Czytaj książkę: «Factory Town»

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DARK PLACES

Jon Bassoff

Factory Town

Aus dem Amerikanischen von Sven Koch

Herausgegeben von Jürgen Ruckh


Originaltitel: Factory Town

© 2014 by Jon Bassoff

Published by Arrangement with Jon Bassoff, Longmont, CO, USA

Deutsche Erstausgabe, 1. Auflage 2021

Aus dem Amerikanischen von Sven Koch

Mit einem Nachwort von Marcus Müntefering

© 2021 Polar Verlag e. K., Stuttgart

www.polar-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) oder unter Verwendung elektronischer Systeme ohne schriftliche Genehmigung des Verlags verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Redaktion: Andrea Stumpf, Gabriele Werbeck

Umschlaggestaltung: Britta Kuhlmann

Coverfoto: © gui-yong-nian/Adobe Stock

Autorenfoto: © Jon Bassoff

Satz/Layout: Martina Stolzmann

Gesetzt aus Adobe Garamond PostScript, InDesign

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck, Deutschland

ISBN 978-3-948392-22-2

eISBN 978-3-948392-23-9

Für Tobey

Wenn wir schlafen, kann keiner einen Gesunden von einem Geisteskranken unterscheiden.

Shock Corridor

Inhalt

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

Epilog

»Welcome to Hell!«

Prolog

An dem Haus war nichts auffällig, nichts unterschied es von anderen Häusern in der Straße, von anderen in der Stadt. Zweistöckig, beige gestrichen, Doppelgarage, der Rasen davor ordentlich gemäht. In einem Zimmer im oberen Stockwerk brannte ein einziges trübes Licht, der Rest des Hauses lag im Dunkeln. Auf der anderen Straßenseite saß ein Mann in einem klapprigen alten Buick. Seine schwarzen Haare waren ungekämmt und zottelig, sein Gesicht war bleich und eingefallen. Schon eine Weile saß er da und starrte durch die regenschlierige Windschutzscheibe das Haus an. Außer seiner Abgaswölkchen hustenden Klapperkiste standen keine Fahrzeuge auf der Straße, gab es nicht das geringste Anzeichen von menschlichem Leben. Fast konnte man glauben, die Welt sei friedlich im Schlaf gestorben.

Schließlich machte der Mann den Motor aus, ließ aber den Schlüssel im Zündschloss. Er zog einen Flachmann aus dem Handschuhfach, nahm einen großen Schluck und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. Dann griff er in seine Jackentasche, fischte eine Zigarette heraus und steckte sie zwischen die Lippen. Er hielt den Zigarettenanzünder daran und zog so fest, dass der Tabak hellrot aufglühte. Gierig rauchte er, und nach wenigen Minuten war die Zigarette bis zum Filter heruntergebrannt. Er öffnete die Autotür und warf die Kippe auf den Gehweg. Dann saß er wieder lange Zeit nur da und sah dem Regen zu. Endlich stieg er aus und trat auf die stille Straße mit den stillen Häusern.

Langsam humpelte er durch den Vorgarten und mühte sich die Stufen zur Veranda hinauf, wo er fröstelnd und mit unstetem Blick stehen blieb. Mit zitternder Hand drückte er die Klingel, und das Läuten hallte durch das Haus. Als sich nichts rührte, schlug er mit der flachen Hand gegen die Tür.

Nach und nach gingen überall im Haus Lichter an. Schritte waren zu hören, dann ging die Tür auf. Hinter der Fliegentür stand eine alte Frau im Bademantel, einige Büschel ihrer vom Liegen platt gedrückten grauen Haare standen ihr vom Kopf ab. Als sie den Fremden auf der Veranda sah, wich alle Farbe aus ihrem Gesicht. Ich … ich dachte, Sie wären mein Sohn, sagte sie. Er kommt manchmal, wenn –

Der Mann trat einen Schritt nach vorne, sodass er den Türrahmen ausfüllte. Die Frau stolperte nach hinten, dabei öffnete sich ihr Bademantel, Entsetzen trat in ihren Blick.

Wo ist das Mädchen?, fragte er.

Was für ein Mädchen? Ich weiß nicht. Ich –

Der Mann drängte sich an der Frau vorbei ins Haus. Einen Moment blieb er mit schlaff herabhängenden Armen stehen und wiegte den Oberkörper vor und zurück, dann ging er weiter. Wo ist das Mädchen?, wiederholte er. Wo ist sie, verdammt noch mal?

Sie schüttelte den Kopf und sagte: Hier ist kein Mädchen. Sie müssen sich irren. Das ist die falsche Adresse.

Halten Sie den Mund, sagte er. Sie ist hier irgendwo. Das ist mein Haus. Ich wohne hier. Wo haben Sie sie versteckt?

In den nächsten paar Minuten durchsuchte der Mann das Haus, ging in jedes Zimmer, riss Bettdecken und Laken weg, zerrte Schreibtisch- und Kommodenschubladen heraus und öffnete Schranktüren. Dabei murmelte er die ganze Zeit vor sich hin, ein unverständliches Gebrabbel, nur gelegentlich hielt er inne, um wütend aufzustampfen.

Aber das Mädchen war nicht im Haus. Niemand außer der alten Frau war da.

Er kehrte ins Wohnzimmer zurück und setzte sich auf einen Stuhl. Seine Unterlippe zitterte, sein linkes Auge zuckte. Immer wieder rieb er mit beiden Händen über sein bleiches Gesicht.

Die suchen nach mir, sagte er mit kaum hörbarer Stimme. Alle, jeder von denen. Und wenn sie mich finden, geht’s mir an den Kragen, das weiß ich. Die werden mich foltern. Und bei lebendigem Leib begraben. Da wär ich auch nicht der Erste. Aber sie werden mich nicht finden. Oh nein. Dafür werde ich schon sorgen.

Der Mann hob den Kopf und sah die Frau an, die jetzt mit verschränkten Armen an der Wand lehnte. Ihre Beine zitterten heftig.

Ich könnte einen Drink vertragen. Haben Sie was?

Nur … nur Wein.

Ist in Ordnung. Bringen Sie mir die Flasche.

Einen Moment später kehrte sie mit einer Flasche Rotwein zurück, von der höchstens ein Glas getrunken worden war, und reichte sie ihm. Er zog den Korken heraus und setzte die Flasche an. Er trank und trank, bis sie fast leer war. Dann stierte er vor sich hin, und der Ausdruck auf seinem abgehärmten Gesicht wurde immer trüber. Draußen prasselte der Regen auf den Asphalt, und es blitzte, ohne zu donnern.

Ich habe schreckliche Dinge getan, sagte er. Dinge, auf die ich nicht stolz bin, die anderen wehgetan haben.

Die Frau nickte. Das ist in Ordnung, sagte sie leise. Wir alle haben Fehler gemacht.

Der Mann starrte zu Boden und ballte die Fäuste. Das Haus hier. Ich wohne hier gar nicht mehr, oder? Es klang mehr nach einer Feststellung als nach einer Frage.

Sie schüttelte den Kopf. Nein, Mister. Ich glaube nicht. Ich wohne hier schon sechs Jahre.

Als er langsam nickte, huschte ein dünnes, trauriges Lächeln über sein Gesicht. Wirklich, sechs Jahre? So lange ist das her?

Ja. Mein Mann und ich sind aus Pennsylvania hergezogen. Das war, bevor er –

Aber der Mann hörte nicht zu, sondern sah sich plötzlich mit panischem Blick um. Er stand vom Stuhl auf, ließ sich auf die Knie nieder und legte sich auf den Bauch, um ein Ohr auf den Boden zu pressen. Lange verharrte er so, das Grauen stand ihm im Gesicht. Hören Sie sie auch? Na, hören Sie sie? Die sind schon um die Ecke.

Doch zu hören war nur das leise Pfeifen eines Zugs in der Ferne. Er sprang wieder auf und rannte zum Fenster. Riss die Vorhänge zurück und starrte durch die dunklen Scheiben. Machen Sie alle Lichter aus, sagte er. Schnell!

Die Frau gehorchte. Sie kommen, sagte er. Und sie haben Fackeln, Säcke und Gewehre dabei. Eins ist sicher: Am Ende kommt doch keiner davon.

Nach einem kurzen Blick auf die Frau spähte er erneut aus dem Fenster. Dann zog er die Vorhänge wieder zu und fing an, im Zimmer auf und ab zu laufen. Dabei rieb er sich die Hände und brabbelte leise vor sich hin. Ohne Vorwarnung griff er unter sein Hemd und holte eine Pistole hervor. Die Frau schnappte nach Luft. Er warf das Magazin aus und prüfte es, dann schob er es zurück in den Griff, bis es einrastete.

Ich möchte Sie was fragen, sagte er. Wissen Sie, wer ich bin? Was ich getan habe?

Sie schüttelte den Kopf. Nein. Ich –

Wissen Sie, was ich getan habe? Jetzt schrie er es.

Ich … ich weiß überhaupt nichts.

Darauf nickte er sehr, sehr lange. Schließlich setzte er sich die Pistole an die Schläfe. Im Diesseits und im Jenseits, sagte er, bevor er abdrückte. Es gab einen ohrenbetäubenden Knall, und er sackte zu Boden. Das Blut aus dem Loch in seiner Schläfe spritzte über den Teppich, die Vorhänge und die Wand.

Plötzlich war alles still. Nur die Uhr tickte. Als sie den Kopf drehte, um auf die Uhr zu sehen, hielt die Frau noch immer die Hand über den Mund. Erst da nahm sie sie langsam weg. Es ist elf Uhr siebenundfünfzig, sagte sie zu niemandem. Kurz vor Mitternacht. Dann wandte sie sich wieder dem Mann zu. Sein Gesicht war in einer grotesken Fratze erstarrt. Unfähig den Blick von ihm zu wenden, starrte sie ihn an. Und dann sah sie ihn einmal blinzeln. Und noch einmal …

1. Kapitel

Die Stadt lag im Dunkeln. Ich lehnte den Kopf gegen das Fenster, und der schmutzige Regen rann über meine Stirn. In der spiegelnden Scheibe sah ich aus wie ein Gespenst, hager und fahl, meine Augen glichen denen meines Vaters. Ich konnte nur flüstern: Gott, bitte vergib mir. Ich habe viel zu bereuen …

Factory Town. Es schien, als hätte man begonnen, die ganze Stadt, Haus für Haus und Mauer für Mauer, abzureißen, dann aber beschlossen, dass es die Mühe nicht wert war und man sie einfach verrotten lassen sollte. Überall bröckelnder Beton, kaputte Zäune, zerbrochene Scheiben, zerschlagene Möbel. Verfallende Backsteingebäude, mit Graffiti beschmiert und die Fenster mit Brettern vernagelt. Die Uhr einer Bank ohne Zeiger. Umgekippte Mülltonnen. Auf den Boden gestürzte Feuerleitern. Überall Schutt. Eine geplünderte, verwahrloste Kirche. Und von irgendwoher das Hallen einer Lachkonserve. Ich hatte einmal gehört, dass die meisten Lachkonserven vor vierzig, fünfzig Jahren produziert worden waren, also musste es das Lachen von Toten sein.

Ein lautes Krachen erschreckte mich. Ich fuhr herum und sah eine ausgemergelte Frauengestalt aus einem Hauseingang treten. Sie trug ein zerrissenes Männerhemd, einen zerschlissenen Jeansrock und pinke Cowboystiefel. Ihre gebleichten Haare waren kurz geschnitten und struppig, und zwischen ihren lila Lippen hing eine krumme Zigarette. Ihr Gang war leicht hinkend. Sie war irgendwas zwischen zwanzig und fünfzig, aber Gesicht und Gestalt hatten auf alle Fälle schon bessere Tage gesehen. Als sie mich bemerkte, verzog sie verächtlich das Gesicht und sagte: Ich kenn dich. Du bist der Typ, von dem alle reden.

Ich schüttelte den Kopf. Da täuscht du dich, sagte ich. Ich bin grad erst in die Stadt gekommen.

Nee, ich täusch mich nicht. Du bist es. Und, hast du auch ’nen Namen?

Russell Carver. Aber du musst mich mit jemand verwechseln.

Tja, kann sein. Vielleicht. Aber egal. Davon abgesehen bist du ja ganz niedlich. Wie wär’s denn mit uns zwei?

Weil ich nicht wusste, was ich antworten sollte, sagte ich nichts. Sie grinste abschätzig, räusperte sich und spuckte auf den Boden. Dann ging sie weiter. Einsam und verwirrt, wie ich war, folgte ich ihr.

Wir gingen durch schlaglochübersäte Straßen, vorbei an schmutzstarrenden Bettdecken, einer zertrümmerten Badewanne, einer rostigen Schaufel. Sahen einen einzelnen Armeestiefel und eine Weihnachtslichterkette. Sie schmiegte sich an mich, legte den Kopf auf meine Schulter und hakte sich unter. Ein Mann stand mitten im Regen gegen ein Gebäude gelehnt, die grauen Haare mit Pomade zur Tolle gekämmt, und schrie: Lass bloß die Finger von der, die bricht dir das Herz, darauf kannst du Gift nehmen! Die Hure schüttelte den Kopf und sagte nur Psst. So gingen wir weiter durch den strömenden Regen, zwischen verfallenden Häusern, und mein Hirn blutete.

Kurz danach betraten wir ein Gerippe von Haus, in dem ich ihr durch ein Labyrinth eigenartiger Korridore in einen abgedunkelten Raum folgte. Dort war es kälter als draußen. Sie zog mich an sich und lachte. Es war ein schreckliches Lachen. Sie roch nach billigem Parfüm und billigem Schnaps. Ich war abgestoßen und angeekelt, nervös und besorgt. Der Raum war karg und verdreckt, von der Decke hing eine nackte Glühbirne, die Matratze war fleckig von Blut und Bourbon, die Mauern mit Asbest geflickt. Auf einem Nachtkästchen stand ein übel verbeulter Wecker, dessen Ziffern abblätterten. Die Zeiger verharrten für immer auf drei vor zwölf …

Bei einem Blick aus dem Fenster sah ich mehrere merkwürdige Männer in ausgebeulten Parkas, die gleichmäßig und methodisch den Grundstücksrand abschritten. Ich zog den Vorhang zu und lehnte mich gegen die Wand. Meine Schläfe pochte.

Unterdessen verlor die Hure keine Zeit. Sie zog das Hemd aus und entblößte große, entstellte Brüste, die sie zu reiben begann, ohne dass es im Geringsten sinnlich wirkte. Sie fragte, wie ich es wolle, und ratterte mit erschreckender Gleichgültigkeit eine Litanei von Stellungen herunter. Ich behielt meine Kleidung an und sagte, dass ich sie ordentlich bezahlen würde, aber nur jemanden zum Reden brauchte, vielleicht auch zum Umarmen, bis ich ein wenig Schlaf fand. Darauf verzog sie das Gesicht, willigte aber ein, Geld ist Geld, und während sie Zigaretten bis zum Filter runterrauchte und aus einer grünen Militärthermoskanne Pfefferminzlikör schlürfte, machte ich ernst: Ich erzählte von Alana und setzte ihr in aller Ausführlichkeit die mysteriösen Umstände ihres Verschwindens auseinander – die sechsjährige Suche in Städten und Bergen und Wüsten. Kein Detail ließ ich aus, aber der Blick aus den beiden blutunterlaufenen Augen der Hure blieb leer. Es war offensichtlich, dass meine Geschichte sie langweilte. Sie rutschte die Wand runter auf den Boden, ließ den Kopf hin und her baumeln und schien so wenig zu begreifen, als würde ich in einer fremden Sprache auf sie einreden, obwohl ich klar und deutlich sprach, trotz meiner schon einen Monat oder länger anhaltenden Schlaflosigkeit …

Um ihr Interesse zu wecken, zog ich ein Foto heraus und zeigte es ihr. Ein computergeneriertes Bild von Alana, wie sie heute aussehen könnte: ein junges Mädchen mit einem Schopf dunkelblonder Haare, rosa Mund und todernsten blauen Augen. Erst da hielt die Hure den Kopf still, sah mich mit ihren blutunterlaufenen, vom Trinken und Huren zerstörten Augen an und fragte hämisch, ob ich Detektiv oder so was sei. Nein, antwortete ich, ich sei nur ein ganz normaler Mensch, der sich um die Kleinsten und Schwächsten unter uns sorge, und dieses Mädchen, Alana, sei auf alle Fälle klein und schwach.

Ich hab meine Quellen, sagte ich, verlässliche Quellen, und sie sagen, dass sie hier in Factory Town ist. Aber sie schwebt in großer Gefahr und hat nicht mehr lange zu leben. Die Hure betrachtete das Foto eine Weile, dann schüttelte sie den Kopf. Nee. Noch nie gesehen. Aber ich bemerkte, dass ihr Mundwinkel zuckte, der Tick einer Lügnerin.

Sie drückte eine weitere Zigarette aus und sah mir direkt in die Augen. Ohne Zwinkern. Sie war verkommen, hasserfüllt, das war mir inzwischen klar geworden, und sie wusste mehr, als sie mir verraten wollte …

Im Zimmer nebenan schrie sich ein Paar auf Chinesisch oder Japanisch an, und es konnte nicht mehr lange dauern, bis sie sich schlugen. Auf einmal fühlte ich mich müde, todmüde. Diese Nachforschungen, die Schlaflosigkeit, alles wurde mir zu viel …

Wie lang bist du schon hier?, fragte sie. In Factory Town, mein ich.

Schwer zu sagen. Aber nicht lang. Einen Tag vielleicht oder eine Woche.

Sie lachte rau. Hab ich mir schon gedacht. Sonst würdest du’s längst wissen.

Was wissen?

Wissen, dass du auch nicht anders bist als wir alle hier. Dass du hier überhaupt nichts findest. Dass du das Mädchen nicht findest.

Ich biss die Zähne zusammen und ballte die Fäuste. Woher willst du das wissen? Hast du sie gesehen? Was weißt du?

Ist doch egal, was ich weiß. Alles ist völlig egal.

Was zum Teufel soll das denn heißen?

Sie grinste, zeigte ihre verfaulenden braunen Zähne. Das soll heißen, dass ich die Geschichte schon millionenfach gehört habe. Es ist immer dasselbe. Immer haargenau derselbe Scheiß.

Ich spürte die altbekannte Wut in mir aufsteigen, aber ich hielt mich zurück. Sie ist hier, sagte ich. In dieser Stadt. Meine Quellen –

Scheiß auf deine Quellen!

Das Gebrüll nebenan wurde immer lauter, und gleich darauf zerschellten Flaschen, eine nach der anderen.

Du dummer kleiner Knilch, sagte sie, und Schnaps und Speichel troffen aus ihrem dreckigen Maul. Weißt du denn nicht, wo du bist? Das hier ist eine Stadt der Sünde, der Trauer, des Hasses. Jeder hier trägt irgendeine Schuld, jeder Einzelne von uns. Jeder hier fürchtet sich zu reden. Kapierst du das, Mr. Carver? Millionen von dreckigen Geheimnissen sind hier unter dem Müll und Schutt vergraben. Du willst darin rumwühlen? Na, dann viel Spaß beim Schippen. In den Leichen findest du sicher noch ein paar Herzen, die schlagen …

Draußen prasselte der Regen auf den Asphalt, es blitzte, donnerte aber nicht. Ich hatte genug von ihr. Ich erhob mich und wollte aus dem Zimmer stürmen, aber plötzlich drehte sich der ganze Raum, und die einzelne Glühbirne fiel auf den Boden und platzte. Die Hure stand lachend vor mir. Mit einem energischen Ruck riss sie sich den Rock vom Leib und wackelte mit den Hüften, dann steckte sie sich die Finger in die Möse, einen nach dem anderen, ganz langsam und systematisch. Sie widerte mich an, aber ich sah zu, wie ihre ganze Hand darin verschwand, und dann begann sie mit der anderen Hand …

Ihre zerfressenen Lippen formten sich zu einem Schmollmund, und sie sagte: Und was jetzt, Mr. Carver? Wen wirst du jetzt lieben?

Plötzlich stand alles wieder still, und ich drängte mich an der Hure vorbei, um die Tür mit der Schulter aufzudrücken. Das Foto war noch in meiner Hand, nur inzwischen stark zerknittert. Als ich durch den Korridor taumelte, hörte ich das Lachen der Hure hinter mir über das Linoleum hallen …

Der Korridor war dunkel und furchtbar, überall lagen tote Vögel auf dem Boden, Dutzende Vögel, und noch schlimmer war, dass manche noch lebten und schwach mit den Flügeln schlugen, davonfliegen wollten, aber nicht mehr konnten. Die Wände waren mit Graffiti übersät, eine Flut gewalttätiger Botschaften sprang mich an. An der Decke die detailreiche Wandmalerei einer jungen Frau mit ernster Miene, die in kleinen Teilen und Bröckchen wie Konfetti zu Boden fiel.

Mit gesenktem Kopf ging ich vor mich hin murmelnd weiter und versuchte, die Puzzleteilchen zusammenzusetzen, so viele gezackte Puzzleteilchen, während sich der Korridor hinzog, lang und endlos, verschlungen wie ein Irrgarten. Ich wanderte weiter und weiter, tagelang, wollte mir scheinen, und verlor immer mehr die Orientierung, während um meinen Schädel herum hasserfüllte Bilder herabstürzten wie blinde Vögel in einem Käfig. Ich hörte gedämpfte Stimmen sprechen, sah aber keinen Menschen. Einmal verstummte das Gespräch ganz, aber als es wieder einsetzte, wurden die Stimmen immer lauter, und ich verstand Bruchstücke, die aber keinen Sinn ergaben: Versteck den Rest in den Einmachgläsern … Die ganzen Leichen in der Höhle … Glaubst du, er kriegt’s raus? … Was ist mit ihm? … Glaubst du, er kriegt’s raus?

Schließlich verebbte das Gespräch. Ich ging weiter bis zu einer Gruppe alter Männer, die sich um das Feuer in einer Mülltonne drängten und darüber ihre Hände rieben. An den Mauern um sie herum tanzten ihre Schatten. Trotz meiner lauten Schritte sahen die Männer nicht auf, so vertieft waren sie in ihre gedämpfte Unterhaltung. Ich wollte sie um Hilfe bitten, nach dem Weg aus dem Gebäude fragen, aber sie schienen meiner Stimme gegenüber taub und gaben keine Antwort. Plötzlich sah ich aus dem Augenwinkel eine kleine Gestalt mit einem Cape durch den Korridor flitzen. Wie ein Blitz, der im nächsten Moment mit der Betonmauer zu verschmelzen schien.

Zuerst traute ich meinen Augen nicht, glaubte, ich hätte gar nichts gesehen. Ich hatte so lange nicht mehr geschlafen, dass mir meine Wahrnehmung wohl schon Streiche spielte und Eindrücke ein- und ausblendete wie ein Radiosignal am Übergang zwischen zwei Sendern.

Langsam schlich ich durch den Korridor, vorbei an den um die Mülltonne stehenden alten Männern, vorbei an einer jungen Frau mit einem vollständig tätowierten Arm und Dreadlocks, vorbei an einer räudigen Glückskatze zur anderen Wand, und sah, dass dort eine Metalltür war. An der Tür hing ein selbst gebasteltes Schild mit einer krakeligen Aufschrift: Der Annullator wartet hier.

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