Czytaj książkę: «Der Deutsche»

Czcionka:

Reihe zu Klampen Essay

Herausgegeben von

Anne Hamilton

Jens Jessen,

geboren 1955 in Berlin, arbeitete

nach dem Studium der Germanistik und Kunstgeschichte in Berlin und München zunächst als Verlagslektor, dann als Reiseredakteur, Feuilletonredakteur und Berliner Korrespondent bei der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«. 1996 wurde er Feuilletonchef bei der »Berliner Zeitung«, 2000 dann bei der »ZEIT«. Seit 2012 ist er im Feuilleton der »ZEIT« Redakteur ohne besondere Aufgaben. Immer wieder hat er an Universitäten unterrichtet. Zu seinen Buchveröffentlichungen gehören »Deutsche Lebenslügen« (2000) und der Roman »Im falschen Bett« (2014). Bei zu Klampen ist von ihm der Essayband

»Was vom Adel blieb. Eine bürgerliche Betrachtung« (2018) erschienen.


Inhalt

Cover

Titel

Robinson

Ausrüstung

Im Revier

Wildwechsel

Ansprache

Balzkleider

Exkurs

Diavortrag

Schwarze Schafe

Auf trieb

Nachsuche

Impressum

Endnoten

Meae – contendere noli – stultitiam patiuntur opes

Horaz, Briefe I, 18

Robinson

STELLEN wir uns einmal vor, nur zum Vergnügen und um uns für den Anfang etwas Schönes vorzustellen, ein Deutscher – der prototypische1 Deutsche – würde auf einer einsamen Insel ausgesetzt, ganz für sich allein und auf sich gestellt. Wie würde er sich dort behaupten? Wahrscheinlich sehr gut. Auf jeden Fall geschickt, erfinderisch, aus allen Quellen seiner Tapferkeit, Bedürfnislosigkeit und technischen Begabung schöpfend. »Dem Ingenieur ist nichts zu schwör!« Im übrigen ist er ein Hungerkünstler und unterwirft sich gerne den Umständen. Eine Fülle sinnreicher Installationen wird bald die Insel überziehen. Die Hängematte aus Lianen oder dem Bast eines exotischen Baumes ist eine ganz neuartige, kühne Konstruktion; in der Zivilisation könnte man sie zum Patent anmelden, und das denkt sich dieser deutsche Robinson auch; er guckt dabei recht pfiffig. Ein Meisterstück ist ebenso die Leitung vom Wasserfall direkt in seine Höhle; da kann er sich gleich morgens waschen, »erfrischen« nennt er das.

Er stellt Fallen, lernt aber auch, Termiten zu essen, und zähmt sich ein Wildtier, Waschbär oder Totenkopfäffchen, gleichviel. Vielleicht ein Gürteltier, das er am Termitenhügel kennengelernt hat. Mit dem spricht er dann. Man kann ja nicht nur Selbstgespräche führen. Der Deutsche fürchtet sich nämlich, wunderlich zu werden, und erschrickt bei seinem Anblick im Spiegel eines Baches.

Manchmal schaut er beim Sonnenuntergang aufs Meer hinaus und empfindet die berühmte Wehmut, für die es kein Wort in einer anderen Sprache gibt. Er genießt die Traurigkeit, die keine banale Sehnsucht nach Heim und Familie ist. Manchmal denkt er auch voller Hass an Frau und Arbeitsplatz. Die Insel ist jetzt meine Heimat, denkt er dabei und vielleicht mit einer gewissen schönen Bitterkeit. Vielleicht lässt er sogar das Schiff vorüberziehen, das eines Tages in Schwimmweite auf taucht. Vielleicht ergreift er aber auch die Chance, doch weniger zur Rettung, als um zu Hause einen Bestseller über sein Survival-Erlebnis zu schreiben. Wir haben sogar, während wir uns die Robinsonade vorstellen, sehr stark das Gefühl, diesen Bestseller schon einmal gelesen zu haben. –

Und jetzt stellen wir uns die entgegengesetzte Szenerie vor – dieser Deutsche, nehmen wir an, würde genauso rücksichtslos und unvorbereitet an einem gesteigert geselligen Ort, sagen wir: einer eleganten

Dachterrassenbar in São Paulo, ausgesetzt werden. Wie würde er sich dort schlagen? Wahrscheinlich weit weniger glücklich. Höchstwahrscheinlich sogar unrühmlich, von Fettnäpfchen zu Fettnäpfchen tapsend, ohne Sinn und Respekt für sein Gegenüber, als Tanz- wie Gesprächspartner kein Vergnügen, ohne erotische Fortune, erst schüchtern, dann alkoholisiert lärmend. Vielleicht wird er sich auch still und verdruckst davonschleichen. »Also, diese Brasilianer …«, wird er am Telefon sagen, zu Hause vom Hotelzimmer aus anrufend, Amüsiertheit vorspiegelnd, Enttäuschung verbergend.

Die gesellige Unbeholfenheit ist kein neuer Befund. Er hat im Gegenteil seit Jahrhunderten einen festen Platz in der europäischen Kulturgeschichte.2 Zur Ehre des Deutschen muss allerdings gesagt werden, dass er sich seiner Gehemmtheit – »Blödigkeit« war das Wort dafür im 18. Jahrhundert – immer bewusst war. Ein Landsmann, der sich bravourös auf internationalem Parkett und in weiblicher Gesellschaft bewegen konnte, wurde als Ausnahme bewundert, heimlich beneidet, noch heimlicher gehasst – »einen halben Franzosen« nannte man ihn dann. Auch Don Juan hatte keinen deutschen Pass. Der Deutsche als Deutscher kannte seine amourösen

Grenzen stets gut; das sprach für sein Selbstbewusstsein, tat diesem jedoch trotzdem nicht gut.

Aber warum denken wir uns den Deutschen eigentlich als Mann? Das ist eine abgründige Frage, vielleicht unwillkürlich aufschlussreich. Die spontane Antwort lautet: Weil wir ihn uns wahrscheinlich nur als Mann so selbstgenügsam, fast autistisch vorstellen können, geschickt im Umgang mit Dingen und auch mit sich selbst, ungeschickt gegenüber anderen, vor allem Fremden, wenig biegsam und alles andere als ein genialer Plauderer.3 Von Frauen erwartet man mehr soziales Talent, Kommunikationsfähigkeit, Unbefangenheit, Beweglichkeit. Möchte man sich überhaupt eine steife, unbeholfene Frau vorstellen? Das möchte man nicht – und das zeigt, auf welchem Terrain wir uns hier bewegen: auf dem der Vorurteile, Geschlechterstereotypen, Projektionen und Wunschbilder. Und natürlich will sich der Autor dieser Zeilen auch nicht ungalant zeigen. Deshalb nur um der Wahrheit willen und unter Hintanstellung aller Idealisierungen die Frage: ob vielleicht die deutsche Frau ganz andere Eigenschaften habe als der Mann?

Nein, hat sie nicht. Auch sie wäre in der Wildnis ungeheuer erfindungsreich, tapfer, praktisch – eben wie der Mann, nur vielleicht weniger romantisch. Auch sie ist in Gesellschaft nicht die brillanteste, oft schüchterner und zurückhaltender, als ihr guttut. Es gibt deutsche Frauen, die sehr schön sind – spektakuläre Schönheiten – und sich doch so benehmen, als seien sie es nicht. Ihr Gang ist nicht der Gang einer schönen Frau, sie setzen sich nicht wie eine schöne Frau, sie biegen nicht den Hals oder schlagen die Wimpern nicht nieder, wie es möglich wäre, und bewegen die Lippen im Gespräch nicht, wie es solche Lippen gebieten müssten. Manchmal stolpern sie sogar beim Weg an die Bar. Die Stilettos, die sie tragen, sind ihnen irgendwie fremd. Sie sind nur gekauft, manchmal mit sehr viel Geschmack gekauft, aber kein integraler Bestandteil ihres Wesens. Diese Frauen treten zeitlebens wie ein Teenie auf, der zum ersten Mal die Ausgeh-Rüstung angelegt hat, oder wirken jedenfalls ganz sachlich, als gebe es gar nichts zu gucken und schon gar nichts zu zeigen. Und das ist keine Verstellung: Sie sind wirklich ganz sachlich. Auf keinen Fall wollen sie berechnend erscheinen, und zwar so wenig, dass sie tatsächlich nicht berechnen, wie sehr sie auf fallen und um wieviel mehr sie auf fallen könnten, wenn sie nur ein kleines bisschen übten, in den Stilettos zu gehen.

Die Deutsche ist generell kein »Weibchen«, das müsste man loben, muss aber kein Vorteil sein, vor allem, wenn sie auf die altmodisch noch voll ausgebildeten Weibchen anderer Nationen trifft. Das sind dann »Schlangen«. Die deutsche Frau wird, ebenfalls von der brasilianischen Dachgartenparty enttäuscht, aber auch sonderbar erregt und leider folgenlos animiert, beim Heimatanruf sich über »diese Latino-Frauen« mokieren, »nein, wirklich, dieses Getue … wie sie da herumstelzen … das ist ja fast schon Prostitution … oder gefällt dir so was?« Der Ehemann oder der Sohn, mit dem sie telefoniert, bestreitet das natürlich.

Vor allem neigt die deutsche Frau – die prototypische Deutsche natürlich nur – zur moralischen Abwertung anderer Frauen. Um Anstoß zu nehmen, reichen ihr unter Umständen schon auf fällige Gepflegtheit – demonstrative Gepflegtheit –, elegante Kleidung, die auch als solche getragen wird – anderen bewusst vermittelnd, dass sie gerade eine sehr chic gekleidete Frau sehen –, angenehme Bewegungen, gefällige Konversation, nette Komplimente: also alles, was den Wunsch verrät zu gefallen.

In gesteigert deutschen Milieus, nämlich in linksalternativen oder grünen Zusammenhängen, können schon rasierte Achselhöhlen oder Seidenstrümpfe äußerste Missbilligung erregen. Unter ganz harten Vertreterinnen tugendhafter Reinheit ist sogar der Gebrauch von Deodorants verpönt (von Parfüm, Lippenstift, Make-up ganz zu schweigen). Sie finden das »unnatürlich«.

Die Verehrung des Natürlichen ist eine ideologische Konstante im deutschen Seelen- und Gesellschaftsleben, sie findet sich in allen politischen Lagern, im linken wie im rechten wie im liberalen, und ist gewissermaßen die Mutter aller Querfronten.4 Sie vor allem wird uns im folgenden noch sehr beschäftigen, weil der Natürlichkeitskult die Anfälligkeit für autoritäre Lösungen begründet und alle Diktaturen der Vergangenheit getragen hat.

Für die Deutschen ist Natur eine große Sache, nicht einfach nur »Umwelt« oder das vor aller Zivilisation Gegebene, sondern Norm und Ideal. Und nirgendwo auf der Welt ist diese »Natur« so wenig Natur. Sie ist Dogma – eigentlich ein Tugendkatalog, etwas vollkommen Ausgedachtes und Erkünsteltes. Und doch erweist sich der Deutsche, wenn er in die wirkliche Natur, in die Wildnis oder kaum entwickelte Landstriche, versetzt wird, darin erstaunlich lebensfähig, gegen jede Regel. Denn in der Regel scheitern die Begegnungen mit dem Ideal, jedenfalls wenn es sich um die reale Besiedlung des verklärten Raumes handelt, also etwa des revolutionären Kuba oder Nicaragua, in dem sich die deutschen Polittouristen gar nicht so wohl fühlten.5

Aber in der Zivilisationsflucht der Deutschen steckt ausnahmsweise eine richtige Intuition. Wunderbarerweise ahnen sie zu Recht, als Robinson eine bessere Figur zu machen als in der geselligen Konkurrenz. Die Wälder schweigen, die Waffen schweigen, nur die Erde dampft. Ist der Deutsche der Affe unter den Menschen? Vielleicht bedarf es mehr Aufwand, um den Robinson in der deutschen Frau zu entdecken als im Wesenskern des Mannes, den man dazu nur als Heimwerker, verbissenen Jogger oder maulfaulen Wissenschaftler erleben muss. Aber auch an der Frau ist jener Eskapismus, eine gewissermaßen kreatürliche Menschenfurcht zu beobachten. Würde sie sich nicht am liebsten mit ihrer Brut in die Sicherheit einer Astgabel zurückziehen? Und wie um unsere These zu erleichtern, hat es die Emanzipation mit sich gebracht, dass die Deutsche neuerdings ebenfalls als verbissene Joggerin, versponnene Wissenschaftlerin, kommunikationsbehinderte Akkuschrauberin auf tritt.

Alles in allem lässt sich sagen: Die Deutschen sind tüchtig in der Abgeschiedenheit, dem eigenen, eng gezogenen Kreis, aber nicht mit anderen Menschen.

Und das ist schon das ganze Drama.

Ausrüstung

ZAHLLOSE Bücher sind über Deutschland geschrieben worden, seit die Wiedervereinigung so etwas wie das große D wieder ins Bewusstsein gebracht hat; im letzten Jahrzehnt hat sich die Frequenz der Publikationen noch einmal verdoppelt. Sie alle rudern gewaltig mit kräftigen Armen, um sich durch die Stoffmassen zu bewegen. Was gilt es nicht alles zu bedenken und umzuwälzen, den Kampf der Konfessionen und der Klassen, den Idealismus, die Romantik und den Judenmord, selbst über das deutsche Abendbrot, dieses Gemetzel kalter Schnittchen, haben sich die Denker der Gegenwart liebend den Kopf zerbrochen.

Es muss sich doch, wenn das Factum brutum der nationalsozialistischen Verbrechen erst einmal abgehakt und eingestanden ist, auch etwas Schönes finden lassen. Und da finden wir dann: den Fußball, das sogenannte Sommermärchen, die vorbildliche Nachkriegsdemokratie, den Exportweltmeister, das ökologische Bewusstsein, die soziale Marktwirtschaft und so weiter, ungefähr in dieser Reihenfolge und kruden Mischung. Was wir nicht finden, sind die Schönheit der Städte, die bedeutenden Dichter der Gegenwart, die Eleganz der Frauen und Männer, die Feinheit der Umgangsformen, Sprachwitz und Ironie, die bezaubernden Landschaften mit ihren wie hineingetupften Dörfern – denn sie alle gibt es kaum.

Was wir aber ebenfalls in den zeitgenössischen Deutschlandbüchern nicht finden, sind Dinge, die es sehr wohl gibt: die grauen Gesichter der Pendler aus den Vorstädten, die stumpfen Mütter, die zwischen Büro und Haushalt gerade noch eine Stunde finden, um ihre Kinder zum Weinen zu bringen, den Wutkrampf der rasenden Männer auf den Autobahnen, die kulturelle Verwahrlosung der Unter- und Oberschichten, überhaupt der langsam verrottende Gesellschaftsaufbau. Noch gar nicht besichtigt, erst recht nicht ins tugendhafte Selbstbild inkorporiert ist die gewaltige Korruptionslandschaft, die sich im Untergrund der deutschen Wirtschaft gezeigt hat, gewissermaßen neuerdings vom Meeresboden an die Oberfläche gestiegen ist – der Abgasbetrug der Automobilwirtschaft, der Bilanzbetrug der Firma Wirecard, die Sklavenhaltung in den Großschlachtereien. Ungeheure Summen sind verdient worden durch Schummeleien, die nur möglich waren, weil Deutsche sich für so ehrlich und anständig halten, dass sie immer wieder auf sich selbst hereinfallen.

Aber vieles von dem finden wir in der älteren Literatur. Jedenfalls vieles von der Vorgeschichte der gegenwärtigen Tristesse. Wolfgang Koeppen hat in seinem Roman »Das Treibhaus« die westdeutsche Hauptstadt Bonn kurioserweise schon genau als das beschrieben, was sich später in die Berliner Republik hinüberretten ließ – nicht als das, was verging, sondern als das, was Dauer bewies: die Vetternwirtschaft, Nötigung durch Seilschaften, untergründige Fortexistenz nationalsozialistischer Antriebe. Lion Feuchtwanger, Carl Sternheim haben den Aufsteiger in seiner ganzen Brutalität entfaltet, der aus der Gosse mitbringt, was er an der Spitze der Gesellschaft benötigt. Heinrich Mann hat den Untertanen entdeckt, Thomas Mann in den »Buddenbrooks« geschildert, wie es immer und überall nur ums Geld geht, auch in den als innerseelisch erlebten Vorgängen.

Vor allen anderen aber hat Heinrich Heine den deutschen Michel in seiner schlafmützigen Ängstlichkeit und Anpassungsbereitschaft verspottet – was heute nur mehr wenig originell wirkt, weil es zum ewig wiederholten, totgedroschenen Klischee des politischen Kabaretts wurde. Vielleicht ist der schon von Schiller entdeckte Untertanengeist auch die am wenigsten aktuelle Charakterkonstante.1 Inzwischen werfen ja selbst demonstrierende Polizeibeamte mit Bierdosen auf Kollegen. Ganz sicher ist es heute nicht mehr der Staat, dem die Unterwürfigkeit gilt. Zu überlegen ist allerdings, inwiefern sich die Untertänigkeit inzwischen auf andere Institutionen und Autoritäten bezieht oder in jene feige

Bewunderung mündete, die allem gezollt wird, was aus Amerika kommt oder sich im Internet als Trend entfaltet.

Es gibt eine lange Liste von zweifelhaften deutschen Eigenheiten, die schon vor über zweihundert Jahren beschrieben wurden (zu Teilen noch früher) und nur deshalb nicht mehr weiter diskutiert werden, weil sie schließlich im Nationalsozialismus ihre Vollendung zu erleben schienen und mit diesem für überwunden gehalten wurden. Nur im Hasskrampf der Achtundsechziger gegen ihre Eltern lebten sie noch einmal auf; aber diese Eltern galten ihnen ja auch als Nazis, selbst wenn sie keine Parteimitglieder waren, und zwar, Ursache und Wirkung in eins setzend, allein schon wegen ihrer altdeutschen Eigenschaften.

Der neue Deutsche sieht sich als etwas ganz anderes: vorbildlich geläutert, von jeder Vergangenheit gereinigt und darum berechtigt, auf seine Geschichte wie auf einen Müllhaufen glücklich entsorgten Gerümpels zu blicken. Jeden Tag preist er dieses Glück. Aber hinter seinem Rücken vollzieht sich ein unablässiges Recycling der alten Ideen und Vorstellungen. Das Weggeworfene gelangt aufgefrischt und wie neu in den Verkehr. Er selbst ist es, der das Wunder hinter seinem eigenen Rücken schwer schuftend vollbringt. Der deutsche Rousseauismus, der die Französische Revolution überlebte, als Traum vom Urkommunismus bei Marx unterschlüpfte, als Wandervogel- und Jugendbewegung im Kaiserreich Mode war, die Blut-und-Boden-Vorstellung der Nazis inspirierte, wird heute als naturbelassener Schafwollpullover gestrickt und als Hafermilch von der veganen Jugend getrunken. Der Yoga-Kurs, das hand-crafted Bier aus der Stadtteilbrauerei, die Impfgegnerschaft, überhaupt der ganze hysterische Gesundheitswahn unserer Gegenwart – was sind sie anderes als die »Reformkleidung« des Fin de siècle, die Eugenik und Propaganda der »Volksgesundheit«, die im vorigen Jahrhundert links wie rechts zu Hause waren?

Harmloser, könnte man sagen, sind die Wiedergänger. Aber ist Impfgegnerschaft, einschließlich der anhängenden Verschwörungstheorien, wirklich harmlos? Und handelt es sich wirklich um Wiedergängerei – und nicht etwa um einen niemals abgerissenen Traditionsstrom? Auf fällig ist jedenfalls, dass damals wie heute die Ideale von Natürlichkeit und Gesundheit, die von unserer Werbesprache schließlich zum »Naturbelassenen« zusammengeführt wurden, als Ausweis von Fortschrittlichkeit galten. Die deutsche Jugend der Gegenwart fühlt sich mit ihrer Öko- und Bio-Besessenheit so progressiv, dass sie gar nicht merkt, wie reaktionär sie sich verhält. Selten war ein Fortschritt so anschlussfähig an die Vergangenheit.

Derart pflanzt sich das Deutsche fort. Es ist eine Art Parthenogenese – Selbstbefruchtung mit dem genetischen Material, das in die Rumpelkammer der Geschichte verschoben wurde, aber seine DNA auch dann sofort überträgt, wenn es nur berührt wird – (schein-)kritisch oder verächtlich als überwunden erwähnt wird. Gewiss würde niemand zugeben wollen, dass der chauvinistische Pangermanismus, einschließlich der Nordland-Begeisterung, Norwegen-Fahrerei, Island-Verehrung des 19. Jahrhunderts, noch in Umlauf seien. Aber wäre Greta T hunberg, die Jeanne d’Arc der Umweltbewegung, als Italienerin genauso glaubwürdig wie als Schwedin? Würde eine Aktivistin aus dem »Welschland«2 unsere Vorstellungen von Reinheit, moralischer Makellosigkeit genauso beflügeln wie jenes geschlechtsferne Wesen – fern jeder südlich-sündigen Erotik – aus dem skandinavischen Staat, der ja auch sonst gerne als Vorbild politischer Tugend empfohlen wird? Die Vorzeichen haben von rechts zu links gewechselt, aber das Nordgermanenideal ist geblieben.

Und aus all dem fügt sich etwas zusammen, was man gerne als längst überwundenes Naziding betrachtet, aber tatsächlich schon lange vor dem Nationalsozialismus bestand und noch heute, lange nach ihm, fortbesteht. Die Konstanz der Motive ist, wie unwillkommen auch immer, schwer zu bestreiten, für klügere Deutsche auch nicht zu übersehen. Man kann sie sich nur vom Hals schaffen, indem man das Attribut »deutsch« zurückweist und auf die Internationalität der Tendenzen verweist, zumal der neueren. Viele der kosmopolitisch gesonnenen Deutschen von heute werden bezweifeln, dass es überhaupt so etwas wie die Deutschen gebe oder eine deutsche Nation.3 Sie wollen sich als nüchterne Positivisten sehen, halten es mit der Wissenschaft und erkennen scharf, dass allem Nachdenken über kollektive Eigenschaften etwas Ideologisches anhaftet. So ist es auch; selbst wenn man das Ideologische von Ressentiments befreit und auf ein intuitives Vorauswissen reduziert, wird man zugeben müssen, dass mit allerlei unbeweisbaren Annahmen, Zuschreibungen, riskanten Extrapolationen und fragwürdigen Deutungen operiert werden muss, wenn am Ende Sätze herauskommen sollen wie »Deutsche fürchten sich vor allem vor Deutschen« oder »Deutsche sehnen sich nach Gemeinschaft, weil sie geborene Außenseiter sind«.

Ich halte diese Sätze nichtsdestoweniger für richtig. Aber genauso richtig ist, dass sie weder statistisch verifiziert werden können noch einem wissenschaftlichen Kriterium der Falsifizierbarkeit genügen. Unter welchen Bedingungen sollten sie wahr oder falsch werden? Die empirische Sozialwissenschaft hat nie mehr vermocht, als die Zustimmung zu Sätzen solcher Art prozentual zu erfassen – also die Meinung über Meinungen zu ermitteln. Dergleichen Einschätzungen zweiter Ordnung mögen ein Anhaltspunkt sein. Aber Selbsteinschätzungen trügen auch. Von Dostojewski wissen wir, dass sie in der Regel nicht auf eine Wahrheit deuten, sondern auf eine gewünschte Lüge.

Aber gerade als solche Lügen begriffen, sind sie Indizien der Wahrheit. Man muss nur den Gründen ihrer Attraktivität nachforschen, um die fortlaufende Selbstkritik der Deutschen und ihre ebenso fortlaufende Selbstverharmlosung richtig einzuschätzen und als Zeichen für etwas (meistens) anderes zu verstehen. Weshalb ich sie als Lügen erkenne und über die Motive spekulieren kann? Weil ich Sterndeuter bin oder meine Phantasie nicht zügeln will? Den guten Deutschen, die mir diese Fragen stellen, gebe ich gerne zu: Alles Nachdenken über Deutschland ist schlechte Metaphysik. Ich gebe auch gerne zu, dass meine Sätze vom Standpunkt eines intuitiven Vorauswissens aus formuliert sind, das ich selbst nicht kontrollieren kann – ich müsste denn als Deutscher eine nicht-deutsche Perspektive einnehmen, was schlechterdings nicht möglich ist. Andererseits ist das kulturelle Vorauswissen auch die Voraussetzung dafür, dass überhaupt etwas erkannt werden kann. Es gibt kein Außerhalb einer Lebensform, von dem aus sich diese beschreiben ließe, hat Wittgenstein das Dilemma einmal formuliert.

Andererseits – so zirkulär die heuristische Situation auch erscheint – gibt es gleichwohl so etwas wie ein empirisches Erlebnis der Außenperspektive. Wir können alles Deutsche als Konstrukt bezweifeln und müssen doch nur ins Ausland gehen, um uns als Deutsche zu erkennen oder, schlimmer noch, als Deutsche erkannt zu werden. Unter Umständen genügt schon die Brille, die wir tragen. Warum tragen wir überhaupt Brillen, die nirgendwo sonst in der Welt als vorteilhaft gelten? Meist genügt zur Identifikation auch eine bestimmte Körperhaltung oder ein Argument, mit dem wir uns verteidigen. Warum halten wir Argumente überhaupt für zielführend? Und was sind das für Ziele? Glauben wir, dass alle solche Ziele haben oder zu haben für nötig befinden? Gerade viele der kosmopolitischen Deutschen werden im Ausland als besonders deutsch und als besonders ungemütlich empfunden.

Viele dieser Deutschen werden sich damit mehr oder weniger zähneknirschend, vielleicht auch im Sinne einer nun mal zu tragenden historischen Erblast abgefunden haben, aber doch nicht dulden wollen, dass es ihnen auch von Landsleuten (sogenannten Intellektuellen) wieder und wieder vorgesagt wird. Besonders jene, die sich selbst für »gute Deutsche«, nämlich für aufgeklärt und internationalisiert halten, werden erklären, dass sie des kritischen Blicks leid seien, dass es ein für allemal genug sein müsse mit der Selbstzerfleischung, besorgten Selbstbefragung – mit dem depressiven Narzissmus.

Ihnen muss leider gesagt sein, dass gerade diese quälende und verquälte Nabelschau eine echt deutsche – ächt altdeutsche – Tradition ist, die genau in dem Moment auf blühte, als sich am Krankenlager des Heiligen Römischen Reiches zum ersten Mal so etwas wie eine deutsche Nation in einem anderen als bloß staatsrechtlichen Sinne zeigte.

Der Autor, der sich in jene Tradition einreiht, folgt dabei keinem anderen Motiv als dem altehrwürdigen. Es ist kein Selbsthass, es ist im Gegenteil eine notwendige Übung der Selbstachtung, von Zeit zu Zeit niederzulegen, dass dem Deutschen selbst die Fragwürdigkeiten (auch die Abscheulichkeiten) seiner Nation nicht verborgen bleiben.4 Unerreichbares Vorbild ist hier Stendhal, der bekanntlich nicht müde wurde, Oberflächlichkeit, Eitelkeit und Herzenskälte der Franzosen seiner Zeit zu benennen. Seine Rücksichtslosigkeit gegenüber Konventionen des Sagens, er nannte es mit dem Lieblingswort Désinvolture, bleibt ein Ideal jeder Selbstbeschreibung und ermutigt mich, auch unseren zeitgenössischen Betschwestern5 der Political Correctness keinerlei Zärtlichkeiten zu erweisen.

Letztlich ist es eine Frage der Ehre. Sie besteht darin, sich jederzeit distanzieren zu können, vor allem von sich selbst. Niemand ist zu einer Identität gezwungen. Oder anders gesagt: Sie ist, wo sie behauptet wird, ein selbstgewählter Fluch.

Im folgenden wollen wir nichts weiter, als uns diesen Fluch einmal näher anzuschauen – wie er sich über die Generationen fortpflanzt, wie er das Leben des Deutschen in der Herde bestimmt und wie er die Verteidigung des Reviers möglich macht (nämlich überraschend effizient).

Zu diesem Zweck müssen wir uns nur morgens aufmachen, vielleicht nach einer durchwachten Nacht, vielleicht einer durchzechten Nacht, im Zustand des Katers vielleicht, der jene Überwachheit erzeugt, die schon E. T. A. Hoffmann für eine Voraussetzung erfolgreicher Gespensterseherei betrachtete. Auf ins Revier! Vertrauen Sie mir, ich werde Ihnen alle erforderlichen Hinweise geben. Aber ziehen Sie sich warm an. Es ist kalt, der Himmel grau, wahrscheinlich regnet es bald. Imbissbuden säumen den Weg vom Bahnhof in die Stadt, Tauben suchen Platz auf den kunstreich stachelbewehrten Simsen der Bürohäuser, Obdachlose schlafen noch auf den Lüftungsschächten der Kaufhaustore. Aber siehe da, wir müssen nicht lange warten – und das Gespenst erscheint.

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