CHECK Aufstehen Überleben Schlafengehen

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Inhaltsverzeichnis

  Impressum

  Kapitel 1

  Kapitel 2

  Kapitel 3

  Kapitel 4

  Kapitel 5

  Besten Dank an ...

  Der Autor

  Haftungsausschluss

IMPRESSUM

© Thekla Verlag GbR 2015

Bahnhofstraße 83

64823 Groß-Umstadt

T 0049 (0) 6078 – 96 79 131

F 0049 (0) 6078 – 96 71 54

E info@thekla-verlag.de

Text: Johannes Wiedlich

Lektorat: Sven Lautenschläger

Fotografie & Covergestaltung: Silke Weßner

ISBN 978-3-945711-03-3 (epub)

ISBN 978-3-945711-04-0 (mobi)

ISBN 978-3-945711-05-7 (Taschenbuch)

www.thekla-verlag.de


KAPITEL 1

Jimmy. Nennt mich so. Der Name ist okay.

***

Mein Kinderzimmer befand sich auf dem Dachboden. Hinauf gelangte man ausschließlich über eine klapprige Leiter, die mir schon lange keine Angst mehr machte. Dort oben gehörten zwanzig Quadratmeter mir allein, weil ich klein genug war, um nicht mit dem Kopf irgendwo anzustoßen. Die Höhle. So nannte ich den Dachboden, als ich sieben Jahre alt war. Typisch Kind. Die Dachschrägen waren zugepflastert mit Superhelden-Postern. Das gängige Einsteigermaterial, wenn man plante, sich zu einem Freak zu entwickeln. Superman, Spiderman, Batman, Captain America, Watchmen. Selbstverständlich hatte ich diese Entwicklung nicht geplant. Solche Dinge passierten einfach. Zehn der zwanzig Quadratmeter waren mit Matratzen und Kissen ausgelegt, der Rest war zugemüllt mit irgendwelchem Spielzeug. Und ich saß mittendrin. Es war der 21. Juli 1989, irgendwann zwischen sechs und halb acht Uhr abends. Mein siebter Geburtstag war fast vorüber und ich wartete eigentlich nur noch darauf, dass mein Vater endlich nach Hause kam. Dann musste ich schlafen gehen, schließlich war am nächsten Tag Schule. Zumindest war es ursprünglich so geplant. Ich lag bäuchlings auf meiner Matratze, vertieft in ein Comic-Heft, als ich die Haustür mit einem lauten Knall ins Schloss schlagen hörte. Die unverkennbare Stimme meines Vaters schallte bis hoch unters Dach.

Ich hätte damals einfach rennen sollen. Ich hätte die Füße unter die Arme klemmen und rennen sollen so schnell und so weit nur irgendmöglich. Selbstverständlich tat ich das damals nicht. Ich ahnte ja nicht einmal, was mich erwarten würde. Muchsmäußchenstill saß ich da und hörte zu, wie mein Vater meine Mutter anbrüllte. Hörte, wie sie schließlich zurückbrüllte. Hörte, wie im unteren Teil des Hauses jede Menge Dinge zu Bruch gingen. Und ich wusste rein gar nichts damit anzufangen. Das war neu, ungewohnt. Das hatte ich noch nie zuvor erlebt.

Statement:

Er hat nie wieder damit aufgehört. Ich fand lediglich Mittel und Wege, die mich betäubten, mir den Schmerz nahmen und mich davon abhielten nachzudenken.

An diesem Abend lernte ich, dass Angst ein Urinstinkt ist. Denn als mein Vater wankend die Treppe in die Höhle hinauf geklettert kam und mich mit leerem Blick ansah, schnürte mir kalte Furcht die Kehle zu. Zu Recht. An das, was folgend geschah, kann ich mich heute kaum erinnern. Die Erinnerung erschöpft sich in endlosen Schmerzen, Tränen und viel zu viel Blut. Ich frage mich heute manchmal noch, was ich wohl falsch gemacht habe, obwohl mein Verstand mir sagt, dass ich an all dem nicht schuld war.

Kurz und knapp: Mein Leben ist ein dunkler, tiefer Abgrund. Ich bin der Punchingball meines Vaters, der Sündenbock meiner Mutter, die Hure meines Dealers und ich habe das alles furchtbar satt! Es vergeht nicht ein Morgen, an dem ich nicht die Augen öffne und mir wünsche, ich sei tot, weil ich genau weiß, ich komme aus diesem Sumpf nicht raus. Die Welt dreht sich, aber offenbar ohne mich.

***

Und nun muss ich ein Geständnis ablegen.

Mein Name ist nicht Jimmy. Und das, was ihr gerade hier gelesen habt, ist auch nicht meine Geschichte. Das Tragische ist, ich wünschte, sie wäre es, denn dann hätte ich wenigstens eine Entschuldigung für das Desaster, das sich mein Leben schimpft.

Sick – Fucked up – Twisted?

Gewiss, aber eben nicht zu ändern!

KAPITEL 2

Jimmy. Bleiben wir dabei. Jimmy ist okay. Auch wenn nun bekannt ist, dass das nicht wirklich mein Name ist.

Statement:

Ich glaube nicht, dass Menschen sich grundlegend

verändern können. Sie sind, wie sie sind.

Schon immer hatte ich eine Vorliebe für gruselige, mystische, dunkle Dinge. Schon immer hatte ich ein Problem damit Regeln zu folgen, wenn besagte Regeln für mich einfach keinen Sinn ergaben. Meine Eltern sahen mir dabei zu, wie ich mich von einem Kind, das nur selten seine Plastik-Vampirzähne aus der Hand legte, zu einem Teenager entwickelte, der sich irgendwo in den Gefilden der Punk-, Gothic-, Metal- und Emo-Szene bewegte, und hatten stets die selbe simple Erklärung dafür: Das ist alles eine Phase! Zumindest waren sie noch sehr von ihrer Phasen-Theorie überzeugt, als ich sechzehn war. Der springende Punkt ist Folgendes: Ich bin, was ich bin! Nicht ich musste das verstehen, sondern die Welt. Einen Vorgeschmack davon bekam die Welt an meinem siebzehnten Geburtstag, den ich auf einer europäischen Insel verbringen musste, auf der man scheinbar immer irgendwie in die Hauptstadt hinein fand, niemals aber wieder hinaus. An diesem Tag entschied ich mich dazu, künftig in einem Sarg zu schlafen.

***

»Du kannst nicht dieses ganze schwarze Zeug mitnehmen, Jimmy. Du schwitzt dich tot!«

Als meine Mutter eine Woche zuvor im Türrahmen zu meinem Zimmer stand und sich über den Inhalt meines Koffers brüskierte, lautete meine Antwort ausschließlich: Mutter! Ich brauchte ihr nicht einmal die Tür vor der Nase zuschlagen. Dieses einzelne Wort genügte ihr vollkommen, um zu verstehen, dass ich schon angepisst genug war und sie sich besser tonlos zurückzog. Ein Hoch auf das mütterliche Feingefühl.

Der Hinweis meiner Mutter ging mir durch den Kopf, als ich auf dem Bordstein vor einer kleinen, dreckigen Cocktailbar saß, an den Schnürsenkeln meiner Chucks herumzupfte und mir meine verschwitzten Haare aus der Stirn wischte.

Es war sehr mühsam die Zigarettenschachtel aus meiner hinteren Hosentasche zu fischen, aber ich schaffte es irgendwie. Mit ein bisschen Nikotin in der Lunge ging es einem doch gleich besser ... oder auch nicht ...

»Verdammte Scheißhitze!«

Im Fluchen war ich schon immer Spitzenklasse. Aber hey! Es war heiß, stickig, die Klamotten klebten überall, der Eyeliner war im ganzen Gesicht verschmiert, nur nicht dort, wo er hingehörte. Meine Zigaretten waren zerquetscht. Ich hatte allen Grund zum Fluchen! Im Augenwinkel sah ich ein paar Schuhe neben mir anhalten. Hm. Hätten meine sein können. Scheinbar waren Chucks wieder total In. Es war offensichtlich, dass die Person, die in diesen Schuhen steckte, wegen mir dort stehen blieb. Alle anderen liefen einfach an mir vorbei, ohne auch nur ein winziges bisschen Notiz von mir zu nehmen. Gut so! Und ich hatte keine Lust nach oben zu sehen, ich wollte schlichtweg meine Ruhe. Fest davon überzeugt auf dem Weg der Ignoranz besagte Person loszuwerden, starrte ich beharrlich auf meine Fußspitzen. Selbstverständlich ohne Erfolg. War ja klar. Ich schielte durch meinen Vorhang aus blauschwarzem Haar und beobachtete, wie dieser Typ sich neben mich setzte. Er trug grüne Chucks, graue hautenge Jeans und ein Anthrax-T-Shirt. Ich konnte mir kaum ein Lachen verkneifen, denn allem Anschein nach war ich nicht der Einzige, der bei dieser Hitze ein Eyeliner-Problem hatte. Er trug ein Nasenpiercing, ein weiteres in der Lippe und mindestens sieben Ohrringe im linken Ohr. Seine Haare hatte er zu einem Iro geschnitten, der aber nicht hochgestellt war, sondern bis in seine Augenwinkel hing. Die Seiten waren kurz und vermutlich vor geraumer Zeit grün gefärbt gewesen. Sah irgendwie angeschimmelt aus. Und scheinbar fand der Typ es sehr amüsant, dass ich ihn von oben bis unten musterte, denn er verzog seinen Mund zum dreckigsten Grinsen, das ich jemals gesehen hatte.

»What’s up?«

Ach ja. Englisch. Ich hatte fast vergessen, dass ich auf dieser verdammten Insel war. Zusammen mit meiner verdammten Schwester. Auf einer verdammten Sprachreise. Die Welt war definitiv grausam! Ich schielte ihn kurz an, zog eine Augenbraue in die Höhe und zuckte die Schultern. Er seufzte, zog seine Knie unters Kinn und schielte zurück.

»Seriously. What’s buggin’ you?«

»I’m being held hostage on a freakin’ island on my fuckin’ birthday. That’s what’s buggin’ me!«

»Wow. That sounds bitter.«

»Ach was? Kein Scheiß?«

Der Typ grinste wie ein Honigkuchenpferd und streckte mir die Hand entgegen.

 

»Ich bin Adrian. Du?«

Okay, das war unerwartet. Er sprach also deutsch. Ein eiereckiges, nicht muttersprachliches Deutsch, aber er verstand offenbar meinen Sarkasmus. Ich hatte eigentlich nicht vorgehabt, mich so in die Zwickmühle zu katapultieren. Aber nun hatte ich wohl kaum eine Wahl, also nahm ich seine Hand und schüttelte sie kurz.

»Jimmy.«

Er grinste wieder dieses schäbige Grinsen, in dem er ausschließlich eine Seite seiner Lippen nach oben zog und die andere Seite so tat, als könne sie mit der Idee zu lächeln gar nichts anfangen. Aufs Neue völlig überrumpelt, zog er mich in eine kurze aber feste Umarmung, klopfte mir auf den Rücken und starrte mich schließlich wieder grinsend an.

»Happy Birthday, Jimmy.«

Noch bevor ich irgendwie darauf antworten konnte – und hier sei angemerkt, dass ich ohnehin viel zu perplex war, um überhaupt in irgendeiner Art und Weise zu reagieren – hörte ich die Stimme meiner herzallerliebsten Schwester meinen Namen brüllen. Bitte nicht falsch verstehen. Ich liebte meine Schwester. Wirklich. Für Geschwister waren wir im Allgemeinen tatsächlich sehr freundlich zueinander und kamen gut miteinander aus, aber manchmal wollte ich ihr einfach nur den Hals umdrehen.

Jessica war ein Jahr älter als ich, machte im vorigen Jahr diese Sprachreise bereits ohne mich und war der Grund dafür, warum ich dieses Dilemma nun ebenfalls über mich ergehen lassen musste. Wenn man nun glaubte, dass sie ein braves, fleißiges Mädchen war, das lernwillig auf diese Sprachreisen ging, um ihre Englischkenntnisse zu verbessern, war man gehörig auf dem Holzweg. Nein. Das Ganze hatte viel einfachere und dreckigere Hintergründe. Als sie im letzten Jahr auf dieser gottverdammten Insel war, lernte sie einen dieser Animateure kennen, den sie unbedingt wieder sehen musste. Also verbrachte sie die gesamte erste Woche damit, diesen Typen zu suchen. Mal ehrlich, Leute! Ein Animateur? Die große Liebe deines Lebens? Erde an Jessica! Ich verstand nicht, wie man so benebelt sein konnte. Es gab nur einen einzigen guten Grund auf dieser Welt, um Animateur zu werden. Nämlich den, mit wenig Aufwand in der Sonne und am Strand in einer einzigen Saison einen Haufen Geld zu scheffeln und dabei so viele leichtgläubige Mädels flachzulegen wie möglich. Offenbar war meine Schwester eine dieser leichtgläubigen Mädels. Und obendrein war sie auch eines dieser Mädels, die glaubten, dass der Animateur sich ihretwegen ändern und zum treuen Traumprinzen wandeln würde. Bullshit! Menschen änderten sich nicht, zumindest nicht so.

All diese Bedenken, die ich selbstverständlich auch schon meiner Schwester gegenüber erwähnt hatte, blieben unbeachtet. Es war, als könne sie ihren Verstand ausschalten und das Hirn auf Durchzug setzen, sobald das Wort Animateur fiel. An den ersten drei Tagen versuchte ich noch, ein wenig Verstand in Jessicas Hirn zu hämmern. Ohne Erfolg. Schließlich gab ich es auf und ließ sie ihr Ding durchziehen. Erwähnte ich schon, dass sie den Animateur – an dieser Stelle sei Animateur zum Unwort des Jahres deklariert – immer noch nicht gefunden hatte? Wer hätte das gedacht? Wie dem auch sei. Jedenfalls kam Jessica aus dieser Cocktailbar, vor der meine neue Bekanntschaft Adrian und ich auf dem Bordstein saßen, herausgewankt und blieb schwankend vor mir stehen. Im Schlepptau hatte sie einen Typen, der ein T-Shirt mit dem Logo der Reiseorganisation trug, mit der auch wir auf dieser Insel waren. Was sollte ich sagen? Ein weiterer Animateur. Jessica lernte es wohl nie. Verdammte Axt! Wie ich es hasste, meine eigene Schwester rotzbesoffen und offensichtlich im Bann dieses Möchte-gern-Checkers zu sehen. Kotz! Aber ich war ja schließlich nicht ihr Babysitter.

»Jiiimmy?«

Hip hip hooray. Wenn Jessica meinen Namen in die Länge zog, dann gab es dafür nur eine Erklärung. Ich sollte ihr einen Gefallen tun. Ich zog eine Augenbraue hoch und warf ihr einen fragenden Blick zu.

»Ich komme heute Nacht wohl nicht ins Hotel zurück. Und morgen früh vielleicht auch nicht zur Schule. Kannst du mich irgendwie decken?«

Ja. Schule. Das war kein Scherz, denn das war der Sinn dieser Sprachreise. Innerlich seufzte ich. Vielen Dank, liebe Schwester, dass ich mal wieder deine krummen Touren vertuschen muss. Ach, und danke auch, dass du an meinen Geburtstag gedacht hast. Wie üblich blieben diese Gedanken aber in meinem Kopf. Anstatt ihr das alles vor den Latz zu knallen, nickte ich nur leicht und zuckte mit den Schultern. Jessica und Animateur Nummer 2 wollten sich gerade aus dem Staub machen, als Adrian sich zu Wort meldete. Ich hatte schon fast vergessen, dass er nach wie vor neben mir auf dem Bordstein saß.

»Hey du.«

Jessica drehte sich zu uns um und fing verdutzt das kleine silbern glitzernde Päckchen auf, das Adrian ihr entgegen warf. Sie drehte das Kondom vor ihren Augen, unsicher, was sie dazu nun sagen sollte. Adrian grinste sein halbseitiges Grinsen, winkte Jessica kurz zu und rief ihr einen kurzen, prägnanten Satz hinterher.

»Keep it safe.«

Dann sprang Adrian auf und streckte mir seine Hand entgegen.

»Komm, Jimmy. Wir verschwinden.«

Ich war völlig verwirrt. Und offenbar war mir das auch anzusehen, denn Adrian zog mich an meinen Armen hoch, schleppte mich hinter sich her und begann gleichzeitig zu erklären.

»Ich vermute, die betrunkene Lady war deine Schwester. Ihr seht euch ähnlich.«

Ich nickte nur kurz.

»Mein Geburtstagsgeschenk für dich. Deine Schwester. Nicht schwanger und gesund. Übrigens ist sie eine miese Schwester, wenn sie deinen Geburtstag vergisst.«

In meinem Kopf rotierte ein riesiges Fragezeichen.

»Man kann dich lesen wie ein offenes Buch, Jimmy. Alles, was du denkst, sieht man in deinen Augen. Diejenigen, die das nicht sehen, sind dumm, blind oder einfach ignorant.«

Okay. So langsam machte mir der Typ echt Angst. Wieso ging ich eigentlich so bereitwillig mit ihm mit? Ach! Fuck! Me! Ich entschied mich kurzerhand dazu, alle Er-könnte-ein-Serienkiller-sein-Gedanken beiseitezuschieben, und einfach das mitzunehmen, was sich mir an diesem Abend bot. Zu Tode langweilen konnte ich mich auch wann anders. Adrian und ich ließen die Alkoholleichen, die in regelmäßigen Abständen vor den Kneipen saßen, hinter uns und liefen die Triq San Gorg hinunter, die Straße, die direkt zum Spinola Bay führte. Die Straße war leicht abfallend und kurvig. Links neben uns fuhren Autos vorbei. Manche hupten, da wir uns praktisch auf der Fahrbahn befanden. Auf unserer rechten Seite befand sich die Leitplanke, und dahinter ein tiefer Abgrund, der vermutlich im Meer endete. Es war spät am Abend und dunkel. Ich konnte hören, wie die Wellen sich an den Felsen brachen. Um ehrlich zu sein, hatte ich schon vor einer Weile die Orientierung verloren. Klar, hinter uns lag die Innenstadt und vor uns Spinola Bay. Aber wenn ich mich mit geschlossenen Augen drei Mal um mich selbst gedreht hätte, wüsste ich nicht, ob ich mir dann noch so sicher wäre. Diese Insel war zwar nicht allzu groß, aber innerhalb einer Woche kannte man eben doch noch nicht jede einzelne Ecke. Als mir diese Gedanken durch den Kopf gingen, verzog ich scheinbar mein Gesicht zu einer fiesen Fratze. Jedenfalls sah mich Adrian unsicher an. Er nestelte am Saum seines T-Shirts herum und klemmte seine Ponyfransen hinters Ohr.

»Wanna go home, Jimmy?«

Er war definitiv kein Serienkiller. Möchtest du, dass ich dir die Kehle durchschneide, oder willst du doch lieber nach Hause in dein warmes kuscheliges Bettchen? Nein. So etwas fragten Serienkiller nicht. Ich musste in mich hinein kichern, dieser Abend war einfach total absurd.

»No. Not really. Aber ich wüsste schon gern, wohin wir gehen.«

Da war es schon wieder. Dieses schäbige Grinsen. Er zog mich an meinem Ärmel an die Leitplanke, lehnte sich vorn über und deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger nach unten. Ohne nachzudenken, lehnte ich mich ebenfalls nach vorn, um sehen zu können, worauf Adrian da zeigte. Erwähnte ich bereits, dass ich ein kleines Problem mit Höhen hatte? Nein? Nun gut. Ich hatte ein Problem damit. Allerdings traf mich die Realität erst, als ich schon halb mit meinem Oberkörper über dem Abgrund hing, hinter mir ein Auto hupte und ich vor Schreck das Gleichgewicht verlor. Mir blieb die Luft weg, als Adrian mich von hinten mit einem Ruck am Hemd riss. Alles war besser, als diese Steilküste hinunterzupurzeln. Wie jämmerlich und erbärmlich ich wirkte, war mir total egal. Ich klammerte mich an Adrian fest. Meine Knie fühlten sich an wie Pudding, ich zitterte wie Espenlaub und versuchte mit aller Macht, wieder Sauerstoff in meine Lungen zu pumpen. Panikattacken waren keine schöne Sache. Mal ganz davon abgesehen, dass sich die Welt mit einem irren Tempo um sich selbst drehte, man keine Luft mehr bekam und eigentlich nur noch in Tränen ausbrechen wollte, waren sie im Nachhinein vor allem unheimlich peinlich. Ich saß also auf dieser dunklen Straße, krallte mich an Adrians T-Shirt fest und wartete darauf, dass er anfing zu lachen. Adrian war ein komischer Typ. Er lachte nicht. Grinste nur ein weiteres Mal sein komisches Grinsen und tat dies sogar, ohne dabei gehässig zu wirken.

»Höhen ... Wie sagt man?«

»Angst. Höhenangst.«

»Höhenangst, hm?«

Ich nickte und versuchte meine Atmung wieder in den Griff zu kriegen. Als ich merkte, dass meine Fäuste immer noch in Adrians T-Shirt gekrallt waren, als hinge mein Leben davon ab, wurde mir vollends klar, wie dämlich das alles wirken musste. Ich murmelte eine kurze Entschuldigung und löste meine Hände aus dem Stoff. Adrian lächelte sein halbseitiges Lächeln.

»Are you okay?«

Ich nickte kurz und rappelte mich langsam auf.

»Yes. I’m fine. Können wir hier verschwinden?«

»Sure thing.«

Adrian klopfte den Staub von seiner Jeans und dann liefen wir schweigend nebeneinander die Straße nach unten. Zumindest schwiegen wir bis Adrian seinen Arm um meine Hüfte legte und seinen Zeigefinger in einer meiner Gürtelschlaufen einhakte. Das war der Moment, als meine Gedanken von Serienkiller zu Sexualstraftäter wanderten und ich mir innerlich eine Ohrfeige verpasste. Ich war hier mitten in der Nacht im Dunkeln mit einem fremden Typen auf dem Weg nach Weiß-der-Teufel-wo. War mir eigentlich noch zu helfen? Fuck my life. Und ich regte mich über meine Schwester und ihre Animateur-Affairen auf. Wie schon zuvor schien Adrian meine Gedanken aufzufangen.

»Der eine Schreck hat mir gereicht. Thank you very much. Deine Todessehnsüchte lebst du bitte ohne mich aus.«

Ich wusste, wie er es meinte. Kein weiterer Beinahe-Absturz mehr in dieser Nacht.

Die Straße beschrieb an der Küste von Spinola Bay eine scharfe Linkskurve, wo die Triq San Gorg zur Trig Borg Olivier wurde. Kurz hinter dieser Kurve führte eine kleine vermoderte Holztreppe zum Strand hinunter. Vor dieser Treppe blieb Adrian stehen und sah mich fragend an.

»Dort müssen wir runter. Schaffst du das mit deiner Höhenangst?«

Super. Jetzt war ich also zum Loser des Jahres abgestempelt. Jimmy pullert sich in die Hosen, wenn er eine Leiter runter steigen muss. Wo waren die schwarzen Löcher, wenn man sich verkriechen wollte?

»No offense, Jimmy. Ich will nur diese Nacht nicht in der Notaufnahme verbringen müssen. Also?«

»Ja ja, geht schon.«

Mochte sein, dass ich etwas angepisst war. Mochte auch sein, dass Adrian mich eigentlich gar nicht aufziehen, sondern nur auf Nummer sicher gehen wollte. Wahrscheinlich sogar. Aber mein Ego kratzte wohl in dem Moment sehr an meiner Schädeldecke. Ich begann tonlos mit dem Abstieg zum Strand. Meine Attitüden konnte ich auch unten beiseitelegen. Unter meinen Füßen spürte ich glitschige Felsen und wusste, ich war am Ende der Leiter angekommen. Ja, genau. Glitschige Felsen. Diese verdammte Insel hatte nämlich nicht mal ordentliche Sandstrände, sondern nur felsige Klippen. Okay, das stimmte so nicht. Aber Sandstrände waren wirklich rar und die Sandkörner am Spinola Bay konnte man an einer Hand abzählen. Keine drei Sekunden später stand Adrian neben mir und deutete über meine Schulter. Die Bucht von Spinola Bay ragte ziemlich tief in die Felsen hinein, so dass unter den vorderen Klippen ein Hohlraum entstanden war, in welchem eine Reihe kleiner Bungalows hineingebaut war. Ich vermutete, dass es genau diese Bungalows waren, die mir Adrian oben von der Straße aus zeigen wollte. Die Häuschen waren, wie alles andere auf dieser Insel, aus weißem Stein gebaut und hatten dunkle, hölzerne Terrassen. Über den Daumen gepeilt, befanden wir uns noch etwa fünfhundert Meter von der Bucht entfernt, aber bereits jetzt tönte uns der Bass der Musik aus den Bungalows entgegen.

 

»Da wohnen wir.«

Ich nickte.

»Wer ist wir?«

Adrian hakte sich wieder in meine Gürtelschlaufe ein. Ich beschloss, dies zunächst zu ignorieren.

»Freunde. Und ich. Du wirst sehen.«

Als wir näher kamen, fiel mir eine Gruppe Typen auf, die auf der Terrasse saß. Ganz offensichtlich hatten sie schon einige Promille intus, denn sie kugelten sich vor Lachen auf dem Holzboden hin und her, begrüßten Adrian lediglich, indem sie kurz die Hand hoben, und ignorierten uns sonst vollkommen. Adrian kickte ein paar Flaschen aus dem Weg und sagte irgendetwas zu den Leuten, das ich nicht verstand. Adrians Akzent nach zu urteilen, war es niederländisch. Dann stieß er die Tür zum Bungalow auf. Die Musik dröhnte nun in ohrenbetäubender Lautstärke, weswegen ich mich dazu entschied, dicht bei Adrian zu bleiben. Wer wusste schon, was mich da drin erwartete? Ich persönlich erwartete eine Party, die voll im Gange war, aber offenbar war es dafür viel zu spät. Definitiv hatte es vor wenigen Stunden eine Party gegeben, aber nun waren nur noch müde Gestalten übrig, die im Halbschlaf auf Stühlen, Sofas und Iso-Matten rumhingen und höchsten noch mit den Fußspitzen zum Takt der Musik wippten. Auf einem der drei Sofas saßen zwei Mädels, die wild damit beschäftigt waren sich mit schwarzem Edding gegenseitig Tattoos auf die Oberschenkel zu malen. Ob sie nüchtern am nächsten Morgen von dieser Idee immer noch so begeistert sein würden, blieb abzuwarten. Auf dem nächsten Sofa lag ein blonder, bäriger Typ. In der einen Hand hielt er eine Bierflasche, in der anderen einen runtergebrannten Zigarettenstummel. Ich persönlich war der Ansicht, dass er eigentlich nicht mehr wach war und es nur dem Zufall zuzuschreiben war, dass dieser Zigarettenstummel nicht bereits den ganzen Bungalow in Brand gesetzt hatte. Adrian sah das wohl ähnlich, denn er stiefelte über die ganzen leeren Flaschen, die am Boden lagen, und nahm diesem Typen sowohl die Flasche als auch die Zigarette aus den Händen und drückte sie in einem Aschenbecher, der auf dem Tisch zwischen den Sofas stand, aus. Auf dem letzten Sofa lungerten zwei blonde Mädchen, die mit Sicherheit eineiige Zwillinge waren, und ein dunkelhaariger Typ. Es war ein wilder Wust an Gliedmaßen und ich hätte nicht sagen können welches paar Beine und Arme zu wem gehörten. Davon abgesehen waren sie so in den Austausch von Körperflüssigkeiten vertieft, dass sie Adrian und mich nicht einmal bemerkten. Mir war das ganz recht, Adrian sah es offenbar anders. Er nahm ein Kissen vom Sofa, auf dem der Typ lag, der beinahe die ganze Bude in Brand gesteckt hätte, und warf es auf das Menschenknäuel auf Sofa Nummer 3. Alle Augenpaare waren plötzlich auf uns gerichtet und sie waren nicht freundlich. Adrian schien sich daran aber nicht zu stören, er stierte genauso harsch zurück.

»Go home. And take your pansy ass cousins with you. They’re about to puke on the front porch. I wouldn’t like that much.«

Oha. War Adrian hier der Chef oder was? Ich tippelte von einem Fuß auf den anderen. Irgendwie fühlte ich mich hier unwohl. Das war alles so krank. Aber vielleicht war ich einfach nur zu nüchtern und dies war eine ganz normale Situation nach einer Party. Ich wusste es nicht. Die Zwillinge und der dunkelhaarige Typ, mit dem sie auf dem Sofa zugange waren, grummelten irgendetwas Unverständliches in unsere Richtung, rappelten sich aber schließlich auf und verließen den Bungalow. So einfach war das? Ich war beeindruckt. Adrian schaute sich im Zimmer um, nahm die Fernbedienung vom Tisch und drehte die Lautstärke der Musik auf ein erträgliches Maß zurück.

»Toni?«

Er sah sich um und lief ein Stück in die Küche hinein, als ein weiterer Typ um die Ecke kam. Scheinbar Toni, nach dem Adrian gerufen hatte. Er war groß, stämmig und hatte rote lange Haare und auch einen roten langen Bart. Adrian und er unterhielten sich kurz auf Niederländisch und ich stand hinter ihnen, knibbelte an meinen Fingernägeln herum und kam mir vor wie bestellt und nicht abgeholt.

»Das ist Jimmy. Jimmy, das ist Toni.«

Wir schüttelten uns kurz die Hände, bevor sie erneut ein paar für mich nicht zu verstehende Worte wechselten. Toni lachte mich freundlich an und drückte Adrian dann den großen, braunen Umschlag in die Hand, den er unterm Arm trug. Er klopfte mir und Adrian kurz auf die Schulter, murmelte etwas das nach good night klang und schlich durch die Küchentür davon. Adrian führte mich dann einen schmalen Gang entlang, an dessen Ende eine Holztreppe in den oberen Teil des Bungalows führte, oder besser gesagt auf den Dachboden. Ich sah Adrian fragend an und gebot ihm mit erhobener Hand Einhalt.

»Schweig stille! Ja, ich schaffe es da hoch zu klettern ohne in Ohnmacht zu fallen.«

»Hoffen wir es. Ich fang dich nicht auf.«

Ich schnaubte abfällig und kletterte die Treppe hoch. Mit meiner rechten Hand hielt ich mich am Geländer der klapperigen, ausfahrbaren Dachboden-Luken-Treppe fest und stieß mit der linken die Klappe auf. Der Raum war so etwas wie ein Mansardenzimmer. Im hinteren Teil war der Kniestock mit Einbauschränken ausgebaut, dann gab es einen schmalen Gang in T-Form, in dessen Mitte sich der Treppenaufgang befand. Die andere Seite war mit Luftmatratzen und Schlafsäcken ausgelegt. Auf der Nachtlagerseite befand sich außerdem ein bis zum Boden reichendes, dreieckiges Fenster, durch welches mir das Mondlicht entgegen schimmerte. Adrian klopfte mir von hinten gegen den Oberschenkel.

»Lebst du noch?«

Mann! Durfte man hier nicht mal in Ruhe erste Eindrücke gewinnen? Mir blieb die Luft im Hals stecken, als mir Adrian mit der flachen Hand auf den Hintern schlug.

»Move!«

Vermutlich glühten meine Wangen, aber ich versuchte, es zu ignorieren. Beides. Den Schlag auf meinen Allerwertesten und meinen feuerroten Kopf. Trotzdem fragte ich mich ein weiteres Mal, in was ich hier wohl reingeraten war. Ich kletterte die letzten drei Stufen hinauf und wartete vor der Fensterfront, bis Adrian ebenfalls oben angekommen war.

»Sehr hübsche Aussicht.«

Ich hörte ein lautes Klappern hinter mir, das verriet, dass Adrian die Leiter eingezogen und die Klappe geschlossen hatte. Mir war völlig klar, dass genau dies der Moment hätte sein müssen, in dem sich mein Magen hätte umdrehen sollen. Meine Hände hätten beginnen müssen zu schwitzen und mein Urinstinkt hätte ein Signal an meine Stimmbänder senden müssen, das mir befahl, lauthals um Hilfe zu schreien. Nichts dergleichen passierte. Ich klemmte mir stattdessen meine schwarzen Fransen hinter die Ohren und lächelte Adrian entgegen, während ich mich im Schneidersitz auf einer der Luftmatratzen vor dem Dreiecksfenster niederließ. Adrian kippte den oberen Teil des Fensters und setzte sich neben mich. Er hielt mir seine offene Schachtel Luckies entgegen und ich zog dankend eine raus. Selbstverständlich hatte ich noch mein eigenes Päckchen in der hinteren Hosentasche. Aber mal ehrlich. Wenn man die Wahl hatte zwischen einer verkrüppelten, zerquetschten Zigarette und einer, die noch prima intakt war, wohin griff man dann? Richtig. Er hielt mir sein Feuerzeug entgegen, nachdem er seine eigene Zigarette angesteckt hatte und dann saßen wir beide eine ganze Weile schweigend und rauchend nebeneinander. Eine Frage brannte mir die ganze Zeit unter den Fingernägeln.

»Wieso ich?«

Adrian sah mich mit einer hochgezogenen Augenbraue an und verstrubbelte seinen Iro, ehe er mit einer Gegenfrage antwortete.

»Wieso du was?«

»Was sollte das? Wie kamst du auf die Idee, mich anzusprechen und mich mit hierher zu schleppen?«

Adrian zuckte mit den Schultern.

»Keine Ahnung. Du sahst so verloren aus. Cute. Somehow.«

Ich schüttelte den Kopf.

»Für so was bin ich zu nüchtern, Adrian. Können wir vielleicht einfach noch mal eine Minute zurückspulen und du sagst ... weiß auch nicht ... Zufall? Zufall ist gut. Ganz unverfänglich.«

Adrian zuckte wieder gelassen mit den Schultern.

»Sure. Zufall. Das Problem der Nüchternheit kann ich übrigens lösen.«

Adrian zog ein letztes Mal an seiner Zigarette, schnippte den Stummel durch das geklaffte Fenster nach draußen und öffnete schließlich eine Tür der Einbauschränke im Kniestock. Aha. Andere Leute hatten ein Waffenarsenal, Adrian und seine Freunde hatten ein Alkoholarsenal. Ein großes noch dazu. Er schielte über seine Schulter, hatte wieder nur einen seiner Mundwinkel nach oben gezogen, und gewährte mir schließlich volle Sicht auf die Hausbar. Während ich die Auswahl inspizierte, kramte Adrian in dem braunen Umschlag, den Toni ihm unten in die Hand gedrückt hatte. Er ließ sich von mir eine Flasche Bier öffnen, während er seelenruhig einige Utensilien vor sich ausbreitete und sortierte. Longpapers, Tabak, Tips, die verdächtig nach gerollten Flugtickets aussahen. Schon klar. Keine Frage mehr, wo dieser Abend enden würde. Sollte mich doch der Teufel holen, wenn da in dem Lila-Milka-Kuh-Papier tatsächlich Schokolade war. Scherz des Jahres. Adrian bröselte ein paar Stückchen über den Tabak und drehte den Joint mit einer Geschicklichkeit, die mich echt beeindruckte. Niederländer, der Typ, definitiv.

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