Der Verlust eines Elternteils katapultiert einen in die nächste Generation rein. Mich belastete zu
wissen, dass es bald aufwärts gehen musste, wenn nicht das Ganze ins Rutschen kommen sollte.
Ich meine, es war Einstein, der Arbeit als eine willkommene Schmerzlinderung bezeichnet hatte.
Der König ist tot. Dem tröstlichen Prinzen täte es gut, sich zusammen zu raffen, bevor die Hölle
los ist. Neue Anforderungen an mein Dasein bedeuteten, übrige Dinge nicht entgleiten zu lassen.
Ich sortierte einen Stapel liegen gebliebener Rechnungen nach Faktura, die zu begleichen waren.
Zuerst überwies ich eine beträchtliche Summe an das Bestattungsunternehmen dieser Gemeinde.
Dann beantwortete ich die Beileidsbriefe. Erklärte Frau Riturn den Unterschied von Händlern zu
Privatpersonen, die ein Kaffee-Service los werden wollten, weil es ihnen jemand geschenkt hatte,
der ihren Geschmack nicht kannte oder dies Service an die Schwiegermutter erinnerte, die keiner
leiden konnte. Ich lud meine Mutter zu einem Konzert ein und wollte mit Georgia zum Abschied
von unserem Vater sein Lieblingsstück: „Die vier Jahreszeiten“ von Vivaldi noch einmal erleben.
Ich grub die Astern aus, düngte das Beet neu und bereitete die Erde für winterharte Pflanzen vor.
Es war harter Boden, den ich mit der Hacke auflockerte, bis ich den Spaten fest ansetzen konnte.
Ich brachte Frau Jane das Buch zurück, das sie mir vor sechs Monaten geliehen hatte und dankte
Sonntagsvormittag Anton für die Umsicht und Anteilnahme in dieser sehr langen, traurigen Zeit.
Außerdem dankte ich für den schönen Blumenkranz der Gemeinde auf dem Grab meines Vaters.
Es war ermüdend, ein Haufen Arbeit, der gleichzeitig die Nutzlosigkeit und Trivialität des Tuns,
das nach einem Verstorbenen folgt, widerspiegelte. Ein Fortgang im Gedächtnis, der Erinnerung
einer geliebten Person, der man noch einmal gerecht werden will und der bloßen Selbsterhaltung.
Wer jemals damit zu tun hatte, weiß, was ich damit sagen will. Falls solches Verhalten jene tiefst
empfundene Reaktion auf den Verlust des Vaters zu sein scheint, kann ich nur sagen, das war so.
Ich habe Schlimmeres gehört, die Ehefrau seines Stammkunden hätte nach dem Tod ihres Vaters
sein altes Auto, das sich 20 Jahre als solide Familien-Kutsche bewährt hatte, schrottreif gefahren.
In dem Roover seien ihre beiden Kinder groß geworden. Ein Vorfahrt-Fehler, und es krachte nur
so, dass einzig zerknautschtes Blech übriggeblieben wäre. Die Versicherung zahlte noch 1000,-€.
In einem anderen Fall hätte die Mutter eines Auktionärs gänzlich drei Schachteln Schlaftabletten
geschluckt mit einer Flasche Weißwein. Drei Tage später wachte sie auf, weil sie zwar schon im
Koma, doch am Leben war, die Pillen erbrochen hätte, bevor sie wirkten. Sie vertrug diese nicht.
Mein Vater war und bleibt der beste Mensch, den ich kennen gelernt habe. Wäre er zu einer Zeit
gestorben, nicht zu dieser, wäre es in etwa anders gekommen. Die Uhren wurden zurückgestellt,
bis zum nächsten Frühling konnten wir eine Stunde länger schlafen. Chrysanthemen verblühten.
Die zielbewusste Natur kann weit kommen und Hindernisse überwinden mit dem Heiligen Geist.
Langsam kehrte die Normalität wieder. So begriff ich, dass ich Nachfolger eines Geschäfts war,
das mir mein Vater anvertraut hatte. Es war solvent mit jenem großen Lager und reichen Kapital.
In Jahren hatte ich Zuversicht gewonnen, mit Investitionen, Gläubigern, Schuldnern umzugehen.
Neu war für mich das Gefühl, ein Steuerrad und das Kommando überreicht bekommen zu haben.
Mein Vater war ein vernünftiger und bewundernswerter Geschäftsführer gewesen. Ich zweifelte,
ob ich genauso gut sein würde. Doch was war gut, fragte meine innere Stimme. Keramik ist eine
Gabe des Menschen an Gott. Die Kunst, die wir ihm zurückgeben aus der uns anvertrauten Erde.
MUTTERS ANGEBOT
Ich war dafür verantwortlich, dass der Mensch das Beste bekam und lernte, was es überhaupt ist.
Es dauerte bis zum nächsten Frühling, dass ich mein neues Projekt wagte, die Hälfte des Ladens,
des Kapitals sowie Zeit in hochwertige Keramik und Antiquitäten zu investieren. Ich besprach es
mit meiner Mutter, weil das auch ihren Lebensunterhalt bestritt. Ihr Glaube an mein Gelingen im
Ganzen bestärkte mich. Sie erinnerte mich daran, den wichtigen Geschäftsteil nicht zu vergessen.
Wir wussten beide, dass unser neues Vorhaben in der Umsetzung schwierig sein würde, einfache
Steingut-Ware als Partien für den Einzelhandel und Antiquitäten, Rares auf Auktionen ersteigert.
Das wäre die Verbindung eines Außendienstlers mit einem Einzelhändler in seinem Geschäft, ob
das überhaupt ginge und nicht Überanstrengung sei mit der Azubi Maggi und der wirren Närrin?
Meine Mutter setzte sich auf die Sessellehne und strich mir über den Kopf wie als kleiner Junge.
„Ich wüsste da einen, der für den Laden geeignet wäre“, sagte sie. „Eine Witwe, die in Wahrheit
nicht den ganzen Tag allein herum sitzen will. Sie hat schon einige Erfahrungen auf dem Gebiet,
wenn das auch schon dreißig Jahre her ist. Ich glaube nicht, das man sie dafür bezahlen müsste.“
Als sie mich ansah, fügte sie hinzu: “David, sei nicht kindisch. Es gibt keinen Grund zu Tränen.“
INTERNATIONALES GESCHÄFT
Ich inserierte in allen Lokalzeitungen der Umgebung und in Fachzeitschriften für Antiquitäten, die
von internationalem Rang waren. Sie wurden in London sowie in den USA gelesen. Die Kontakte,
die damit geschlossen wurden, waren Gold wert. Meine Mutter und ich bekamen Einladungen und
Besuche von Amerikanern, die eine Leidenschaft für meine Sammlungen zeigten, die sich allerorts
sehen lassen konnten. Maggi erlebte bei den Amerikanern einen Aufstieg, weil ihre einfache, naive
Art in der Beratung sehr beliebt war. „Sen se mal, det nennt man hier Falter wie „Batterflei“ un det
Blumen wie „Flauer“. Sie waren fasziniert von ihr. Maggi steckte oft ihr großzügiges Trinkgeld ein
und bedankte sich mit einem kleinen Knicks und breitem, natürlichen Smiling. Man hätte sie gern
in ein schickes Kostüm gepackt, dass sie dem amerikanischen Kitsch genauer entsprochen hätten.
Wie glücklich scheinen mir heute jene Tage. Wie schnell waren alle Ängste und Zweifel vergessen,
dass ich es nicht schaffen würde in der Zeit. Wenn ein Unternehmen nach zwei Jahren Fuß gefasst
hat in seiner neuen Orientierung und man rückblickend unverhoffte Erfolge verbuchen konnte, sind
die Anstrengungen wie verflogen, kaum noch wahrnehmbar in dem Bewusstsein des wachen Eifers,
die Trefferquote zu erhöhen. Im tiefen Schlaf und in meinen Träumen spiegelte sich anderes wieder.
EIN ALBTRAUM
Es war Frau Robin, die ich seit meiner Internatszeit nicht mehr gesehen und vergessen hatte, die
im Traum splitternackt, wunderschön wie früher, mir entgegen getaucht kam in dem tiefen Wasser.
„Hallo, David“, rief sie. „Können Sie nicht noch mal tauchen,- nur für mich? Sie brauchen es nicht,
wenn Sie nicht wollen. Doch ich hoffe, Sie tun es.“ Gieriges glitzerte auf ihrem Körper und Gesicht
wie damals in ihrem Salon, mit einem Gefühl von gleichzeitiger Erregung und bösester Vorahnung,
die für mich nicht begreifbar war, tauchte ich nur ihr zuliebe noch einmal hinab. „Tiefer“, schrie sie
und „Ja, richtig! Oh, Sie sind wunderbar!“ Während sie es ausrief, befand ich mich auf dem Grund,
dem Meeresboden, der mit Trümmern von zerschmetterter Porzellanware übersät war, Schiffbruch
meines Geschäfts mit zerstreuten Rechnungen, offenen Schränken, zerbrochenen Fenstergläsern.
Ich fand das nicht toll und tauchte schleunigst wieder hinauf. Darauf erblickte ich eine zweite Figur
in dem wolkigen Dunst, die augenscheinlich in dem Unrat herumkroch und krabbelte wie ein Kind.
Es war nicht Frau Robin sondern ein dreijähriges, kleines Mädchen, das sich seinen Weg bahnte.
Als ich näher geschwommen kam, hörte ich ein bitteres Weinen. „Wer bist du?“ fragte ich. „Was?“
„Der Weg ist so weit durch das Meer. Ich suche meine Mutter“, klagte sie jämmerlich. Dann sah
ich Verwesung an ihrem kleinen Körper sowie blauschwarze Flecken seiner üblen Misshandlung.
Sie musste schon Wochen unter Wasser sein. Ich ergriff diese Hand, die nicht mehr fassbar war.
„Komm‘, ich führe dich zu deiner Mutter.“ Ich drehte mich um und sah nur noch ein Quallen-Bild.
Kreischend wachte ich auf. Auf der Bettkante saß meine Mutter und versuchte, mich zu beruhigen.
„David, du bist überarbeitet, du brauchst unbedingt Ruhe, wach‘ auf.“ „Du hörst es nicht“, rief ich.
Ich erzählte ihr den Traum, wobei ich wie ein Kind schluchzte. Sie beruhigte mich, wie sie konnte,
schüttelte mein Kopfkissen auf, brachte mir heiße Milch mit Rum und verharmloste diesen Traum.
„Du darfst dich von einem Traum nicht ängstigen lassen, David, Träume sind oftmals unwirklich.“
Sie hielt eine Tasse Tee in der einer Hand. Mit der zweiten drückte sie zuversichtlich meine Hand.
„Du solltest dich erholen von den letzten Anstrengungen. Vielleicht schläfst du einfach bei mir für
zwei Nächte. Da ist niemand, der uns auslachen könnte.“ Daraus wurden drei Nächte, die mit Puh,
dem Bären und dem zusammen Lesen in Fix & Foxi- Heften vor dem Licht ausknipsen tatsächlich
halfen, meine innere Ruhe wiederzufinden. Ich schlief viel tiefer und fester bei ihr, was mir gut tat.
Zwei Jahre stand ich ständig unter Entscheidungsdruck mit der Angst zu versagen oder das Kapital
falsch anzulegen. Wenn da nicht meine Mutter gewesen wäre. Sie wusste, welche Sorgen es waren,
die mich vereinnahmten, dass ich gereizt reagierte auf den Durchzug, nervös nicht schlafen konnte.
Abstoßend ekelig nagte der Traum an meinem Verstand. Ich sprang am Schreibtisch vom Stuhl auf
und rief aus: “Moment mal, so nicht!“ Als wollte ich das Traumbild wie einen Spiegel zerschlagen,
meine unerträglichen Gedanken mit aller Gewalt unterbrechen: „Moment, so doch wirklich nicht!“
Zeitweise dachte ich ernsthaft darüber nach, den Psychiater aufzusuchen, der Träume deuten kann.
GEORGIAS HOCHZEIT
Das schönste Ereignis in diesem Sommer war Georgias Hochzeit, die schon Monate vor dem Tod
meines Vaters stattgefunden hätte, da sie, in Maggis Worten gesprochen, „ in festen Händen war“.
Jeder mochte Henry York, den beliebten Lehrer, der das Zeugnis zum künftigen Schulrektor hatte,
und ein vortrefflicher Golfspieler war. Ich konnte mit ihm eine Unendlichkeit von Zeit vergeuden,
ohne dass mir langweilig wurde. Nachts brüteten wir vor einem Schachbrett, bis Schachmatt kam.
Wenn für Georgia natürlich keiner gut genug gewesen wäre, machte ich bei Henry die Ausnahme.
Meine Mutter bemerkte: „Ihn würde sogar ich heiraten!“ Henry war Vater in seiner Art ähnlicher,
als wir es vorher gemerkt hatten. Anton hielt große Stücke auf ihn und führte eine Predigt leichter
im Inhalt, als es sonst bei Hochzeiten üblich ist, dass einige Gäste anfingen, über beide zu lachen.
Kein Schwermut, kein Bann des Lebens, keine Verlegenheit, ohne wenn und aber, viel lustiger.
Vielleicht hätten ihre eigenen Schüler darüber gelacht. Doch lag ihre Hochzeit in den Schulferien.
Er meinte, dass sie in der unvollkommenen Welt gewiss nichts Besserem mehr begegnen würden,
als sich selbst zur Vervollkommnung wie geschaffen und zur Freude ihrer Kinder. Vierzig Kinder
der Gegenwart hätten sie bereits als Schüler glücklich gemacht. Das Zehntel käme vielleicht dazu.
Gott wollte von Abraham ein Zehntel. Er schützte seinen einzigen Sohn Isaak auf dem Opferaltar.
Manchmal war es für die Gläubigen schwierig, die Aussagen von Anton richtig nachzuvollziehen.
Georgia war von dem Tod unseres Vaters genauso betroffen gewesen. Nicht mal unsere Mutter in
ihrem ganzen Leben hätte ihn mehr geliebt haben können als sein kleines, zierliches Töchterchen.
Die Hochzeit war ihr persönlicher, neuer Auftakt in ihrem Leben mit einem Gloria an ihren Vater.
Als Georgia aus dem Hauptportal der St. Christophorus Kirche trat und der Glockenturm bebte in
dem stürmischen Dreiklang, dass mit nachhaltigem Echo bis zu dem Nachbar-Dorf an dem Hügel
seine Einwohner wussten, meine Schwester Georgia hatte geheiratet, war sie sehr glücklich dabei.
Der frische Wind hatte diese Nachricht herüber geweht und man hörte die Glocken noch im Dorf.
Nachdem sie still geworden waren, starteten Auto-Kolonnen, laut hupend, die jenem Paar folgten.
Das Auto, dessen Steuer ich hielt, rollte an einem Hügel gemeinsamer Kindheitserinnerungen für
Georgia vorbei, während ich meiner Mutter zuflüsterte: “Du hast heute Glück und darfst weinen!
Deine Georgia hat uns heute die Ehre bereitet wie an dem Tag, als ihr einfiel, zu uns zu kommen.“
Nachdem alle gegangen waren an diesem Abend und wir ein leichtes Nachtmahl zu uns nahmen,
sagte meine Mutter zu mir: „Ich hoffe, deine Hochzeit wird mal genauso schön wie diese, David.“
Dann hielt sie inne wie oftmals, wenn sie merkte, dass es sich nach Beeinflussung anhören sollte.
Sie fügte beiläufig in Nonchalance dazu: „Ich meine, wann immer das auch sein wird oder nicht.“
Sie hat sich verhaspelt, dachte ich. Sie wäre nicht drauf gekommen, dass ich vielleicht überhaupt
nicht heiraten werde, weder früher noch später, doch ich ließ das einfach mal so im Raum stehen.
MEINE VERWIRKLICHUNG
Ich war hinter etwas Wertvollerem und Wichtigerem her, wie es sich bald für mich heraus stellte.
Dies Glücksspiel hatte nichts mit Geld zu tun und nichts mit irgendeiner Art Standesbewusstsein.
Vier Jahre nach dem Tod meines Vaters war ich aus dem Gröbsten heraus und arbeitete gelassen,
nicht weniger sondern entspannter. Dieser Drang, das unbedingt zu erreichen, hatte sich beruhigt.
Mein wahres Ziel kam näher in neuem Bewusstsein,- in reiner Arbeit aufzugehen, nicht im Profit.
Unser Umsatz war beträchtlich zurückgegangen, weil wir ein kleines Lager führten von Keramik
als Haushaltsgeschirr,- Gläser und Nippes für den alltäglichen Gebrauch. Doch auch, weil es sich
herum gesprochen hatte in unserer Gegend, dass wir uns für soliden Bedarf kaum noch zuständig
fühlten. Ich war so abgesichert, wie es ein Antiquitätenhändler nur sein konnte ohne Eigenbedarf.
Ich trug alte Kleidung und kaufte mir kaum Neues. Aus unseren zwei Autos war eines geworden.
Kleine Extravakanz stellte ich ein, sowie diese meines Vaters, jedes Jahr neue Dahlien zu kaufen.
In den 14 tägigen Briefen von Georgia fragte sie mich: „Gesund geschrumpft?“, die wir bejahten.
Gewiss hatte ich Kapital, eine beträchtliche Summe sogar. Die hielt ich wie Munition zusammen,
und achtete darauf, dass jeder Schuss mein Treffer wurde. Mittlerweile wusste ich über Porzellan
aus früheren Jahrhunderten bestens Bescheid, mehr als manche Historiker und erfahrene Händler.
Ich lernte, mein neues Wissen gezielt einzusetzen, um es international „an den Mann zu bringen“.
In der Zeit kaufte ich eine bekannte Statue, die beschädigt war, das Milchmädchen von Reinecke
und verzichtete auf eine Restauration der abgebrochenen Einzelteilen wie Hände und Kuhhörner.
Meine Entwicklung verlief sehr individuell, womit ich in aller Welt die Kunden als Freunde gewann.
Der Welt die eigene, persönliche Freude zu verkaufen und davon zu leben, egal ob bescheidener,
erträglicher oder wohlhabend, gibt es ein größere Freude? Ich freute mich auf meine Besuche bei
Bekannten in Kopenhagen. Ich brauchte auch kein Hotel mehr, sondern wurde eingeladen, direkt
in ihrem Haus im Oberstübchen zu übernachten. Morgens beim gemeinsamen Frühstück redeten
wir über die selbst gemachte Rhabarber-Marmelade, die ich mir auf frischem Toast in den Mund
schob, über die seichte Brise, die in Meeresnähe oft weht, über die beste Auswahl an königlicher
Porzellan-Ware aus Kopenhagen und dass ich eine Sekretärin bräuchte, die deutsch, dänisch und
englisch spricht sowie in Kurzschrift schreibt, gleichermaßen das Maschine schreiben beherrscht.
Es war zum Vorteil, dass ich fließend dänisch sprach. Eine Korrespondenz in drei Sprachen wäre
sehr zeitaufwendig gewesen in Anbetracht des Stapels von Geschäftsbriefen, die prompt Antwort
erwarteten, weil sie direktes Kaufinteresse zeigten für eigene Sammlungen im Antiquitätengenre.
HERR LARSON
Jani und Lotta Dahl gehörten zu meinen besten Freunden in Kopenhagen, ein dänischer Verleger.
Ich wollte vor unserer Fahrt ins Blaue, zum Meer und den Dünen nach Fünen, aus der Stadt raus,
die Lotta für ein langes Wochenende arrangiert hatte, meine Korrespondenz noch erledigt haben.
Jani setzte sich mit einem Carl Larson in Verbindung, einem Exporteur für Landwirtschaftliches,
der ein alter Bekannte von ihm war. Er hatte mit dem Künstler Carl Larson nichts zu tun. Bei der
Bilder-Ausstellung seien sie sich begegnet in der Komik eines Namensvetters dieses Schwedens.
Es war ein Beispiel für die dänische Kontaktfreudigkeit, die im Prinzip Länder übergreifend war.
Jani meinte, dass er jemanden wüsste. Ein Mädchen für englische, dänische und deutsche Briefe,
wenn er nicht zu schnell diktierte. Ich dankte und machte mich auf den Weg zu Herrn C. Larson.
Er war in heiterer Stimmung, grauhaarig und von kräftiger Statur. Mit Neugierde blickte er mich an.
Jani sprach ansonsten salopp von Calle, der gern feiert und keine Partys oder Events auslässt.
Genauso erlebte ich ihn. Äußerlich in keinem Businessdress, sondern lässig elegant und herzlich
in seinem Willkommen, er wirkte, als wenn ihm die sture Arbeitsweise genauso verhasst sei wie
unpersönliche Treffen. Seine Geschäfte mochten aus very good connections bestehen, important.
Gesellschaftliche Verbindungen, die erst im Nachhinein gutes, wirtschaftliches Interesse zeigten.
Er sprach Englisch nur etwas schlechter als Dänisch: „Sie werden Frau Fröhlich hervorragend
finden. Sie spricht besser englisch als ich. „Aber nein!“ “Lange ist es her, da war ich in London.“
Wir schwatzten in beiden Sprachen und unterhielten uns bestens. Als ich an die Arbeit erinnerte,
„Haben Sie viele englische Briefe?“ “Vier oder fünf sind es.“ “Vielleicht sprechen Sie langsamer.“
„Übrigens, was die Bezahlung angeht und Ihre -“ „Es kommt nicht in Frage, ganz und gar nicht.“
„Aber ja doch! Wirklich, ich muss wenigstens Ihnen oder ihr etwas bezahlen -“„Kommt nicht in
Frage, auf keinen Fall, das ist das Wenigste, wenn wir einem Engländer und Jani helfen können.“
In meinem Gedächtnis machte ich mir die Notiz, dass ich ihm eine Flasche Bordeaux mitbrächte.
Was nur für Frau Fröhlich? Ein Parfum? Ein Seidentuch? Warum ließ er mich sie nicht bezahlen
im Stundenlohn oder in einem Pauschalpreis? Besser, ich fragte Jani nochmals, was man solcher
Dame schenken könnte. Wenn sie so gut in englisch war, ohne in England gewesen zu sein, eine
Antiquität für ihre Vitrine? Vielleicht war sie von alter Schule, vornehmer Zunft oder verwöhnt?
Carl Larson führte mich in ein Zimmer, das an sein Geschäft erinnerte mit Büchern über Rinder-
Zucht und Getreide-Anbau. Antike Möbel füllten den Saal, in dem ich sie gleich erwarten sollte.
Als es an der Tür klopfte, sagte ich: „Kom ind!“ Und dann, um kein Missverständnis -, „Herein!“
Was waren meine ersten Gefühle und Gedanken, als sie den Raum betrat? Wahre Gefühle lösen
Gedanken aus. Rückblickend redet man sich alles Mögliche ein, was durch spätere Erfahrungen
hinzu gedichtet wird, meist wird dies dramatischer, als es im Vorfeld war. Das liegt im Menschen,
seine Sensationslust und Dramaturgie, egal ob auf dem mittelalterlichen Schauplatz, derzeitigen
Medien oder in Shakespeares Dramaturgie. Was hätte Shakespeare ohne das banale Verlangen
gemacht? Well, ich war solch ein Engländer, der im Prinzip schlecht an Shakespeare vorbeikam.
Trotzdem muss ich sagen, dass ich schon damals was verspürte, das schwer zu beschreiben ist.
Vielleicht ein Bewusstseinssprung auf eine andere Ebene, einen plötzlichen Wechsel im wahren
Geschehen. Sowohl in der Eigenart meiner Aufmerksamkeit als auch im unmerklichen Moment
und Verstreichen eines Augenblicks, rückte die tatsächliche Umgebung, das Arbeitszimmer wie
dieser Stapel Briefe auf meinem Tisch in den Hintergrund, dass die Zeit wie durch eine Linse in
die Vergangenheit führte aus der Gegenwart, als ob ein Duft oder Klang nicht nur an die frühere
Zeit vor fünf Jahren oder an die Kindheitszeit erinnert, sondern uns wirklich dahin zurück bringt.
Der Blick durch ein Kaleidoskop oder durch eine Linse in die Ewigkeit, die uns sonst fremd war.
Es war nicht mehr der Tag und Ort, den ich gerade zu erleben meinte, sondern ganz woanders.
Lautlos war die nie erprobte Linse eingerastet auf die vorher niemals wahrgenommene Realität.
Ich blinzelte mit offene Augen und sah durch das helle, verblendende Licht, dass sie schön war.
Ich habe später über dreißig Leute gehört, die gesagt haben, dass sie schön sei. Sicher bin ich
einigen Frauen begegnet, deren Schönheit ich distanziert wahrgenommen hatte, für einen Sinn
und die Augen. Wegen des guten Tons wurden sie oft gelobt, sowie ein Konzert in Anwesenheit
des Publikums von der unmusikalischen Person gehört wird. Sie waren schön, wie es üblich war.
Nicht nur ihr Gesicht und Körper waren schön, ihre Haltung und Bewegungen galten königlicher
als am Hofe. Sie war graziös und elegant in aufregender Erscheinung unheimlicher Weiblichkeit.
Doch auch das hätte nicht den Riss durch den Tag in jenem Arbeitszimmer verursachen können.
Etwas Überwältigendes umhüllte sie wie ein unsichtbarer Schleier, der undurchdringlich blieb in
seiner Unfassbarkeit. Woraus bestand dieser Nimbus? Aus dem abgehoben Sein des entfernten
Jenseits, das mich zu ihr aufblicken ließ, wobei ich schon von meinem Stuhl aufgesprungen war.
In ganzer Erregung beobachtete ich sie wie durch ein Fernrohr und nahm die innere Fröhlichkeit
sowie äußere Wachsamkeit wahr, sie belustigte sich insgeheim über mitmenschliche Reaktionen.
Und da gab es noch etwas anderes, Zigeunerhaftes, Heidnisches, beunruhigend, mehrdeutig, das
sich nicht vom Diktat einer zivilen Bürgerlichkeit unterdrücken ließ, ohne Barmherzigkeit wie ohne
einen Skrupel würde es sich nicht einem erzwungenen Zusammenleben freiwillig unterordnen. In
dieser Hinsicht glich sie einem Leoparden, dessen Schönheit gleichermaßen gefährlich wurde für
denjenigen, der ihm zu nahe kam. Es wäre lebensbedrohlich, ihn wahrhaftig einfangen zu wollen.
Sie habe die Peitsche, gewiss, doch sie wären besser auf der Hut. Denn das Wunder, das ihnen
in die Falle gehen soll, um ihnen Gewinn zu bringen, ist tödlich. Es teilt ihre raffgierige Sicht nicht.
Keiner weiß, was es denkt, wie es fühlt, kennt nichts von der Vorsicht und Abwägen von Kosten.
Niemand weiß, wovon es weiß, wenn es gleichgültig an den Stäben vorübergeht sowie abwesend.
Zum Teil ist es erschreckend wachsam und weiß genau um den Einbruch mörderischer Unschuld.
Doch in diesem Moment waren jene Dinge lauter explodierende, zerberstende Teile einer Rakete,
die wie zu Sylvester als bunte, leuchtende Sterne am Himmel verschwanden im nebeligen Schein.
Ich hätte im Nachhinein nicht sagen können, wie viele Sterne es waren oder gar in welcher Farbe,
nachdem die Rakete verglüht und mich geblendet zurück gelassen hatte. Nur eines war mir dabei
klar, die Gegenwart dieses Schreibmädchens war die unermessliche Gunst, die mich ja erstmalig
im Leben eine Frau sehen und erleben ließ und deren Umkehrschluss, ich sah noch nie eine Frau.
Ich habe nicht die geringste Erinnerung an ihre Kleidung. Sie sprach mich zuerst auf englisch an:
„Sie sind Herr David?“ Mir war nicht klar, ob sie meinen Nachnamen nicht kannte oder sie jenen
absichtlich unerwähnt ließ, gar vergessen hatte. „Ja, das ist richtig. Und Sie sind Frau Fröhlich?“
„Sehr nett, dass Sie mir bei jenen Briefen helfen wollen.“ “Mit Vergnügen.“ “Bitte setzen Sie sich.“
Alltägliche Wörter, geeignet wie andere auch, um sich einander bekannt zu machen, Konventionen.
Diese Neonfische im Aquarium von Carl Larson flimmerten vor meinen Augen. Während sie umher
schossen, versuchte ich, meine Gedanken zu ordnen und sah ihnen genau zu, wie sie die Bahnen
in dem Aquarium zogen. Das waren Streckenschwimmer, keine Taucher, sie zogen die Bahnen wie
bunte Bänder und hielten mich bei Atem. Ihre Bewegungen steigerten jede Konzentration, dass ich
meinen Blick auf die Fische ausrichtete, das waren Zierfische in orange-neonblau-gelbgrün-knallrot.
„Womit wollen Sie anfangen, Frau Fröhlich? Zuerst die englischen Briefe? Könnte Ihnen Englisch
mehr Schwierigkeiten bereiten, dass wir damit beginnen?“ “Das ist mir völlig egal.“ Sie schlug ihre
Beine übereinander und legte den Block auf das Knie. Dazu lächelte sie, nicht zu mir, sondern wie
zu einem unsichtbaren Begleiter oder wie zu sich selbst. Sie deutete an, dass die Kommunikation,
die wir gerade führten, gänzlich uninteressant sei im Licht der anderen, die sie selbst herbei führen,
die außerhalb meiner Kontrolle stattfinden würde. „Ich bin ein Mann, Sie sind eine Frau, und beste
Voraussetzung für eine Übereinstimmung.“ Es schien ohne ihrer Selbstkontrolle abzulaufen. Wenn
es flirten war, dann so wenig wie bei Blumen oder Hummeln. Ich muss erwähnen, dass es derzeitig
für mich unklar war, wer die junge Frau war. Ich wusste noch nicht, dass es sich um Elisa handelte.
An dem Morgen brachte ich mein Erlebnis keineswegs mit mir, meinen Plänen, meinen Absichten,-
meiner Realität in Beziehung. Es war, als wenn ich auf einem Spaziergang einer Blume oder einem
Vogel begegnet wäre. Dieser Tag, an dem ich zum ersten Mal einen Pfau ein Rad aufschlagen sah.
Einzige Erlebnisse genügen sich selbst und löschen im Gedächtnis beiläufige Nebensächlichkeiten,
die einen von der Wahrnehmung des wirklichen Ereignisses ablenken würden. So treten sie zurück.
Es stimmt immer noch nicht im Ganzen. Jede Art der erfundenen Analogien treffen nicht den Kern.
Das Erlebnis, das einem Edelstein glich, war nicht anorganisch. Ich selbst begriff dies dabei zuletzt.
Ich diktierte jene Briefe leicht abwesend. Wenn sich Gedanken in Phantasien auch nicht woanders
als in dem Arbeitsraum bewegten, so stellte ich doch Außerirdisches bei Frau Fröhlich fest oder im
Sinn jener Person, die vor mir saß. Mir war dabei nicht klar, ob sie sich selbst dessen bewusst war.
In Stenographie hatte sie jedes Detail notiert, die für meine Geschäftsbriefe von Wichtigkeit waren.
Als ich ihr zum Abschluss die Tür aufhielt, sagte ich: “Besten Dank, Frau Fröhlich. Ich bin freitags
wieder hier. Dann können wir die Briefe nochmals durchsehen, wenn Sie nicht zu beschäftigt sind.“
Diesmal lächelte sie mich direkt an und erwiderte: „Ich werde nicht zu beschäftigt sein. Good bye.“
Es schien so, als spräche sie nicht von irgendwelchen Briefen. Es hörte sich an wie die Antwort im
Sinn des Vorangegangenen: „Ich habe Zeit zum Wiedersehen für denjenigen, der mich an-erkennt.“
Noch ziemlich verwirrt kehrte ich bei Carl Larson ein und folgte seiner Einladung zum guten Drink.
„Na, alles paletti?“ fragte er. „Sicher doch. Den Beweis haben wir, wenn die Briefe vor uns liegen.“
Ich stutzte, wie ich ihm meine Empfindungen nennen könnte. „Frau Fröhlich wirkt sehr anziehend.“
„Ja nett, nicht wahr?“ antwortete er. „Sie bringt sozusagen einiges Licht in unsere Räumlichkeiten.“
Himmel, er weiß nichts. Wie ist das möglich? Ich konnte es nur dabei belassen. Aber wo belassen?
„Möchten Sie einen Sherry oder Gin oder lieber etwas Scotch?“ “Einen Gin, wenn Sie mich fragen.“
Der Ausflug danach zum Meer nach Fünen war wunderschön bei sonnigem Wetter. Die Fähre dort
überquerte uns mit Leichtigkeit. Ich besichtigte den gotischen Dom, in dem „Knud“ begraben liegt,
direkt unter dem Altar, der Erbauer des mittelalterlichen Kunstwerkes zur Zeit reinen Formalismus.
Nächsten Tag machten wir mit Lotta und Jani ein Picknick in den Dünen bei frischer Meeres-Brise.
Während der ganzen Fahrt konnte ich unfreiwillige sowie ungenaue Erinnerungen an Frau Fröhlich
nicht beiseite schieben, ihr Anblick im Sessel, wie sie die Beine übereinander geschlagen hatte und
nach vorne gebeugt, dass ich nicht ihr Gesicht erkennen konnte, die vergessenen Titel zu Melodien.
Darin war ein Gefühl gegenwärtig, das sich kaum in Worte fassen ließ. Ich wäre hier nicht wirklich
da, vorhanden, wie ich mich im Auto erlebte. Ich konnte mich nicht einmal an ihr Gesicht erinnern.
Zugvögel merken das im Herbst. Bald kommt die Zeit der Rückkehr,- die Rückkehr zum Ursprung.
Freitagmorgen besuchte ich Herrn Larson zum zweiten Mal mit einer Flasche Bordeaux und Pernot.
Ich war gespannt auf die Briefe und noch vielmehr auf Frau Fröhlich. In einer großen Geschenktüte
trug ich die lustig verpackten Weinflaschen mit bunten Bändern, die sich um die Bäuche kringelten.
In London hätte man die Flaschen solide in der Tasche verstaut, in Kopenhagen wurde ohne Frage
ein Geschenk draus. Beladen wie ein Esel, denn ich hatte noch gleich fürs Wochenende eingekauft
und war drauf vorbereitet, dass wir im Büro zusammen frühstückten mit Brötchen, Butter und Käse