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Jochen Duderstadt

Zwangslektüre

Die 25 meistgelesenen Schulklassiker

Inhalt - Deutung - Parodie

Jochen Duderstadt

Zwangslektüre

Copyright 2013 Jochen Duderstadt

published at epubli GmbH, Berlin

ISBN 978-3-8442-5114-2

INHALTSVERZEICHNIS

Die eingeklammerten Zahlen weisen auf das Jahr der Erstveröffentlichung bzw. der Uraufführung hin.

INHALTSVERZEICHNIS_ 6

Höchstpersönliches Vorwort 9

Gotthold Ephraim Lessing: Emilia Galotti (1772) 11

Handlung_ 11

Interpretation und Kritik_ 12

Emilia Controllotti 14

Johann Wolfgang Goethe: Die Leiden des jungen Werthers (1774) 15

Handlung_ 15

Deutung und Kritik_ 16

Die Leiden des jungen Warthers 18

Johann Wolfgang von Goethe: Götz von Berlichingen (1773/1774) 20

Die Handlung_ 20

Deutung und Kritik_ 21

Götz - Modernes Trauerspiel aus dem evangelischen Kindergarten von Berlichingen - 23

Gotthold Ephraim Lessing: Nathan der Weise (1779/1783) 25

Handlung_ 25

Deutung_ 26

Nathan mit der Meise 28

Friedrich Schiller: Die Räuber (1781/1782) 30

Handlung_ 30

Deutung und Kritik_ 31

Die neuen Räuber 33

Friedrich Schiller: Kabale und Liebe (1784) 35

Handlung_ 35

Deutung und Kritik_ 37

Sandale und Hiebe (Spätbürgerliches Trauerspiel in sieben Szenen) 38

Johann Wolfgang Goethe: Iphigenie auf Tauris (1786) 40

Handlung_ 40

Deutung und Kritik_ 41

Iphigenie '89_ 42

Friedrich Schiller: Don Carlos (1787) 44

Handlung_ 44

Deutung und Kritik_ 46

Charly_ 49

Johann Wolfgang Goethe: Faust (1808/1832) 52

Handlung_ 52

Deutung und Kritik_ 54

Fäustling_ 56

Heinrich von Kleist: Michael Kohlhaas (1810) 59

Die Geschichte 59

Deutung und Kritik_ 61

Kohlhaas 1990_ 64

Heinrich Heine: Die Harzreise (1824) 65

Die Geschichte 65

Anmerkungen_ 67

Die Harzreise von 1990_ 69

Joseph Eichendorff: Aus dem Leben eines Taugenichts (1826) 71

Die Geschichte 71

Deutung und Kritik_ 73

Taugt nichts 75

Annette von Droste-Hülshoff: Die Judenbuche (1842) 76

Die Geschichte 76

Deutung und Kritik_ 77

Die Ludensuche 78

Georg Büchner: Woyzeck (1879) 79

Handlung_ 79

Deutung und Kritik_ 81

Handschrift 5: Die 25. Szene - Am Teich - 83

Theodor Fontane: Effi Briest (1895) 84

Die Geschichte 84

Deutung und Kritik_ 87

Steffi Biest 89

Franz Kafka: Die Verwandlung (1915) 91

Handlung_ 91

Interpretation_ 93

Francis Kawker: Gregis Verwandlung_ 95

Hermann Hesse: Siddharta (1922) 97

Die Geschichte 97

Anmerkungen und Kritik_ 99

Shitharder 101

Carl Zuckmayer: Der Hauptmann von Köpenick (1931) 103

Handlung_ 103

Deutung und Kritik_ 105

Der Polizeihauptwachtmeister von Kleefeld_ 107

Berthold Brecht: Der kaukasische Kreidekreis (1944) 110

Handlung_ 110

Interpretation und Kritik_ 112

Der kaukasische Leidescheiss 114

Wolfgang Borchert: Draußen vor der Tür (1947) 117

Handlung_ 117

Interpretation_ 119

Draußen vor der Tür - Drehbuch für eine Neuinszenierung als literarischer Videoclip_ 122

Friedrich Dürrenmatt: Der Richter und sein Henker (1953) 124

Die Story_ 124

Deutung und Kritik_ 126

Der Dichter und sein Denker 128

Max Frisch: Homo Faber 129

Die Story_ 129

Deutung und Kritik_ 131

Homo Laber 133

Heinrich Böll: Ansichten eines Clowns (1963) 134

Die Geschichte 134

Interpretation und Kritik_ 136

Wiedersehen mit Marie 138

Siegfried Lenz: Deutschstunde (1968) 139

Die Story_ 139

Deutung und Kritik_ 141

Lenz 143

Martin Walser: Ein fliehendes Pferd (1978) 145

Die Geschichte 145

Interpretation und Kritik_ 147

Martin Walser: Das Gesamtwerk_ 149

Nachwort 150

Höchstpersönliches Vorwort

Wo immer ich war, wohin ich auch kam: Ständig hatten die Deutschlehrer "Don Carlos" am Wickel. Da ich vor dem Abitur ganz schön herumgekommen bin, geschah das drei Mal.

Dem normalen Leser wird es heute im Gespräch mit einem Germanisten so ergehen wie dem Schauspieler in der berühmten Anekdote:

Sire, geben Sie ... äm näh ... äh ...

Sie meinen wohl Gedankenfreiheit?

Nun, ich hatte das alles mehrfach wiedergekäut, so dass ich eigentlich hätte in der Lage sein müssen, ganze Passagen zu deklamieren oder wenigstens die Handlung herunterzubeten. Weit gefehlt. Das einzige, was ich, bevor ich mich in diesem Buch an Schiller heranmachte, noch im Kopf hatte, war die Stelle, an der die Prinzessin von Eboli den Marquis von Posa fragt Sie wollen mich doch nicht ermorden? und der Marquis antwortet In der That! Das bin ich sehr gesonnen. Das lag natürlich an der unfreiwilligen Komik der Diktion.

Ob der große Rest unwiederbringlich aus dem Hirn gedunstet oder nur zugeschüttet war, habe ich bei der Arbeit an diesem Buch erfahren, und die Nicht-Pennäler unter den Lesern dieses Leitfadens werden es für sich auch herausbekommen.

Interessanter ist gerade für die an Literatur Interessierten, wieso nichts mehr präsent ist.

Dafür gibt es, wie üblich, ein ganzes Ursachenbündel, aus dem einiges herausragt:

Da ist zum einen die Wirrnis und Unverständlichkeit der Handlung, des Stils und der Begrifflichkeit. Wie man etwa die Schüler in der späten Mittelstufe mit Götz von Berlichingen nerven kann, dessen Handlung ein einziges Kuddelmuddel ist und in dem Begriffe auftauchen, die kein Deutschlehrer erklären kann, jedenfalls nicht richtig (etwa "Urfehde schwören"), wird mir ewig ein Rätsel bleiben.

Hinzu kommt natürlich die Fremdbestimmtheit der Literatur, mit der die Schüler konfrontiert werden. Jeder Leser hat die Erfahrung gemacht, wie sich Bücher in sein Gedächtnis eingegraben haben, auf die er aus eigenem Interesse gestoßen ist.

Und schließlich, na klar, hat die Verbraucherseite im Klassenzimmer gemeinhin auch andere Interessen und Probleme als die deutsche Klassik.

Warum dann dieses Buch?

Den Schülern soll etwas an die Hand gegeben werden, was gleichermaßen Gebrauchs- und Unterhaltungswert hat. Ehemalige Schüler (und wer ist das nicht?) sollen Gelegenheit haben, ihre rudimentären Erinnerungen an die große deutsche Literatur aufzufrischen. Den Lehrern schließlich mag der Leitfaden, in dem ja viele Werke gegen den Strich durchgebürstet werden, als nebenwirkungsfreies Hausmittel gegen Betriebsblindheit dienen.

Inhalt und Interpretation sind jeweils übersichtlich und streng voneinander getrennt. Insofern kann der Leitfaden als eine Art konzentrierter Ersatz für "Königs Erläuterungen" (die hier freilich gar nicht benutzt wurden) herhalten. Die parodistische Einlage schließlich soll die Dichter und ihre Helden für kurze Zeit vom Sockel holen und den Leser ein wenig dafür entschädigen, dass es in der deutschen Hochliteratur so erbärmlich wenig zu lachen gibt.

Gegliedert ist das Ganze einigermaßen chronologisch, d. h. - von begründbaren Ausnahmen abgesehen - nach den Erscheinungs- bzw. Erstaufführungsdaten. Die ursprünglich geplante Untergliederung in Literaturepochen habe ich wohlweislich fallengelassen, um nicht in Teufels Küche zu geraten. Der Faust etwa vereint Elemente des Sturm und Drang, der Klassik und der Romantik, die Harzreise lässt sich ebenso gut unter die Romantik wie unter den Vormärz packen, und die Schöpfer des Michael Kohlhaas und des Siddharta passen sowieso in keine Schublade.

Für die Auswahl muss um Nachsicht gebeten werden.

Damit niemand glaubt, hier sollten die bedeutendsten Dichter und ihre größten Werke präsentiert werden, ist erläuternd hinzuzufügen, dass das wichtigste Auswahlkriterium die - zum Teil schon traditionelle - Bedeutung des Werks für den Deutschunterricht ist. Hier kommt also nicht das Beste zum Zuge, sondern das, was gemeinhin "durchgenommen" wird. Die "Judenbuche" und der "Hauptmann von Köpenick" gehören, ohne die Verdienste von Droste-Hülshoff und Zuckmayer auch nur im geringsten schmälern zu wollen, nicht gerade zur Weltliteratur, aber sie bieten sich wegen ihrer Leichtfasslichkeit für den Mittelstufenunterricht an. Mein persönlicher Geschmack hat bei der Auswahl kaum eine Rolle gespielt. Sonst hätte ich einige literarische Hervorbringungen sicherlich draußen gelassen. Welche, lässt sich an einigen Parodien ablesen. Aus Gründen der Selbstachtung musste ich allerdings auch meine persönliche Schmerzgrenze respektieren. Ich bitte deshalb um Verständnis dafür, dass ich mir Anna Seghers' 7. Kreuz und Plenzdorfs neue Leiden nicht auch noch aufgeladen habe.

Auf der anderen Seite mussten unter dem schrecklichen Zwang, eine Auswahl zu treffen, Opfer gebracht werden: Hölderlin, Hebbel, Grillparzer, Keller, Storm, C.F. Meyer, Thomas Mann, Musil, Hauptmann, Kästner, Grass und Handke sind nur einige von ihnen. Und die armen Lyriker von Rilke über Hoffmannsthal und Benn bis Celan sind ganz ausgeblendet worden, denn Inhaltsangaben sind bei Gedichten überflüssig und Interpretationen ähneln dem Versuch, einen Pudding an die Wand zu nageln.

Wer da meint, dass ein Nationalproporz gewahrt werden muss, mag zur Kenntnis nehmen, dass die Schweiz immerhin mit Frisch und Dürrenmatt vertreten ist. Die österreichischen Leser bitte ich um Pardon dafür, dass ich nur einen Kaukanier, nämlich Franz Kafka, gewürdigt habe. Wer einen DDR-Schriftsteller vermisst (Plenzdorf? Kunze?), muss sich mit Brecht begnügen. Der stammt zwar aus Augsburg, aber das besagt nichts für die Zuschreibung und Vereinnahmung von Literatur. Joseph Conrad ist ja schließlich auch einer der größten englischen Schriftsteller, obwohl er aus der Ukraine kam und Polnisch seine Muttersprache war.

Zitate aus den besprochenen Werken sind im Interesse besserer Erkennbarkeit ohne Anführungszeichen kursiv gedruckt.

Gotthold Ephraim Lessing: Emilia Galotti (1772)
Handlung

Hettore Gonzaga, Oberhaupt eines kleinen oberitalienischen Fürstentums, sieht zufällig in der Kirche die schöne Emilia und verliebt sich auf der Stelle in sie. Fortan hat er keine Lust mehr auf seine Mätresse, die Gräfin Orsina.

Dem geplanten Damentausch steht allerdings der Umstand entgegen, dass Emilia Galotti gerade den Grafen Appiani heiraten und mit ihm aufs Land ziehen will.

Der Prinz hat aber nun einen Kammerherrn namens Marinelli, der mit stillschweigender Billigung seines Chefs folgenden Plan ausheckt: Das Paar auf der Fahrt zur Trauung durch das als Räuberbande getarnte fürstliche Fußvolk überfallen, Appiani ermorden und Emilia in das Lustschloss des Prinzen entführen.

Der Anschlag gelingt. Emilia trifft den Prinzen im Lustschloss, ahnt aber noch nicht, wer hinter dem Überfall steckt. Erst nachdem auch die abgelegte Geliebte und Emilias Vater Odoardo eingetroffen sind und mit ihr gesprochen haben, geht ihr ein Licht auf. Sie sitzt in der Klemme. Einerseits verabscheut sie den Prinzen, andererseits merkt sie, wie empfänglich sie für seine Verführungsversuche ist (Verführung ist die wahre Gewalt).

Sie steht vor der Alternative zwischen Mord und Selbstmord, verwirft beide Lösungen und bittet ihren Vater, sie zu erstechen. Der tut es schließlich auch. Ehre gerettet, Tochter tot.

Prinz Gonzaga erkennt, was er angerichtet hat, aber das hindert ihn nicht, alles auf Marinelli zu schieben.

Interpretation und Kritik

Selbst auf die Gefahr hin, gleich alle Mediävisten unter den Lesern zu verärgern, muss gesagt werden, dass vor Lessing mit der deutschen Literatur nicht viel los war. Produziert wurden Minnelieder, dann eine Weile fast gar nichts, anschließend eine solide Bibelübersetzung (Luther), Bauernschwänke, derbe Geschichten, Barockopern und protestantische Kirchenlieder.

Lessing (1729-1781) lebte in der Zeit der Aufklärung, also jener vom Bürgertum getragenen geistesgeschichtlichen Epoche, die sich - nach einem berühmten Wort des Philosophen Kant - den Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit zum Ziel gesetzt hatte.

Die Germanisten unterscheiden zwischen drei Phasen der Aufklärung. Ihre letzte, die Spätaufklärung, ist zeitlich deckungsgleich mit der Zeit des "Sturm und Drang", zu dessen Vorläufern und Vorbildern Lessing zählte.

Der Sturm und Drang machte sich natürlich den Rationalismus der Aufklärung, die Befreiung des Denkens von religiösen Bindungen und die Frontstellung gegen fürstliche Willkür zu Eigen. Zugleich verstand er es, die frei gewordenen religiösen Kräfte an Weltliches zu binden. Die Säkularisierung (Verweltlichung) des Gefühls führte zu einer neuen Empfindsamkeit in der Literatur, zur Erfahrung der Einsamkeit und zur Überbetonung der Innerlichkeit.

Man kann also sagen, dass der aufklärerische Rationalismus nach außen hin mit einer irrationalen Innerlichkeit verschmolz.

Es fällt bei Lessing selbst - wie bei vielen anderen Dichtern - nicht leicht, ihn einer bestimmten Literaturepoche zuzuordnen. Er war sicherlich ein Vertreter der Spätaufklärung, aber ein höchst problematischer, dem wegen seiner sehr entschiedenen religiösen Bindung auch Tendenzen nicht fremd waren, die sich mit der Aufklärung beißen. Man darf ihn aber als Wegbereiter des Sturm und Drang bezeichnen, zugleich als Vorbild für die bedeutendsten Vertreter dieser Epoche, vor allem für den jungen Schiller. Und Lessing war, um einen dritten Begriff einzuführen, der Begründer des bürgerlichen Trauerspiels, und zwar im Rahmen der Neugestaltung des deutschen Dramas überhaupt.

Lessings Reformvorschläge, veröffentlicht in der Wochenzeitschrift "Hamburgische Dramaturgie", nach der Einstellung des Blatts dann in Buchform, lassen sich so zusammenfassen:

1. Die Lehre von den drei Einheiten (Einheit des Orts, der Zeit und der Handlung*) gilt nicht mehr. Nur die Einheit der Handlung muss gewahrt werden. Zeit und Ort können wechseln.

2. Die handelnden Personen des Dramas müssen gemischte Charaktere sein; Extreme erregen kein Mitgefühl.

3. Am Ende der Tragödie muss die Katharsis (Reinigung) stehen, nicht der pure Schrecken.

Diese Grundsätze hat Lessing in der "Emilia" nur teilweise verwirklicht. Seine Polemik gegen die Einheit von Zeit und Ort ist schwer verständlich, wenn man sieht, dass die Handlung auf einen einzigen Tag zusammengedrängt ist und nur zwei Schauplätze hat, nämlich die Residenz und – vorwiegend - das Lustschloss.

Die Einheit der Handlung hat er dagegen vorbildlich durchgehalten.

Der Forderung nach gemischten Charakteren entspricht am ehesten der Prinz.

Er ist auf eine durchaus empfindsame und zarte Weise in Emilia verliebt. Er zeigt menschliche Schwächen und ist sich ihrer ebenso bewusst wie seines Rollenkonflikts (individuelle Neigungen gegen Staatsraison). Er übt auch herbe Kritik an der höfischen Lebensart und ihrer geistigen Öde.

Andererseits zeigt er völlige Mitleidslosigkeit (siehe das berühmte recht gern, als ihm ein Todesurteil zur Unterschrift vorgelegt wird). Er belädt sich mit Schuld und lässt die Drecksarbeit von anderen machen. Er ist rücksichtslos, egoistisch und am Ende in seiner Schuldzuweisung an Marinelli auch noch selbstgerecht.

Aber was ist nun mit Emilia und mit Marinelli? Die eine ist in ihrer furchterregenden Tugendhaftigkeit nur gut und der anderen in seiner kriecherischen Tücke nur böse.

Kommt (siehe Prinzip Nr. 3) am Ende die Katharsis wie in der griechischen Tragödie oder das Grässliche, also der von Lessing bekämpfte reine Schrecken?

Wer seine eigene Tochter ersticht, um ihre Tugend zu retten, mag sich selbst vor der Furcht und die Tochter von künftiger Verführung gereinigt haben, aber das Schauderhafte dieses Tugenddogmatismus' überwog schon damals bei vielen Zuschauern und Kritikern.

Warum ersticht Odoardo seine Tochter und nicht, wie in der antiken Handlungsvorlage, der Virgina-Geschichte von Livius, den Prinzen? Gebiert der Klassengegensatz Bürgertum/Absolutismus hier eine gegen sich selbst gekehrte Aggressivität?

Eine Antwort ist nur möglich, wenn man sich die Scheinbarkeit der Entpolitisierung des Dramas vergegenwärtigt. Emilia Galotti ist ein politisches Drama, nur: Zentraler Wert bürgerlicher Eigenständigkeit ist nicht die Selbstbestimmung oder das Aufbegehren gegen die Willkür, sondern die Tugend. Und es geht zugleich nicht um eine revolutionäre Beseitigung des Klassengegensatzes, sondern - im Vorfeld - um die Bestätigung des bürgerlichen Selbstverständnisses und der eigenen Position durch ein Selbstopfer. Wer das völlig zu Recht für grässlich hält, sollte nicht ganz die Frage aus dem Auge verlieren, was an einer Revolution (oder auch etwa dem Volksaufstand in der Livius-Geschichte) mit all ihren unschuldigen Opfern weniger grässlich ist.

Das soll die Kritik an Lessing nicht entschärfen. Bedenklich bleibt der Umstand, dass Emilia hier einem Prinzip geopfert wird und dass Odoardo nur einen sehr flüchtigen Ansatz zur metaphysischen Revolte - Empörung über oder gegen Gott - zeigt, obwohl er selbst glaubt, dass dieser seine Tochter unschuldig in diesen Abgrund gestürzt hat. Aber mehr konnte ihn der Lutheraner Lessing nicht sagen lassen.

Emilia Controllotti


EMILIA. Um meiner Tugend willen, Vater, geben Sie mir den Dolch.
ODOARDO. Besinne dich! Auch du hast nur ein Leben zu verlieren.
EMILIA. Oh mein Vater, lästern Sie nicht. Das ew'ge Leben bleibt mir, das sollten Sie nicht gering achten!
ODOARDO. Gewiss, gewiss. Doch welche Seite der Ewigkeit erwartest du, wenn du dich selbst entleibst?
EMILIA. Geschieht es um der Tugend willen, wird mir der Richter unser aller gern verzeihen.
ODOARDO. Oh der verbogenen Wollust deiner Tugend! Von wo droht ihr denn Gefahr? Denkst du, man tut ihr Gewalt an?
EMILIA. Das fragen Sie, mein Vater? Der Leichnam meines Bräutigams ist noch warm, und sein Mörder will mich verführen.
ODOARDO. Mörder? Das war Marinelli, die Kanaille. Aber vielleicht hatte auch der Himmlische seine Hand im Spiel, um dich von dem Langweiler zu befreien, mit dem deine Mutter dich um ein Haar verkuppelt hätte.
EMILIA. Vater!
Odoardo (gleichfalls schreiend): Wenn du ihn je geliebt hättest, müsstest du dann die Verführungskunst des Prinzen fürchten?
Emilia (schluchzend): Ich gesteh´s ja. Der Prinz erzeugt einen Aufruhr in meiner Seele, wann immer ich nur seine Stimme höre.
ODOARDO. Dann geh mit ihm und ich stehe dafür, dass zwischen euch und seinem Schlafgemach der Traualtar steht.
EMILIA. Der Wächter meiner Tugend sollten Sie sein, mein Vater, nicht ihr Verderber.
ODOARDO. Tugend, Tugend! Ich kann's nicht mehr hören! Wozu diese Tugend jenseits der Liebe?
EMILIA. Das fragen Sie? Was unterscheidet uns Bürger von höfischer Verderbnis, wenn nicht die Tugend?
ODOARDO. Naives Huhn! Die haben die Macht, wir nicht. Das ist alles!
EMILIA. Das lügen Sie! Verderbter!
ODOARDO. Hör auf zu plärren, das ist ja nicht zu ertragen. Schluss, oder ich ....
EMILIA. Sie spotten meiner Tugend! Den Dolch!
(Der Prinz tritt ein.)
PRINZ. Was muss ich hören?
ODOARDO (im Weggehen): Gut, dass Sie kommen, Exzellenz. Um ein Haar hätte ich sie erstochen.

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