Tote Weinbergschnecken schleimen nicht

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Tote Weinbergschnecken schleimen nicht
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Janet Borgward

Tote Weinbergschnecken schleimen nicht

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Nachwort

Danksagung

Bisher von Janet Borgward erschienen

Literaturnachweis

Impressum neobooks

Kapitel 1

Tote Weinbergschnecken

schleimen nicht

Für

Hedwig, Friedlinde und Erwin

Wein,

weil keine gute Geschichte

je mit einem Salat begann.

Marie behielt von ihrem Wohnzimmerfenster aus die Straße fest im Blick. In der Ferne zeichneten sich die Vogesen in einem milchigen Graugrün gegen den strahlend blauen Himmel ab. Das spätsommerliche Wetter hielt sich. Gut für die bevorstehende Weinlese.

Dies war allerdings nicht der einzige Grund für ihren fokussierten Blick. Mit Spannung erwartete sie die neue Kommissarin. Ihr erster Gast, seit dem Umbau des Hauses, und nachdem ihr Mann bäuchlings die Treppenstufen hinuntergesegelt war. Nicht das erste Mal, aber zum letzten Mal – mit knapp drei Promille im Blut.

Marie hatte sich gegen den Willen ihrer Eltern durchgesetzt. Die beiden Wohnungen in ihrem Haus hatte sie nach eigenen Vorstellungen umbauen lassen. Sie brachten ihr ein zusätzliches Einkommen, da sie die Schulden ihres trinkfreudigen Gatten – Gott hab ihn selig – erdrückten.

Ihre Eltern zeigten keinerlei Empathie für ihren Wunsch nach Selbstbestimmung. Für ihren Vater grenzte es bereits an Verrat, dass ihr langjähriger Stammgast, Hauptkommissar Theo Conrads, Marie den ersten Feriengast vermittelte. Dabei blendete er aus, dass es in ihren alten Wohnungen über der ehemaligen Scheune zog, dass der Luftzug die Kerzen ausblies und der Geruch von Moder allgegenwärtig war.

Erst recht widersetzte er sich Maries Vorschlag, eine der beiden renovierungsbedürftigen Ferienwohnungen für die polnische Pflegerin herrichten zu lassen. Gleich vom ersten Tag an hatten sie sich gegen diese Person gesträubt und energisch betont, auf deren Hilfe nicht angewiesen zu sein. Wozu sonst hätten sie eine Tochter in die Welt gesetzt? Marie blieb beharrlich. Die Pflegekraft zog in die unrenovierte Wohnung über der Scheune und kümmerte sich hingebungsvoll um ihre Eltern. Ein beträchtlicher Triumph. „Pass gut auf sie auf“, erinnerte sich Marie an das Telefonat mit Theo. „Sie ist eine ausgezeichnete Kommissarin und die perfekte Besetzung für die freigewordene Stelle vom Karl. Aber wir müssen sie erst noch ein wenig aufmuntern.“ Was genau er darunter verstand, und wie das wir einzuordnen war, ließ er offen. Marie würde sich selbst ein Bild von der Kommissarin machen. Ein auf Hochglanz polierter schwarzer Mini hielt auf dem Gästeparkplatz. Sie straffte die Schultern und nahm die Düsseldorferin in Empfang. „Daag. Haben Sie gut hergefunden?“ „Ja, vielen Dank.“ Hektisch griff die Rheinländerin ihre Schultertasche, die auf dem Beifahrersitz gelegen hatte, und wischte sich mit dem Handrücken über die schweißnasse Stirn. Gehetzt legte sie die Rückenlehne des Fahrersitzes um und zerrte fluchend eine prall gefüllte Klappkiste vom Rücksitz. „Darf ich Ihnen behilflich sein?“, bot sich Marie an. „Es-geht-schon“, stieß sie hervor und wand sich umständlich aus dem Inneren ihres Wagens. Eine Schachtel löste sich aus dem Gepäck und rutschte unaufhaltsam auf den Boden. Eine Flut Glanzbilder mit Motiven von Feen, Blumen und Engeln verstreuten sich auf dem Asphalt. Marie ging in die Hocke, um ihr beim Aufsammeln behilflich zu sein. „Ich mache das schon“, zischte sie und las hastig die Bilder auf, bevor Marie sie zu fassen bekam. „Sind Sie die neue Kommissarin?“ „Cara Goldmann. – Ich bin zu meinem Vergnügen hier. Und Sie sind?“ „Marie Steiert. Sie känne die Färiewohnig im erschte Schtock haa. – E furchtbari Gschicht, wo dem Erchinger Karl do bassiert isch“, ging sie ohne Überleitung zum Kernthema über, das ganz Lausgrott derzeit beschäftigte: Der plötzliche Tod des bisherigen Kommissars der Wache. „Tut mir leid, den kenne ich nicht“, antwortete Cara zerstreut. Sie hatte kaum etwas von dem Dialekt geprägten Redeschwall verstanden. „Ich würde gerne mein Gepäck nach oben bringen, um aus der schweißtreibenden Sonne zu kommen“, fügte sie mit Nachdruck hinzu, da Marie Steiert offenbar nicht über die nötige Sensibilität verfügte, dies zu erkennen. „Karl Erchinger“, bemühte sich Marie nun auf Hochdeutsch. „Wegen dem sind Sie doch hier. Oder?“ „Ich verbringe meinen Urlaub hier. Gibt es im Ort eine Einkaufsmöglichkeit?“, wechselte Cara das Thema. „Nein, aber einen Edeka in Breisach.“ Sie hielt ihr einen Schlüsselanhänger aus Filz mit dem Aufdruck Willkommen in Lausgrott entgegen, an dem zwei Schlüssel baumelten. „Die Wohnung ist frisch renoviert worden.“ Sie reckte den Hals, um einen Blick ins Innere des Minis zu erhaschen. „Falls Sie irgendetwas benötigen, klingeln Sie. Ich wohne gleich nebenan.“ Marie lächelte gewinnend, wobei sich Fältchen um ihre Mundwinkel herum bildeten. Cara war abgespannt und darauf bedacht, möglichst rasch ihre Ferienwohnung beziehen zu können. Sie mühte sich mit ihrer Klappkiste ab, auf der das Kästchen mit den Glanzbildern wieder gefährlich in Schieflage geriet. Kaum dass Marie die Tür aufgeschlossen hatte, stellte sie ihr Gepäck ab. Auf dem Esstisch hießen sie eine Flasche Weißwein aus der Region sowie Mineralwasser und ein Gugelhupf willkommen. Die Geste schien sie versöhnlicher zu stimmen, wie ein knappes Hochziehen ihres Mundwinkels vermuten ließ. Sie zog die cremefarbigen Gardinen auf und trat auf den Balkon hinaus. Marie folgte ihr. Rechts kletterten Rebstöcke terrassenförmig in akkuraten Reihen den Weinberg hinauf, links lud das verwaschene Grün schattenspendender Bäume zu einer Wanderung am Fuße des Schwarzwaldes ein. Voraus zeichneten sich die Konturen der Vogesen ab. Cara sog die nach überreifen Früchten duftende Luft ein. „Gefällt’s Ihnen?“, fragte Marie. Ein Traktor fuhr knatternd mit gefährlich schwankenden Fässern auf dem Anhänger vorbei. Cara löste sich von dem liebreizenden Idyll und verzog säuerlich die Mundwinkel. „Die Aussicht ist …“ Sie brach ab und ihr Blick blieb auf dem umgegrabenen Erdreich der Ferienwohnung unter ihr haften. Aufeinandergestapelte Steinplatten mit einer Rüttelmaschine daneben. „Sie sanieren?“ „Die Arbeiten sind bis auf die Terrasse abgeschlossen.“ Cara sah ihre Vermieterin irritiert an. „In Ihrer Bestätigungsmail stand nichts von Umbauarbeiten.“ „Es müssen nur noch die Terrassenfliesen gelegt werden“, versicherte ihr Marie. „Ich wünsche Ihnen eine erholsame Zeit bei uns in Lausgrott.“ Besser, Marie ließ ihr Zeit, damit sie sich akklimatisierte. Sie hatte zahlreiche Gäste in den beiden Ferienwohnungen ihrer Eltern betreut. In den letzten Jahren vorwiegend ohne deren Unterstützung, da sie aufgrund ihres hohen Alters und ihrer körperlichen Verfassung lediglich zu delegieren vermochten. Marie kannte sich aus mit Menschen und ihren Eigenheiten. Mit Cara Goldmann beherbergte sie keinen unkomplizierten Gast unter ihrem Dach. Mal ehrlich: Welche Kriminalbeamtin befasste sich mit Glanzbildern? Dieses kindliche Hobby passte nicht zu dem Bild, das sie von einer Kommissarin hatte, die aus einer Großstadt kam. Ihr unstetes Verhalten dagegen, die unterschwellige Gereiztheit entsprachen eher jemandem, der, der … Sie sollte damit aufhören, die Personen in ihrem Umfeld zu analysieren. Du bist Winzerin, Marie. Was kümmert’s dich da, wie es in den Köpfen der Menschen ausschaut?, erinnerte ihre Mutter sie in einem ewigen Mantra an die ihr vorbestimmte Rolle. Wenn du Menschenkenntnis besäßest, setzte ihr Vater abfällig nach, wärst du nicht auf so einen wie deinen trunksüchtigen Mann hereingefallen.Hätte, wäre, wenn. Eine in Lausgrott geborene Frau wurde Winzerin, heiratete einen Winzer und bekam Kinder, die den elterlichen Winzerhof übernahmen. Hätte man den richtigen Partner an seiner Seite, wäre dies eine erfolgversprechende Aussicht gewesen. Wäre der Gatte nicht selbst sein bester Kunde, wäre der Hof nicht mit samt der Schnapsbrennerei in die Luft geflogen. Wenn sie damals eine andere Wahl gehabt hätte … Sie zwang sich, die deprimierenden Erinnerungen aus ihrem Gedächtnis zu verbannen. All das war lange her. Inzwischen kannte sie die Menschen besser.

 

Kapitel 2

Cara Goldmann öffnete die Eingangstür des Reblaus Stüble. Würzige Aromen von Speck und Flammkuchen stiegen ihr in die Nase. Sofort knurrte ihr Magen unüberhörbar. Sie hatte seit dem Frühstück außer einer Kanne Kaffee nichts mehr zu sich genommen. An der Theke hockten drei Männer bei einem Schoppen Wein und unterhielten sich angeregt. Die Tische waren mit lachenden und schwatzenden Gästen besetzt. Seufzend ließ sie sich an dem einzigen freien Tisch mit Blick auf den gesamten Schankraum nieder. „Noowe, was darf ich Ihnen bringen?“, fragte der Wirt, ein hagerer Mittsechziger, der ebenso unverständlich sprach wie ihre Vermieterin Marie. Ratlos sah sie von der übersichtlichen Speisekarte auf. „Was empfehlen Sie mir?“ „Ist Freitag, da gibt’s Leberle sauer mit Brägele“, pries er an, soweit sie das seinem badischen Dialekt korrekt entnahm. „Dann nehme ich das. Und dazu …“ Sie fuhr mit einem bis auf das rohe Fleisch heruntergekauten Fingernagel die Getränkekarte entlang. Altbier würde sie hier vergeblich suchen. „Haben Sie ein dunkles Bier?“ „Nein. Wir haben ein helles Tannenzäpfle.“ Natürlich. Wie dumm von ihr. Sie befand sich in einem Weindorf. „Dann bitte ein Glas Spätburgunder“, entschied sie. Zumindest las sich die Beschreibung des prämierten Weines mit der Abbildung der lächelnden Weinkönigin Emilia daneben malerisch: Vollmundig und samtig, mit einem fruchtigen Aroma und Nuancen von Mandel und Kirschen. „Also a Leberle sauer und a Viertele Spätburgunder“, wiederholte der Wirt und verschwand in die Küche. Cara sah sich um. Der ansteigende Geräuschpegel behagte ihr nicht. Eine vollbesetzte Dorfkneipe an einem Freitagabend aufzusuchen, schien nicht gerade eine ihrer besten Ideen zu sein. Sie sehnte sich nach Ruhe und Entspannung. Ihre Fehlentscheidung bestätigte sich beim Eintreffen zweier Burschen. Die Gespräche verstummten. Ärger lag in der Luft! Mit selbstgefälligem Grinsen quittierten die beiden die Reaktionen der Gäste. Ihre brandroten Lederjacken aus feinstem Nappaleder mit geriffeltem Muster an Schultern und Armen trugen sie wie eine Rüstung. „Ist hier noch frei?“, fragte einer der beiden mit Blick auf die unbesetzten Stühle an Caras Tisch und ließ sich unaufgefordert nieder. Cara spannte ihren Körper an und war sofort hochkonzentriert. Zögerlich setzten die Gespräche wieder ein. Verhaltener, wie es schien. Der Wirt brachte Caras Wein und funkelte die Neuankömmlinge an: „Ihr habt hier Hausverbot, Wackes.“ „Wir wollen nur ein Viertele von deinem Emilia Spätburgunder probieren. Quasi zum Vergleich.“ „Dann sind wir praktisch schon wieder weg“, setzte der andere hinzu. „Hier bekommt ihr keine Weinprobe. Und jetzt raus mit euch!“ „Bemüh dich nicht, Linder. Ich habe den passenden Wein schon gefunden.“ Unbeeindruckt von dem unmissverständlichen Rauswurf griff der Kerl nach ihrem Glas. „Sie erlauben?“ Cara versuchte, seinen Arm festzuhalten. „Ja geht’s noch?“, fuhr sie ihn an. Er setzte es frech an die Lippen und trank einen großzügigen Schluck. Angewidert stellte er das Glas zurück. „Das nennst du vollmundig und samtig, Linder?“ Cara protestierte, aber der Bursche beachtete sie nicht. Stattdessen trieb er den Streit mit dem Wirt voran. „Ich verstehe beim besten Willen nicht, wieso der“, er deutete mit dem Zeigefinger auf Caras Glas, „ein Prädikat erhalten hat und unserer nicht. Muss man den richtigen Kellermeister kennen?“ Die Gesichtsfarbe des Gastwirts wechselte von rot zu aschfahl. „Verschwindet oder …“ „Was sonst, hm?“ „…rufe ich die Polizei“, presste er mühsam beherrscht hervor. „Meinst du damit die beiden Pfeifen aus dem Rosengässle?“ Er zuckte vielsagend mit den Schultern. „Denn mit dem Erchinger Karl ist ja wohl eher nicht zu rechnen.“ Eine Augenbraue hob sich in die Höhe. Cara stöhnte innerlich auf. Gleich am ersten Abend im Brennpunkt einer dörflichen Auseinandersetzung zu sitzen, entsprach nicht ihrer Vorstellung von einer erholsamen Auszeit. Sie wollte sich in die Diskussion einbringen, da wandte sich der Bursche an sie. „Ich empfehle einen Pinot Noir. Hat mehr …“, er bedachte sie mit einem abfälligen Blick. „Körper und enthält eine harmonische Säure. Sollten Sie probieren. Die fruchtigen Aromen überzeugen.“ In einer fließenden Bewegung zog er einen Zehn-Euro-Schein aus seiner Jackentasche und knallte ihn auf den Tisch. Feindliche Blicke folgten den Burschen beim Verlassen des Lokals. Langsam fiel die Anspannung von Cara ab. Was war hier los? Rebellion der Dorfjugend oder steckte mehr dahinter? Cara zwang sich, ihre kriminalistischen Instinkte auszuschalten. Sie hatte Urlaub. „Ich nehme nochmals ein Glas von dem Emilia Spätburgunder“, gab sie sich unbeeindruckt. Der Wirt murmelte eine Entschuldigung und verschwand für den Rest des Abends in der Küche. Statt seiner kam kurze Zeit später eine jüngere Ausgabe von ihm heraus. „Geht aufs Haus“, entschuldigte er sich mit einer Karaffe blutroten Weines. „Ist mit Ihrem Vater alles in Ordnung?“, versuchte Cara in Erfahrung zu bringen. Er schien nicht für Erklärungen aufgelegt zu sein und äußerte etwas, das sich anhörte wie „Essen kommt gleich.“ Mit hängenden Schultern nahm er weitere Bestellungen an den Nachbartischen auf, woraufhin eine hitzige Debatte entbrannte. Leider des Badischen nicht mächtig verstand Cara den dortigen Wortwechsel kaum. „Wie känne die s Wooge, do her z Kumme“, schimpfte einer der Gäste. „Dass dü des zulossesch, mit diinere Schweschter“, ein anderer. „Es ist ihr Leben“, nahm er sie in Schutz. „Joo, des wird de Schponsore nit gfalle.“ Er schüttelte den Kopf und verschwand geschäftig hinter den Tresen. Verstohlen drehte sich der ein oder andere zu dem fremden Gast um. Die Diskussion wurde nun verhaltener fortgesetzt. Die Kommissarin blendete ihre Gespräche aus und beschloss, den kulinarischen Leckerbissen auf ihrem Teller sowie den köstlichen Wein zu genießen. Gar nicht übel, wenn sie bedachte, dass ihr Gaumen an die herbe Note von Altbier gewöhnt war. Von Wein verstand sie nichts. Für sie gehörte zu einem deftigen Essen frisch gezapftes Alt. Darauf würde sie vorerst verzichten müssen. Bei dem vorzüglichen Menü und den adäquaten Preisen im Reblaus Stüble würde ihr das nicht schwerfallen. Sie hätte es denkbar schlechter treffen können. Auch wenn sie keinerlei Schuld an der Situation traf, in der sie sich befand. Ja, sie war überarbeitet und ja, sie hatte überreagiert bei ihrem letzten Einsatz in dem Bordell Hinter dem Bahndamm, Düsseldorfs historischem Freudenhaus, mit seinen nummerierten Fenstern. Nachdem alles, wirklich alles schiefgelaufen war bei diesem Polizeieinsatz. Angefangen von der Unfähigkeit Caras Kollegen am Tatort, Verstärkung zu rufen. Gefolgt von seinem unzusammenhängenden Gestammel in Bezug auf den Tathergang bis hin zu den Abdrücken der Sneakers Größe 38 in der Blutlache von der Tussi der Spurensicherung. Das brachte das Fass zum Überlaufen und sie war ausgerastet. Es brauchte lange, wirklich lange, um sie aus der Ruhe zu bringen. Das vorausgegangene, unerfreuliche Gespräch beim Scheidungsanwalt mochte die Lunte ihres emotionalen Pulverfasses gelegt haben. Wer wäre da nicht aus der Haut gefahren? Es rechtfertigte nicht ihre Versetzung in dieses Kaff hier. Urlaub – vielleicht. Hier arbeiten? Leben? Niemals. Sie wusste nicht, wie Theo es angestellt hatte, sie hierher zu verbannen, aber sie wollte wieder Politesse sein, wenn sie das nicht herausfand. „Darf es noch etwas sein?“ Inzwischen war sie der letzte Gast. „Wer waren die beiden Unruhestifter von soeben?“, stellte sie gewohnheitsmäßig eine Gegenfrage und schob den leeren Teller beiseite. „Zugezogene aus dem Elsass“, antwortete er abfällig. „Schauen die hier öfter vorbei?“, bohrte sie weiter. Die Kiefer des Mannes mahlten aufeinander, seine Augen wurden schmal. „Ich hoffe, das war das letzte Mal. Haben Sie noch einen Wunsch?“ „Die Rechnung bitte. Und – es hat ausgezeichnet geschmeckt.“ Kaum, dass sie das Lokal verlassen hatte, wurde die Tür hinter ihr verriegelt und das Licht gelöscht. Stille legte sich über Lausgrott.

Kapitel 3

Unsanft wurde Cara von Bauarbeiten aus dem Schlaf gerissen. Mit verstrubbelten Haaren stürmte sie auf den Balkon hinaus. Der Fluch, den sie auf den Lippen hatte, verpuffte ungehört im Baulärm. Unter ihr stand Marie und beaufsichtigte die fortschreitenden Arbeiten an der Terrasse. Samstags um acht Uhr in der Früh.

„Guten Morgen, Frau Goldmann. Haben Sie heute schon etwas geplant?“, rief Marie in der entstandenen Arbeitspause energiegeladen nach oben.

„Können Sie mir etwas Ruhiges empfehlen?“, erwiderte sie bissig, anstatt sich für den Willkommensgruß mit Gugelhupf und Wein zu bedanken.

Offenbar wusste die undankbare Städterin die Gastfreundschaft des hiesigen Landstrichs nicht zu würdigen. Mit jeder Pore verströmte sie eine Aura negativ geladener Energie. Ihre heruntergekauten Fingernägel mit den wunden Rändern erzählten ihre eigene Geschichte. Von ungelösten Konflikten, körperlicher Anspannung und akutem Stress. Vielleicht hatte Theo das gemeint, als er Marie auftrug, sie solle gut auf die Kommissarin aufpassen. „Sie könnten eine Wanderung durch die Weinberge unternehmen“, schlug sie unbeeindruckt vor. „Gleich hinterm Haus führt ein malerischer Rundweg entlang. Nachmittags könnten Sie auf einen Kaffee bei mir vorbeikommen.“ Vielleicht reagierte Frau Goldmann gelassener auf die sie umgebende wunderschöne Weinregion, wenn sie ein Streifzug unternähme. Die Hände in die Seiten gestemmt sah Marie abwartend zu ihr hoch. „Danke für den Tipp und die Einladung“, presste Cara mühsam beherrscht hervor. Für sie klang jedes Wort aus Maries Mund wie ein Einheitsbrei aus Scht-Lauten. Marie wies mit dem Daumen zustimmend nach oben. Mit dem wieder einsetzenden Hämmern auf die Steinplatten verschwand Cara hektisch ins Wohnungsinnere.

Um den lärmenden Bauarbeiten zu entkommen, befolgte Cara Maries Ausflugstipp. Zähneknirschend gestand sie sich ein, dass mit jedem Schritt die Anspannung von ihr wich.

Bald ließ sie die terrassenförmige Landschaft hinter sich. Der stetig ansteigende Pfad führte wie ein Tor zu einer anderen Welt hinein in einen Wald aus Eichen, Hainbuchen und Feldahorn. Die vorherrschende Ruhe breitete sich wie Medizin in ihrem Inneren aus. Valium für ihre überstrapazierten Nerven. Keine Menschenseele kreuzte den Weg.

 

Für die Mühen des Aufstiegs wurde sie nach einer Wegbiegung mit einer imposanten Aussicht belohnt. Vor ihr breitete sich ein Gebiet aus, das zur Linken die schemenhaften Höhen des Schwarzwaldes aufwies, wohingegen sich voraus die Vogesen graublau abzeichneten. Ansonsten dominierte das satte Grün der Weinberge. Der erdige Geruch von feuchtem Waldboden wurde übertüncht von gemähtem Gras und überreifen Früchten.

Cara ließ sich entspannt auf den Rasen nieder und genoss das Panorama. Versonnen streifte sie den unvorteilhaften Cityrucksack ab, dessen schmale Riemen ihr bereits nach der kurzen Wanderung in die Schultern schnitten. Sie hob eine winzige Wasserflasche aus ihrem Proviant an die Lippen und schloss genüsslich die Augen. Für den Moment mit sich und der Welt zufrieden.

Mit bleierner Müdigkeit öffnete sie die Augenlider einen Spalt breit und richtete sich wieder auf. Geblendet von dem gleißenden Sonnenlicht, betrachtete sie die Mannigfaltigkeit des Areals, bis etwas ins Zentrum ihres Interesses rückte, was das malerische Bild jäh zerstörte.

Eine Schneise durchbrach die ansonsten akkuraten Linien der Weinreben unter ihr, wie ein hindurchgefegter Tornado. Cara sprang auf. Zu schnell für ihren Kreislauf. Schwankend registrierte sie aus dem Augenwinkel, wie eine monströse Erntemaschine in einem dieser Wege verschwand, die links und rechts von meterhohen Böschungen gesäumt waren.

Sie sah wieder zu dem zerstörten Pfad. Einem inneren Impuls folgend kletterte sie den Hang hinab, auf dem sie eben noch die Oase der Ruhe genossen hatte, um die Ursache zu ergründen. Das aufgewühlte Erdreich zu ihren Füßen, durchzogen von tiefen Reifenprofilen, ließ darauf schließen, dass dies nicht die Hinterlassenschaft eines nächtlichen Unwetters war. Ein umgekippter Traktor am Ende der Schneise erhärtete ihren Verdacht, dass hier ein weitaus dramatischeres Ereignis geschehen war. Einer düsteren Ahnung folgend stolperte sie über Erdklumpen und herausgerissenen Weinreben bis zum Unglücksort.

Rasch erfasste Cara die Umstände. Die Zugmaschine hatte Anhänger und Fahrer mitgeschleift. Der Verunglückte klemmte eingekeilt zwischen dem demolierten Traktor und einem mitgerissenen Befestigungspfeiler. Ein beklemmendes Gefühl beschlich sie und wurde zur Gewissheit.

„Scheiße“, fluchte sie und erkannte die brandrote Lederjacke. Die Augen des Verunglückten starrten ins Leere.