tischkante berühren. Ihre Jacke legt sie schließlich über eine der Lehnen. Kaum hat sie sich positioniert, hört sie hinter sich Schritte.
Der Mann stellt eine Kanne auf den Tisch, klein, rundbäuchig und mit blassem Blumenmuster. Ohne den Platzwechsel von Sarah zu kommentieren, lässt er sich in seinen Thron fallen und atmet aus, als hätte er Schwerstarbeit verrichtet. Er nimmt die kleine Brille von der Nase und reibt sie an seinem Hemdsärmel. »Oh«, sagt er und sieht zu Sarah herüber. »Wie unhöflich, wir haben uns noch gar nicht vorgestellt.« Dann legt er beide Arme auf die Lehnen und sieht entspannt aus. »Mein Name ist Carl. Carl Conrad. Mir gehört diese Ledermanufaktur.« Mit dem Kopf nickt er seitwärts und meint damit den Raum um sich, der unschwer als solche zu erkennen ist. »Aber das hast du dir sicherlich schon denken können. Und wer bist du, Kindchen?«
Sarah bemerkt einen Hauch Teegeruch. Schwarzer Tee. Nein, Rooibos, glaubt sie. »Sarah«, hört sie sich sagen, noch bevor sie sich Gedanken darüber gemacht hat, ob sie ihren Vornamen oder doch besser nur den Nachnamen nennen soll. Sie bemerkt, dass sie zum zweiten Mal handelt, ohne richtig darüber nachgedacht zu haben. Sie muss sich mehr konzentrieren, nimmt sie sich vor.
»Zieh deine Schuhe aus, Sarah.«
Sie sieht kurz nach unten auf die braunen Stiefeletten, dann wieder zu dem Mann. Fassungslos. Ihr steht der Mund offen. Die Schuhe ausziehen?
»Sie sind nass. Vollgesogen mit Wasser. Du hast kalte Füße.« Ruhig liegen die Arme des Mannes auf den Lehnen, seine Hände sind leicht geöffnet. Keine Regung. »Wenn du also keine Erkältung haben möchtest zu Weihachten …« Der Mann legt den Kopf schräg, schaut eindringlich über den Tisch.
Sarah fühlt ein »Wird es bald?«, obwohl der Mann weder in diesem Tonfall spricht noch in anderer Weise bedrohlich auf sie wirkt. Es ist einfach nur ein Gefühl. Sie beugt sich nach unten, ohne ihn aus den Augen zu lassen, tastet mit den Fingern nach den flachen Absätzen der Stiefeletten, zieht ein wenig an ihnen. Erst rechts, dann links. Während sie das tut, fliegen Blicke über den Tisch. Von ihr zu ihm, von ihm zu ihr. Sarah meint, ein kurzes Aufleuchten zu erkennen, vielleicht Genugtuung, aber es kann ebenso ein Flackern der Kerze auf dem Tisch gewesen sein. Sie schlüpft aus den nassen Schuhen.
»Stell sie drüben auf die Werkbank, dort trocknen sie am besten. Aber nicht zu nah an den Heizkörper.«
Sarah ist sprachlos. Sie hatte erwartet, dass er sich darum bemühen würde, sich erhebt, ihr die Schuhe abnimmt. Stattdessen sitzt er auf seinem Thron und bewegt sich nicht. Sarah findet, dass die Bezeichnung Thron durchaus seine Berechtigung hat. Dass sie viel besser passt als einfach nur »Ledersessel«. Sarah senkt den Blick, betrachtet ihre Socken, die an den Spitzen dunkel verfärbt sind. Tatsächlich nass. So soll sie durch die Werkstatt laufen? In Strümpfen? Sie schaut über den Boden hinweg zu der Werkbank. Das Parkett ist sauber, wenn auch ergraut und stumpf.
»Im Regal daneben liegt Zeitung, stopfe die Schuhe damit aus, bevor du sie zum Trocknen stellst.« Der Mann beugt sich ein wenig vor, als wolle er ein Geheimnis verraten. »Dann geht es schneller, Sarah.«
Sie nickt, erhebt sich, trägt die Stiefeletten hinüber zu der Werkbank. Sarah ist sicher, in ihrem Rücken ein Lächeln zu spüren. Amüsiert? Oder zufrieden? Sie weiß es nicht. Sie weiß nicht einmal, warum sie das überhaupt tut. Ein wenig wütend ist sie. Auf sich selbst. Dass sie sich von ihm belehren lässt, als wüsste sie nicht selbst, wie man Schuhe trocknet. Und dass er ihr so seelenruhig dabei zusieht. Das macht sie sauer.
»Mit Zucker, Kindchen?«
Sarah dreht sich kurz zu ihm. Zucker? Sie sieht, wie er die Kanne in der Hand hält und ihr einschenkt. Eine Hand hält den kleinen runden Deckel, damit er nicht stürzt. »Ich nehme mir schon selbst, danke«, sagt sie knurrig, während sie weiter Zeitungspapier knüllt und es in die Schuhe stopft. Bis hierhin durfte sie auch alles selbst machen, denkt sie, also braucht sie seine Hilfsbereitschaft für den Zucker nun auch nicht mehr.
»Also ohne«, hört sie ihn in ihrem Rücken sagen. Als wäre er enttäuscht. Kurz hält sie mit einem Knäuel Zeitungspapier in der Hand inne. Überlegt, ob er sie nicht richtig verstanden hat. Als sie Schritte hört, sich umdreht und ihn mit der Zuckerdose und der leeren Kanne hinter dem Vorhang verschwinden sieht, weiß sie, dass es nicht so ist. Sie beschließt, es nicht zu hinterfragen.
»Sie haben nicht viele Kunden, oder?«, ruft sie ihm hinterher, schiebt das letzte Knäuel Zeitung in einen Schuh, platziert das Paar auf der Werkbank und begibt sich mit großen Schritten zurück auf das Sofa. Sie greift nach der Tasse an ihrer Tischseite, macht es sich bequem, nimmt die Beine nach oben, schlürft einen ersten Schluck. Rooibos, genau so, wie der Tee von Anfang an gerochen hat. Sarah schließt kurz die Augen und stellt fest, dass sie sich jedenfalls nicht unwohl fühlt. Wann hat sie das je erlebt – eine Duftmischung aus Rooibostee, Cognac und Lederwerkstatt. Fantastisch, denkt sie.