Czytaj książkę: «Sie war meine Königin»
Janina Hoffmann
Sie war meine Königin
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Prolog
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
Epilog
Impressum neobooks
Prolog
Manchmal sehe ich dich noch. An einem Samstagnachmittag in der gut besuchten Fußgängerzone unserer Stadt, wo ich mit meiner neunjährigen Tochter unterwegs bin, um mit ihr einen neuen Schulranzen zu kaufen, da ihr bisheriger nach ihrer Überzeugung völlig aus der Mode sei und sie sich mit einer Schultasche ohne Glitzer vor allen anderen Mädchen in ihrer Klasse lächerlich mache. Im Flughafenterminal, wo ich, um die Zeit bis zum Abflug zu unserem Urlaubsziel totzuschlagen, auf einem unbequem harten orangefarbenen Kunststoffstuhl sitzend, vorgebe, in einer Zeitschrift zu lesen, und dabei andere Reisende unauffällig beobachte, während meine Frau mit unserer Tochter ein Geschäft nach dem anderen auf der Suche nach Schnäppchen abklappert, die kein Mensch braucht. In der Mittagspause, während ich in der Kantine eine zu salzige, cholesterinreiche Mahlzeit zu mir nehme, die später Sodbrennen und ein schlechtes Gewissen zur Folge haben wird, das belanglose Geschwätz der Kollegen an meinem Tisch so gut es geht ignoriere und aus dem Fenster hinaus auf die Straße der Innenstadt schaue, neben der sich Passanten unter einem bleigrauen Himmel mit ernsten Gesichtern widerwillig ihren Weg durch den Nieselregen bahnen. Nicht zum ersten Mal wünschte ich, ich könnte weglaufen und alles für immer hinter mir lassen. Dann sehe ich dich plötzlich. Du bist da vorn, nur ein Stück weit entfernt. Das gibt es doch nicht! Mir ist jedes Mal, als träfe mich der Schlag. Zu ungeheuerlich ist der Zufall, an den ich nicht mehr geglaubt habe, zu unermesslich das Glücksgefühl, das ich bei deinem Anblick nach all den Jahren immer noch empfinde. Für einen Moment lang bin ich wie gelähmt, kann es nicht fassen, dass du wirklich da bist. Alles andere um mich herum verschwimmt zur Bedeutungslosigkeit. Das Einzige, was jetzt zählt, ist, schnell zu dir zu gelangen, bevor ich dich wieder aus den Augen verliere, dich anzusprechen, dir zu sagen, wie unsagbar froh und dankbar ich bin, dass du zurück bist, dass ich den Rest meines Lebens mit dir verbringen möchte, dass wir uns nie wieder trennen dürfen, dass es egal ist, was andere über uns denken, dass ich dir vergebe, was du getan hast. Ich lasse alles stehen und liegen, nähere mich dir auf wackeligen Beinen, mit rasendem Herzen. So lange habe ich auf dieses Wiedersehen gewartet. Eine unerträglich lange Zeit. Eine quälende Ewigkeit. Mein Gott, du hast dich überhaupt nicht verändert. Du bist noch genauso wunderschön wie früher. Dieses herrlich dicke dunkelbraune wellige Haar. Wie oft habe ich meine Hände durch deine glänzende Haarpracht hindurchgleiten lassen. Du warst noch nicht einmal dreißig, als die ersten weißen Haare auf deinem Kopf sichtbar wurden, hast du mir einmal erzählt. Seitdem färbst du dein Haar konsequent in deiner Naturfarbe, kannst keinen Makel ertragen, willst ewig jung sein. Dein Haar ist jetzt länger als damals, fast schulterlang. Ansonsten hat sich nichts an dir verändert. Mir kommt es vor, als wäre die Zeit für dich und mich stehen geblieben. Du hast mich noch nicht bemerkt. Du ahnst nicht, dass das Schicksal uns wieder zusammengeführt hat. Gleich bin ich dir so nah, dass ich dir eine Hand auf die Schulter legen kann. Oder soll ich dich besser leise beim Namen rufen? Was wirst du sagen, wenn du dich daraufhin umdrehst und erkennst, dass ich es bin? Was wirst du ... Dann fällt es mir auf. Zunächst nur eine Kleinigkeit. Du bist doch größer. Dann weitere Unstimmigkeiten. Deine Körperhaltung war früher viel graziler, deine Hüften schmaler. Die seltsam ängstliche Art, wie du den Riemen deiner Handtasche umklammerst, die Tasche dabei an deinen Körper presst, als würdest du damit rechnen, dass sie dir in jedem Moment entrissen wird. Das sieht dir und deiner lebensfrohen Art gar nicht ähnlich. Dieser biedere Kleidungsstil passt nicht zu dir. Du liebst es farbenfroh und ein wenig ausgefallen. Und nie würdest du so unbeholfen in hochhackigen Schuhen herumlaufen. Du bist eine Meisterin darin, in hochhackigen Schuhen zu laufen. Du könntest in hochhackigen Schuhen zur Not auch einen Marathon laufen, hast du mir einmal gesagt und anschließend auf diese unnachahmlich herzliche und ansteckende Weise gelacht. Ich will es mir nicht eingestehen. Ich will die Wahrheit nicht an mich heranlassen. Manchmal dreht die Frau, die ich für dich gehalten habe, ihren Kopf so weit, dass ich ihr Gesicht sehen kann, obwohl das gar nicht mehr nötig ist. Die Illusion hat sich bereits so schnell aufgelöst, wie sie entstanden ist. Und ich komme mir vor wie der letzte Idiot, dass ich auch nur im Entferntesten daran denken konnte, diese Person mit ihrem Durchschnittskörper und Allerweltsgesicht könntest du sein. Ich schäme mich. Nun bin ich auf einmal erleichtert, dass du nicht in der Nähe bist, dass du nicht Zeugin dieser peinlichen Verwechslung bist. Ich kehre zurück. Zu meiner Tochter, die vor dem Koffergeschäft in der Fußgängerzone, das wir gerade betreten wollten, mit mürrischem Gesichtsausdruck auf mich wartet, mich fragt, was das denn gerade sollte, und mir, als ich nicht darauf antworte, maulig vorwirft, ich wolle mich wohl davor drücken, ihr eine glitzernde Schultasche zu kaufen. Ich setze mich wieder auf den unbequemen Stuhl im Flughafenterminal, wo ich doch auf die Jacke meiner Frau und den kleinen pinkfarbenen Trolley meiner Tochter aufpassen sollte, während beide in den Geschäften stöbern. Zum Glück sind die Sachen noch da. Ich geselle mich erneut zu den Kollegen an den Kantinentisch, die meine Abwesenheit anscheinend gar nicht bemerkt haben und weiterhin die unglaublich tragischen Ereignisse der am Vorabend ausgestrahlten Folge einer Fernsehserie diskutieren oder einstimmig prophezeien, dass Deutschland mit seinem diesjährigen Beitrag beim European Songcontest mit Sicherheit einen der ersten drei Plätze belegen werde.
Ich werde dir nie wieder begegnen, denn dich gibt es nicht mehr. Das muss ich mir so oft ins Gedächtnis zurückrufen, mich zwingen, den Tatsachen ins Gesicht zu sehen. Und trotzdem sehe ich dich noch. Immer und immer wieder passiert es mir, dass ich andere Frauen für dich halte. Und ich will, dass das niemals aufhört. Ich werde sterben, wenn das jemals aufhört.
Während ich mit meiner Tochter im Koffergeschäft in der Fußgängerzone eine Schultasche mit extra viel Glitzer aussuche, die ihren hohen Ansprüchen genügt, am Flughafen auf dem unkomfortablen Kunststoffstuhl weiter in der Zeitschrift blättere oder am Kantinentisch im inzwischen kalt gewordenen Essen herumstochere, versuche ich nicht zum ersten Mal zu verstehen, wann alles anfing und wieso es so enden musste. Wenn dies nicht geschehen wäre, wäre das nicht passiert, und wenn sich das nicht ereignet hätte, hätte es jenes nicht zur Folge gehabt. Es ist eine Endlosschleife, die sich dann in meinem Kopf zu drehen beginnt. Diese Gedanken sind zermürbend, und doch kann ich sie nicht stoppen. Oft halten sie mich nachts wach. Es ist mit den Jahren schlimmer geworden. Ich schlafe zu wenig. Man sieht mir mittlerweile an, dass mich etwas quält. Es fällt mir zunehmend schwer, es vor anderen zu verbergen, insbesondere vor meiner Frau, der ich so viel bedeute. Meine Frau macht sich meinetwegen Sorgen. Sie glaubt, ich stünde kurz vor einem Burnout, weil ich im Büro überlastet sei. Sie redet von Rationalisierung und Arbeitsverdichtung, ist der festen Überzeugung, dass dies noch alle verrückt machen werde. Ich solle mir psychologische Hilfe holen, notfalls den Job wechseln. Es müsse doch noch einen Ort mit erträglichen Arbeitsbedingungen geben. Ich beschwichtige sie. Alles in Ordnung, Schatz. Mach dir keine Sorgen. Mir geht es gut. Ich kann ihr die Wahrheit nicht sagen. Sie würde es nicht verstehen. Und sie würde sich seit Jahren, um nicht zu sagen von Anfang an, hintergangen fühlen, mich sofort verlassen und unsere Tochter mitnehmen. Unsere Tochter, von der ich nicht wollte, dass sie auf die Welt kommt. Ich wollte nie Vater werden. Schon lange hatte ich Bedenken, was ich meinen Kindern vererben könnte. Spätestens, seit du tot bist, weiß ich, dass es das Beste wäre, kinderlos zu bleiben. Meine Frau ist da anderer Ansicht. Sie ist mit vier Geschwistern aufgewachsen, hätte am liebsten selbst eine Großfamilie. Es hat mich viel Mühe gekostet, ihr das auszureden. Lahme Argumente habe ich vorgebracht: Weißt du, was Kinder heutzutage kosten? In diese verrückte Welt willst du Kinder setzen? Ist dir überhaupt bewusst, was für eine Verantwortung wir mit Kindern auf uns nehmen? Meine Frau hat das genauso wenig überzeugt wie mich selbst. Sie spricht ihren Wunsch, mindestens noch ein zweites Kind zu bekommen, weiterhin von Zeit zu Zeit an, doch ich bleibe bei meiner ablehnenden Haltung, die meine Frau nicht nachvollziehen kann. Das würde sich schnell ändern, wenn sie erführe, was ich in mir trage.
Es kommt vor, dass ich meine Tochter heimlich beobachte, während sie draußen im Garten mit ihren Freundinnen spielt oder am Küchentisch ihre Hausaufgaben macht. Ich versuche, erste Anzeichen zu erkennen, erste Hinweise darauf, dass meine Tochter so wird wie ich. Sie macht auf mich einen ganz normalen Eindruck. Eindeutig zu verwöhnt. Das wäre vermutlich anders, wenn sie kein Einzelkind wäre. Schnell beleidigt, wenn sie nicht ihren Willen bekommt. Und launisch. Von einem Moment zum anderen kann sie aus für mich nicht nachvollziehbaren Gründen in Tränen ausbrechen, um Minuten später, nachdem meine Frau beschwichtigend auf sie eingeredet hat, wieder ausgelassen zu lachen. Mädchen seien nun einmal so, meint meine Frau schmunzelnd, wenn ich andeute, dass unsere Tochter alles andere als ein ausgeglichenes Kind ist. Und ich solle einmal abwarten, was erst in ein paar Jahren noch auf uns zukommen werde. Ich sollte mit meiner Frau offen über meine Befürchtungen sprechen. Ich sollte mit ihr über das reden, was einigen aus meiner Familie, darunter meiner Mutter, widerfahren ist. Ich sollte ihr sagen, was mit mir selbst los ist. Doch es ist einfacher, sich einzureden, dass ich mir völlig unnötig Gedanken mache, dass alles in Ordnung ist, dass wir eine ganz normale Familie sind. In jeder Familie gibt es unschöne Geheimnisse. Auch Geheimnisse, die ein Familienmitglied vor den anderen verbirgt. Um die Familie nicht zu zerstören.
Wenn dies nicht geschehen wäre, wäre das nicht passiert, und wenn sich das nicht ereignet hätte, hätte es jenes nicht zur Folge gehabt. Im Grunde genommen ist es unwichtig, den Auslöser zu kennen, denn ändern kann ich den Lauf der Ereignisse sowieso nicht mehr. Aber wenn ich die vergangenen Geschehnisse schon nicht ändern kann, will ich sie wenigstens verstehen. Und so dreht sich die Gedankenspirale endlos weiter. Wenn dies nicht geschehen wäre, wäre das nicht passiert, und wenn sich das nicht ereignet hätte, hätte es jenes nicht zur Folge gehabt ...
1. Kapitel
Wir waren keine Durchschnittsfamilie. Das war mir schon früh klar. Zunächst einmal waren wir weitaus wohlhabender als andere Familien. Die Häuser, in denen meine Klassenkameraden wohnten, waren um einiges kleiner als die weiße zweistöckige Villa, in der ich mit meinen Eltern und meiner ein Jahr jüngeren Schwester Melissa lebte, und in keinem der Gärten meiner Mitschüler gab es einen Swimmingpool wie in unserem. Das Wasser in dem großen Schwimmbecken, in dem mein Vater im Sommer hin und wieder frühmorgens seine Bahnen zog – in der kühleren Jahreszeit bevorzugte er das beheizte Schwimmbecken im Kellergeschoss -, war stets kristallklar, und nicht ein einziges Blatt schwamm auf der Oberfläche, nicht einmal eine tote Fliege. Dafür sorgte der Gärtner, der täglich mehrere Stunden lang vor Ort war, um den Garten, der eher einem Park glich, in Schuss zu halten.
Die Väter meiner Klassenkameraden hatten alle einen ziemlich geregelten Arbeitsalltag. Sie standen morgens früh auf, verließen das Haus, um Versicherungen zu verkaufen, tropfende Wasserhähne zu reparieren, am Fließband Maschinen zusammenzubauen, mit dem Bagger ein schon lange unbewohntes Gebäude abzureißen oder auf dem Fahrrad von Haus zu Haus zu fahren, um Briefe zuzustellen. Rechtzeitig zum Abendessen waren sie wieder zurück. Bei uns war das ganz anders. Mein Vater war ein erfolgreicher Anwalt in einer großen Kanzlei, die Niederlassungen in mehreren deutschen Großstädten hatte, unter anderem in jener, in deren beschaulichem Vorort wir lebten. Mein Vater stand nicht so früh auf wie die Väter meiner Klassenkameraden. Wenn meine Schwester und ich das Haus verließen, um uns auf den Weg zur Bushaltestelle zu machen, saß er noch seelenruhig am Tisch unserer geräumigen, für die Verhältnisse der 1980er Jahre sehr modernen Küche und las den Wirtschaftsteil einer der überregionalen Zeitungen, die er abonniert hatte. Den Rest der Zeitungen pflegte er, genauso wie die durchgelesenen Seiten, neben seinen Stuhl auf den Boden fallen zu lassen, wo die Haushälterin, die ungefähr zwei Stunden später mit ihrer Arbeit beginnen würde, das Papier aufheben und entsorgen könnte, wenn sie die Küche aufräumte. Mein Vater hatte meiner Mutter, die ebenfalls dazu bereit gewesen wäre, die Zeitungen zu entfernen, früh klargemacht, dass sie sich nicht um derart niedrige Aufgaben kümmern solle.
Mein Vater interessierte sich brennend dafür, wie die Aktienkurse in der ganzen Welt standen, welches Unternehmen demnächst mit welchem fusionieren würde, welcher Konzern kurz vor dem Konkurs stand. Die ganze Zeit während des Frühstücks verbarg mein Vater sich hinter einer seiner Zeitungen, während meine Mutter langsam auf ihrer dünn mit Diätmarmelade bestrichenen Toastscheibe herumkaute und nebenbei schweigend die Schulbrote für Melissa und mich zubereitete. Schweigend deshalb, weil mein Vater beim Lesen des Wirtschaftsteils der Zeitungen nicht gestört werden wollte. Wenn er sich auch sonst manchmal mit meiner Schwester und mir unterhielt, mochte er morgens kein albernes, unnötiges Geplapper, wie er es nannte. Das bedeutete auch für Melissa und mich, dass wir unsere Cornflakes, ohne kaum ein Wort zu sagen, zu uns nahmen, um unseren Vater nicht zu verärgern. Dabei ließ sich mein Vater gar nicht schnell verärgern, zumindest zeigte er seinen Ärger nicht auf die Weise, wie es die Väter meiner Schulfreunde taten. Er wurde nicht laut oder gewalttätig. Noch nie hatte ich es erlebt, dass er wie der eine oder andere Vater meiner Klassenkameraden herumgeschrien oder meine Schwester oder mich geschlagen hätte. Schreien und Gewalt seien etwas für Schwächlinge, die nicht intelligent genug zum Argumentieren seien, lautete die Ansicht meines Vaters. Dabei war er ein Meister psychischer Gewalt, wenn mir das damals auch noch nicht bewusst war. Er verstand es, eine stille Autorität auszustrahlen, die niemand infrage stellte, im Gegenteil: Alle, die ihm begegneten, ordneten sich ihm instinktiv unter.
Meine Mutter war ebenfalls eine ruhige Person, wenn auch aus einem anderen Grund. Bevor sie meinen Vater geheiratet hatte, hatte sie nach einem Kunststudium in einem Auktionshaus gearbeitet, wo sie ihr umfangreiches Wissen auf diesem Gebiet nutzen konnte, und Umgang mit wohlhabenden Kunstliebhabern gepflegt. Dort hatte sie auch meinen Vater kennengelernt, der, obwohl er noch am Anfang seiner vielversprechenden Karriere gestanden hatte, schon einmal Ausschau nach nicht zu versteuernden Geldanlagen gehalten hatte, aber erst einige Jahre später, als er schon mit meiner Mutter verheiratet war, hin und wieder Gemälde ersteigerte, von denen er sich eine Wertsteigerung erhoffte. Wenn meine Mutter über die erste Begegnung mit meinem Vater und ihre Arbeit in dem Auktionshaus sprach, was selten vorkam, wurde stets deutlich, wie sehr sie ihre Tätigkeit geliebt hatte und dass sie ihr fehlte. Jedoch beeilte sich meine Mutter jedes Mal zu versichern, dass es für sie kein großes Opfer gewesen sei, ihren Beruf auf Wunsch meines Vaters an den Nagel zu hängen, der eine Frau wollte, die nur für ihn und die zukünftigen Kinder da war und der Familie ein gemütliches Zuhause bot. Anders als es die Mütter meiner Schulkameraden taten, putzte meine Mutter allerdings nicht selbst. Sämtliche unangenehmen Tätigkeiten wurden ihr von einer der beiden Haushälterinnen abgenommen, die täglich abwechselnd zu uns kamen.
Mein Vater sah es auch nicht ein, weshalb die Frau an seiner Seite berufstätig sein sollte, da er selbst doch mehr als genug verdiente. Meine Mutter verbrachte viel Zeit damit, die Zimmer in unserem Haus, die, obwohl sie alle möbliert waren, teilweise nicht genutzt wurden, umzudekorieren. Ein neuer Bodenbelag wurde verlegt, auch wenn der bisherige noch wie neu war, Wände neu tapeziert und gestrichen, Möbel und nicht wertvolle Bilder entsorgt, neue angeschafft und das gesamte Mobiliar immer wieder umgestellt, bis meine Mutter mit dem Aussehen des Raums zumindest für eine Zeitlang zufrieden war. Dann begann sie erneut, einen Renovierungsauftrag zu planen, der der Villa das richtige Flair geben würde. Ständig waren Handwerker in unserem Haus, die anscheinend nie fertig wurden. Dieses ungewöhnliche Hobby meiner Mutter kostete sicher viel Geld, doch davon war ja durch die Arbeit meines Vaters genügend vorhanden. Ich erlebte es nie, dass er die Ausgaben meiner Mutter kritisierte oder sie darauf hinwies, dass es nicht nötig sei, die Zimmerwände fast jährlich neu zu tapezieren. Andererseits zeigte er aber auch keinerlei Interesse an ihren Vorschlägen für eine Verschönerung der Räume. „Du machst das schon“, wiegelte er ab, wenn sie ihm Kataloge mit Farbmustern zeigen wollte, und gab ihr nicht nur auf diese Weise zu verstehen, dass es in seinem Leben weitaus Wichtigeres als Tapetenmaterial und Bodenfliesengrößen gab.
Wenn meine Mutter nicht gerade unser Haus verschönerte oder unserem Gärtner Ideen für die Neugestaltung unseres Gartens unterbreitete, diskutierte sie mit Mitgliedern einer festen Runde, die sich zweimal wöchentlich im Gemeindehaus traf, über philosophische Themen wie den Sinn des Lebens. Und sie widmete sich Wohltätigkeitsprojekten. Gern organisierte meine Mutter zusammen mit Mitgliedern des Diskussionskreises Basare, deren Einnahmen einem Kinder- oder Tierheim gespendet werden sollten. Sie half mit, Lebensmittel für eine Suppenküche zu sammeln, die Bedürftige mit Mahlzeiten versorgte. Und in der Vorweihnachtszeit ging sie mit ihren Diskussionskreisfreunden von Tür zu Tür, berichtete denen, die ihr öffneten, vom Elend in der Welt und bat um Geldspenden für arme Länder.
Meiner Schwester Melissa und mir pflegte meine Mutter mit Begeisterung von erfolgreichen Basaren und Spendenaktionen zu berichten, die ihr so viel bedeuteten. War mein Vater anwesend, was selten vorkam, sprach sie diese Dinge nicht an. Hatte sie dies anfangs noch getan, hatte die Art, mit der mein Vater bei solchen Themen seine Augenbraue hob, sie bald gelehrt, dass es besser sei, stattdessen zusammen mit Melissa und mir höflich zuzuhören, wenn mein Vater von dem erfolgreichen Abschluss eines Mandats erzählte, wobei meine Schwester und ich wegen der vielen Fachtermini, die mein Vater dabei verwendete, kaum ein Wort verstanden.
In den zehn Jahren ihrer bisherigen Ehe hatte es mein Vater auf subtile Art erfolgreich geschafft, das Selbstbewusstsein meiner Mutter zu untergraben, ihr das Gefühl zu geben, sie könne froh sein, dass er überhaupt jemanden wie sie, die offensichtlich so weit unter seinem eigenen Niveau war, zur Frau gewählt hatte. Je älter ich wurde, desto klarer wurde mir, dass er zu dieser Zeit überhaupt kein Interesse an einer starken Frau hatte. Mein Vater wollte damals jemanden an seiner Seite, der ihn bewunderte, dem er ständig seine Überlegenheit demonstrieren konnte. Er hingegen behandelte meine Mutter all die Jahre mit emotionaler Kälte, bis er ihrer irgendwann überdrüssig war und in ihr wohl nur noch ein lästiges Anhängsel sah, das es loszuwerden galt. Ich erfuhr nie, was wirklich in meiner Mutter vorging, als mein Vater sie für eine andere, selbstbewusstere Frau verließ, und zwar genau zu dem Zeitpunkt, als meine Mutter ihn am meisten gebraucht hätte.
Solange ich mich zurückerinnern kann, tat meine Mutter alles, um den hohen Ansprüchen meines Vaters gerecht zu werden. Dazu gehörte auch, dass sie auf nahezu krankhafte Weise auf ihre Figur achtete. Meine Mutter maß einen Meter achtzig und war damit fast so groß wie mein Vater. Sie hatte rotblondes kurzes Haar, das sie, wie es zu der Zeit Mode war, zu einer bauschigen Frisur föhnte, und hellbraune Augen. Ihre Nase war etwas spitz. Trotzdem war sie meiner Ansicht nach eine sehr schöne Frau. Wie ich von alten Fotos wusste, war meine Mutter schon als junges Mädchen schlank gewesen. Trotzdem bildete sie sich ein, überflüssige Pfunde verlieren zu müssen, und hielt sich daher ständig streng an irgendwelche Diäten, die sie einer der Frauenzeitschriften, die sie gern las, entnommen hatte und die völlig unrealistische Abnehmerfolge in kürzester Zeit versprachen. Nach dem Ende einer solchen Diät hatte meine Mutter die mühsam verlorenen Pfunde nach eigener Aussage schnell wieder zugenommen – man sah es ihr nämlich keineswegs an – und musste die nächste Diät beginnen, um der „Verfettung“, wie sie es nannte, Einhalt zu gebieten. Nicht zuletzt aufgrund ihrer schlanken Figur hatte meine Mutter auch eine ihrer Ansicht nach zu geringe Oberweite, über die sie sich meinem Vater gegenüber so lange beklagte, bis er ihr zum zehnten Hochzeitstag endlich eine kostspielige Brustvergrößerung bei einem bekannten Schönheitschirurgen schenkte.
Meine zu der Zeit achtunddreißigjährige Mutter war, nachdem die Verbände endlich abgenommen worden waren, überglücklich über ihre neuen Brüste und den anerkennenden Kommentar meines Vaters: „Die Investition hat sich gelohnt. Du siehst aus wie neu.“
Ich hingegen fand, dass meine Mutter fortan aussah, als hätte sie sich zwei Orangen unter ihr Oberteil gesteckt, wenn ich mich auch davor hütete, das laut auszusprechen. Meine Mutter war nämlich keine sehr kritikfähige Person. Ein falsches Wort über ihre neuen Brüste, wenn auch im Scherz, und sie wäre am Boden zerstört gewesen.
Dass mein Vater die nunmehr umfangreichere Oberweite meiner Mutter zu schätzen wusste, hielt ihn jedoch nicht davon ab, weiterhin seinen außerehelichen Affären nachzugehen, ein Hobby, das ihm fast genauso wichtig war wie seine zeitintensive Tätigkeit als Anwalt und bei dem er sich nicht besondere Mühe gab, es vor seiner Frau zu verbergen. Mein zu der Zeit neununddreißigjähriger Vater hatte dunkelblondes Haar, das bereits Geheimratsecken erkennen ließ, und graue Augen, die mitunter sehr kalt, insbesondere der Damenwelt gegenüber aber auch sehr charmant, wirken konnten. Er war ein attraktiver Mann mit einer sportlichen Figur, noch dazu sehr erfolgreich, und das nutzte er gegenüber jüngeren Frauen, die ihn vorrangig interessierten, gnadenlos aus. Mehr als einmal klingelte bei uns zu Hause das Telefon, und wenn meine Mutter, Melissa oder ich uns meldeten, wurde wortlos aufgelegt. Ging mein Vater, wenn er denn einmal zu Hause war, an den Apparat, beendete er das Telefonat oft mit einem Satz wie „Ich kann jetzt nicht“ oder „Ich rufe dich später zurück“. Anschließend kehrte er zurück zu uns an den Esstisch oder vor den Fernseher, als wäre nichts gewesen. Mein Vater hatte aufgrund seines Berufs sowieso lange Arbeitstage. Manchmal kam er abends, bevor Melissa und ich im Bett waren, nach Hause, um anschließend noch einmal zu einem Termin aufzubrechen. Meistens schliefen meine Schwester und ich jedoch schon längst, wenn mein Vater spätabends aus dem Büro oder von einer seiner Geliebten zurückkehrte.
Oft merkte ich nur an der Traurigkeit meiner Mutter am nächsten Tag, dass zwischen ihr und meinem Vater etwas vorgefallen war. Dass er sie offensichtlich regelmäßig betrog, erfuhr ich kurz vor meinem neunten Geburtstag, als ich mitten in der Nacht erwachte und meine Eltern aufgrund der offensichtlich nicht geschlossenen Tür ihres Schlafzimmers, das schräg gegenüber von meinem Zimmer lag, streiten hörte.
„Die Sitzung hat eben länger gedauert als erwartet“, teilte mein Vater meiner Mutter sachlich mit. „Ich habe dir ja gesagt, dass es spät werden kann.“
Es war ihre vor Aufregung schrille Stimme, die mich geweckt hatte. „Bis zwei Uhr nachts?“, fragte sie. „Du willst mir ernsthaft weismachen, dass ihr bis zwei Uhr nachts verhandelt habt?“
„Ja, bis zwei Uhr nachts. So ist das nun mal in Vertragsverhandlungen.“ Der Tonfall meines Vaters wurde zunehmend gereizt. „Oder erwartest du etwa, dass ich einfach aufstehe und allen anderen mitteile, ich müsse jetzt leider nach Hause, weil meine hysterische Frau sonst durchdreht?“
„Du bist herzlos“, schniefte meine Mutter. „Herzlos und gemein.“ Dann nach einer kurzen Pause: „Wie heißt sie?“ Als mein Vater nicht darauf antwortete, wiederholte meine Mutter in einem unangenehm keifenden Tonfall: „Wie sie heißt, habe ich dich gefragt! Und ist es wieder so eine Junge wie beim letzten Mal?“ Weinend fuhr meine Mutter fort: „Ist es wieder so ein blutjunges Ding, mit dem du mich betrügst?“ Mein Vater dachte offenbar nicht daran, sich weiter an dem Gespräch zu beteiligen. Meine Mutter flehte: „Bitte sprich mit mir, Konrad! Bitte, bitte, sprich mit mir! Sag mir, was ich anders machen soll, damit du nicht mehr zu anderen Frauen gehst. Sag mir, wie ich dich glücklich machen kann.“
Das Geräusch der Schlafzimmertür, die energisch geschlossen wurde, und Schritte auf dem Flur verrieten mir, dass mein Vater in dieser Nacht nicht zum ersten Mal in einem der Gästezimmer schlafen würde.
Nach solchen Vorfällen kam mir meine Mutter jedes Mal wie ein Roboter vor, was sicherlich daran lag, dass sie, um mit der erniedrigenden Situation fertigzuwerden, irgendein Beruhigungsmittel einnahm. Sie stand pflichtbewusst auf wie immer, saß mit uns am Frühstücktisch, während mein Vater sein Gesicht hinter einer seiner Zeitungen verbarg, schmierte Schulbrote für Melissa und mich und bestand wie immer darauf, meine Schwester und mich, wenn es Zeit war, zur Bushaltestelle aufzubrechen, bis an die Straße zu begleiten, von wo sie uns nachsah, bis wir die Bushaltestelle, die sich in Sichtweite von unserem Grundstück befand, erreichten und in den Bus, der einige Minuten später eintraf, einstiegen. Während der ganzen Zeit hatte meine Mutter jedoch einen leeren Blick und einen traurigen Gesichtsausdruck. Oft legte sie sich an solchen Tagen, nachdem sie gemeinsam mit Melissa und mir zu Mittag gegessen hatte, wobei meine Mutter die meiste Zeit in dem von der Haushälterin zubereiteten Essen herumzustochern pflegte, statt es zu sich zu nehmen, ins Bett. Der Haushälterin, meiner Schwester und mir teilte sie nur mit, sie fühle sich nicht wohl und müsse sich dringend ausruhen. Mir als dem Älteren trug sie auf, darauf zu achten, dass meine Schwester und ich sorgfältig unsere Hausaufgaben erledigten, bevor wir spielen gingen. Dann stand sie vom Esstisch auf und begab sich wie eine Schlafwandlerin in den ersten Stock, wo sich das Schlafzimmer meiner Eltern befand. Unsere Haushälterin Frau Hubertus, zu der Zeit eine etwa fünfzigjährige Frau, die stets dieselbe Jeans und dazu einen ihrer drei Pullover trug, sah unserer Mutter mit einem vielsagenden Blick nach, bevor sie Melissa und mir mit den aufmunternden Worten Mut zu machen versuchte: „Wenn ihr bei euren Hausaufgaben was nicht versteht, könnt ihr ruhig mich fragen. Ich weiß nicht, ob ich euch helfen kann, aber ich versuch‛s.“
Melissa nahm es stets genauso sehr mit wie mich, wenn bei uns der Haussegen schief hing und meine Mutter sich in dieser beunruhigend melancholischen Stimmung befand. Im Sommer 1984, als sich mein Leben schlagartig änderte, war meine Schwester acht und ich neun Jahre alt. Nach Melissas Ansicht waren wir fast Zwillinge und sollten gleichrangig behandelt werden, doch ich bestand darauf, dass ich ihr älterer Bruder sei, entsprechend respektiert werden müsse und bestimmen dürfe, was gemacht wurde. Ich mochte meine Schwester. Es war vermutlich etwas ungewöhnlich, wenn ein neunjähriger Junge so von seiner Schwester dachte, und ich bemühte mich daher, Melissa stets mit einer gewissen Herablassung zu behandeln, genauso wie es mein Vater gegenüber meiner Mutter tat. Doch ich mochte meine Schwester. Ich mochte sie wirklich. Und nur deshalb ließ ich mich an Tagen wie diesen, an denen meine tieftraurige Mutter nicht mehr die Energie aufbrachte, sich um meine Schwester und mich zu kümmern, dazu herab, nach den Hausaufgaben mit Melissa ihr Lieblingsspiel zu spielen: „Prinzessin und Aristokrat“. Es war ein völlig dämliches Spiel, das sich meine Schwester selbst ausgedacht hatte. Sie spielte natürlich die Prinzessin. Dafür zog sie ein langes Rüschenkleid aus einem rosafarbenen glänzenden Stoff an, das sie zwei Jahre zuvor beim Fasching getragen hatte und ihr nun bereits etwas zu klein war, positionierte eine goldfarbene Krone aus irgendeinem billigen Leichtmetall auf ihrem Kopf, nachdem sie ihr langes dunkelblondes Haar sorgfältig gebürstet hatte, hängte sich ihre „Prinzessinnentasche“ - eine kleine Handtasche aus türkisfarbenem Kunstleder, die mit vielen bunten Glassteinen verziert war - um, und nahm auf einem rosafarbenen Kinderstuhl Platz, den sie auf ihr Bett gestellt hatte und der ihren Thron darstellte. Bei der ganzen Vorbereitungsprozedur durfte ich nicht dabei sein, sondern wurde erst gerufen, wenn es für Melissa Zeit war, auf ihr Bett zu steigen und sich auf ihren Thron zu setzen. Ich hatte mir derweil eine Wildlederweste – Teil des Kostüms einer Faschingsfeier, bei der ich als Cowboy gegangen war – über mein Oberteil übergezogen und trug den dazugehörigen Cowboyhut, da dies die mir verfügbaren Accessoires waren, die einer Aristokratenkleidung meiner Ansicht nach am nächsten kamen und Melissas vollste Zustimmung fanden.