Czytaj książkę: «Happy Endstadium»
JAN OFF
HAPPY ENDSTADIUM
ROMAN
Jan Off wurde 1967 im finnischen Tohmajärvi geboren. Seit seiner Übersiedlung in die BRD Ende der 1980er behauste er zahllose Groß- und Kleinstädte in Ost und West, was ihm die Möglichkeit verschaffte, das Treiben der Radikalen Linken unter zum Teil völlig konträren Bedingungen zu studieren. Zurzeit lebt Off in Hamburg, wo er seinen Beitrag zur Gentrifizierung leistet, indem er täglich zwei Mastino-Mischlinge ausführt, deren grimmiges Äußeres noch jedem, der dem Pärchen begegnet ist, ein urbanes Lebensgefühl zu vermitteln wusste.
© Ventil Verlag UG (haftungsbeschränkt) & Co. KG, Mainz 2012
Alle Rechte vorbehalten.
print-ISBN 978-3-931555-36-8
e-ISBN 978-3-95575-604-3
Cover: Oliver Schmitt unter Verwendung eines Fotos von Lucja Romanowska
Ventil Verlag
Boppstraße 25, 55118 Mainz
»Optimale Kraftverteilung auf wechselndem Untergrund.«
BMW xDRIVE
Für Lucja
Miłość wszystko zwyciȩża
Inhalt
»Tränen machen stark«
»Funkelperlenaugen«
»Samba si! Arbeit no!«
»Wie frei willst Du sein?«
»Immer wieder kommt ein neuer Frühling«
»Flieg nicht so hoch, mein kleiner Freund«
»Hamburg im Dreivierteltakt«
»Dämonen und Wunder«
»Orange trägt nur die Müllabfuhr«
»Ich wär’ so gern wie Du«
»Beiß nicht gleich in jeden Apfel«
»Adios, Amor«
»Blinde Fenster«
»Das Glück hat viele Namen«
»Spuren einer Nacht«
»Feuer am Horizont«
»Risikofaktor 1:X«
»Abschied ist ein scharfes Schwert«
»Tränen machen stark«
[Kristina Bach]
Der Schlag kommt so unerwartet wie eine Erektion nach zwanzig Jahren Opium-Konsum. Er trifft mit Wucht auf mein linkes Ohr und bringt mein Trommelfell zum Vibrieren – ein Gefühl, als wäre ein Vogelschreck in meinen Gehörgängen gezündet worden. Reflexartig betaste ich die pochende Stelle und fühle Blut an den Fingerspitzen. Hoffentlich ist da nichts Entscheidendes kaputtgegangen.
Der Bulle schickt ein Lachen in den Raum. Es klingt aus tiefster Seele ehrlich.
»Da hat sich wohl jemand beim Versuch, sich der Verhaftung zu widersetzen, ein kleines Wehwehchen zugezogen.«
Dem Reiz, diese Bemerkung mit einer wohlgesetzten Beleidigung zu quittieren, ist nur schwer zu widerstehen. Nicht zuletzt, weil das Äußere meines Peinigers genügend Angriffsflächen böte. Er besitzt nicht nur eine echte Feuermelderfresse mit feisten, fleischigen Bäckchen und dem dazugehörigen Dreifachkinn, sondern auch ein Paar imposanter Biertitten, die von seinem eng am Körper liegenden Kunstfaser-Shirt auf eine Art und Weise betont werden, als ob er die Schläuche gern mal textilfrei und vor einem größeren Publikum präsentieren würde.
Alles andere als einfach, den Büttel nicht mit diesen Beobachtungen zu konfrontieren, zumal das Bedürfnis, die Sprachwerkzeuge zu benutzen, nach der Stille der Zelle ohnehin riesengroß ist. Aber genau das wollen sie ja – dass ich spreche, mich mal richtig ausspreche, mir die vermeintlichen Sünden von der Seele rede. Und so bin ich gut beraten, mich im Schweigen zu üben. Anna und Arthur halten das Maul! – keine Ahnung, wie oft mir diese fünf Worte in den letzten Jahren in Schriftform begegnet sind. Mit einem Mal jedenfalls hat die abgedroschene Parole mächtig an Aktualität gewonnen, geistert mir durchs Hirn wie eine unablässig wiederholte Regieanweisung.
Einen Satz allerdings darf ich sagen.
»Mir steht das Recht auf einen Anruf zu.«
»Ja und?« Im Blick des Bullen: gespielte Verblüffung.
Wider besseres Wissen wiederhole ich mein Anliegen: »Ich habe das Recht, zu telefonier’n.«
Der Staatsdiener stützt sich mit beiden Händen auf die Tischplatte, bringt sein Gesicht ganz dicht an das meine heran. Sein Atem verströmt etwas Medikamentöses. Vielleicht hat er eine Zahnbehandlung hinter sich oder er besorgt es sich hin und wieder mit einem Asthmaspray.
»Du willst also das Telefon benutzen?! Einen Anwalt anrufen oder etwas in der Richtung?!«
Ich spare mir das Nicken.
»Kannst du haben.« Er lächelt süffisant, bevor er fortfährt. »Ich hol dir das Telefon und dann schieb ich’s dir so tief in den Arsch, dass die Scheiße, die du verzapft hast, deinen Affenschädel flutet. Kannst deinem Anwalt ja dann einfach ein kurzes SOS furzen.« Er lacht, als ob er den Zwerchfellschüttler des Jahrhunderts kreiert hätte.
Als er sich wieder eingekriegt hat, federt er zurück in die Senkrechte und beginnt auf und ab zu tigern, ohne mich dabei allerdings aus den Augen zu lassen.
»Du meinst tatsächlich, du könntest hier was einfordern, du Traumtänzer?! Willst dir einen auf deine demokratischen Rechte abwichsen?! Willkommen in der Wirklichkeit 2.0, Abschaum. Wenn’s drauf ankommt, und in diesem Fall kommt es drauf an, dürfen wir alles. Alles, hörst du. Glaubst du, da draußen existiert auch nur eine Menschenseele, die dir und deinen verkommenen Freunden eine Träne nachweinen würde?! Ich wette, wenn die Leute wüssten, was ihr vorhattet, und wir euch jetzt raus ließen, würde es keine Viertelstunde dauern, bis man euch alle am nächstbesten Laternenmast aufgeknüpft hätte.« Er hat sich in Rage geredet und legt eine kurze Pause ein, um sich den Schweiß von dem rot glänzenden Stück Pavianarsch zu wischen, das er seiner Umwelt als Stirn verkaufen will. Dann brüllt er plötzlich los, als ob ihm seine Frau eröffnet hätte, dass sie sich in Kürze einer Geschlechtsumwandlung unterziehen werde. Offenbar nähert sich seine Performance ihrem Höhepunkt.
»Ihr seid schlimmer als Hitler, du und diese anderen Muttersöhnchen. Nicht zu vergessen: die Fotze. Die Fotze, die euch alle bei den Eiern hatte. Hat euch wahrscheinlich immer schön reihum rangelassen, das kleine Miststück, hä? Ins Gas müsste man euch schicken. Aber den Hahn schön langsam aufdrehen, damit ihr über eure verschissenen kleinen Leben noch mal nachdenken könnt, während ihr verreckt. Und das Ganze dann weltweit im Fernsehen übertragen. Ich würd’s mit meinen Kindern schauen, hörst du, du gottlose Missgeburt, mit meinen Kin-dern!«
Einer mehr, der nichts verstanden hat, denke ich, während ich zeitgleich versuche, die Drohkulisse nicht persönlich zu nehmen. Der Staatsdiener erledigt hier nur einen Job. Er muss Leuten wie mir Angst machen. Aber dann schlägt er wieder zu – auf dieselbe Stelle wie beim ersten Mal –, und Schmerz ist immer persönlich.
»Du verschissener Nazi!«, entfährt es mir, ohne dass ich darüber hätte nachdenken können.
Darauf hat er zweifellos spekuliert.
»Na, komm. Komm her, verpass mir eine.« Er grinst mich an und wedelt – die Arme in Hooliganmanier ausgebreitet – herausfordernd mit den Händen.
Entgegen jeder Vernunft beginne ich, tatsächlich meine Chancen abzuwägen, überlege mir, was geschehen würde, wenn ich jetzt aufstünde. Mein linkes Ohr fühlt sich taub an, dafür pfeift und rauscht es in meinem Schädelinneren, als ob man meinen Kopf an einen Kurzwellensender angeschlossen hätte. Gut möglich, dass ich das Gleichgewicht verlöre, noch bevor ich mich vom Stuhl gewuchtet hätte. Dann könnte mir der Bulle, dieser fleischgewordene Albtraum in Gestalt eines bäuerlichen Gabba-Jüngers, mit seinen Angeberturnschuhen gepflegt die Fresse eintreten. Dazu kommen noch die Zerrung oder der Faserriss im rechten Oberarm; oder was auch immer ich mir da während der Verhaftung eingefangen habe. Keine Frage, mein Gegner hätte leichtes Spiel. Trotzdem sollte ich vielleicht einen kleinen Ringelpietz wagen. Je sichtbarer die Verletzungen, desto besser lässt sich die Misshandlung später öffentlich machen. Aufstehen scheint dafür ohnehin nicht mehr vonnöten. Mein Peiniger ist bereits spürbar ungeduldig.
»Na, keine Traute? Oder willst du’s im Sitzen besorgt bekommen?« Er tänzelt überraschend leichtfüßig auf mich zu.
Ich bereite mich schon mal darauf vor, der nächsten Attacke wenigstens mit einem Ausweichmanöver zu begegnen, als sich plötzlich die Tür öffnet und der Spuk ein jähes Ende nimmt.
»Ist gut«, sagt eine sanfte weibliche Stimme, deren Besitzerin ich nicht erkennen kann, da mir die Fettschichten des Schergen die Sicht nehmen.
Zu meinem Erstaunen gehorcht der Versorger des Speckmantels ohne Widerrede. Er tritt einen Schritt zurück und gibt seinem Armfleisch die Möglichkeit, schlaff und lappig herunterzuhängen.
»Sie können uns allein lassen.«
Der Bulle folgt auch diesem Befehl und trabt aus dem Raum, ohne mich noch eines Blickes zu würdigen. Ich muss an den Beginn seines Monologs denken und komme an einem Lächeln nicht vorbei. Sieht ganz so aus, als ob er derjenige wäre, den eine Fotze bei den Eiern hat.
Nun erst komme ich dazu, meine Retterin in Augenschein zu nehmen. (Und Retterin ist in diesem Moment tatsächlich der Ausdruck, der sich mir ins Hirn drängt.) Ich habe eine Frau erwartet, deren Äußeres nicht allzu sehr vom Schönheitsideal unserer Tage abweicht. Sicher, weil das bei Fernsehkommissaren häufig der Fall ist, so sie denn paarweise agieren. Ist der eine älter und von eher skurriler Gestalt, kommt der andere meist jünger und vergleichsweise ansehnlich daher. Die Dame, mit der ich es hier zu tun habe, ist allerdings weder jünger noch hübscher noch dünner als der Appetitzügler, den sie gerade des Zimmers verwiesen hat. Vielleicht bin ich in einer Dienststelle gelandet, die nebenher als Endlagerstätte für adipöse Beamte fungiert. Meine neue Aufsichtsperson jedenfalls bringt bei einer geschätzten Körpergröße von 1,70 Meter sicher ihre zweihundert Pfund auf die Waage. Um davon abzulenken, hat sie sich eine blasslila Strähne in die herausgewachsene Dauerwelle färben lassen und sich eine Brille ins Gesicht geschraubt, die mit ihren übergroßen Gläsern an einen dieser wahnsinnigen, von dunklen Welteroberungsplänen zerfressenen Wissenschaftler erinnert, wie sie häufig in Comics zu finden sind. Mir soll das egal sein. Mir genügen ihre mütterliche Stimme und die Tatsache, dass sie mir den Schläger vom Hals geschafft hat. Darüber hinaus entspannt mich der Gedanke, dass ich es nun mit dem angenehmeren Teil des Duos zu tun habe. Was die psychologische Raffinesse angeht, scheint sich das Arsenal der Wächterameisen nicht wesentlich vergrößert zu haben: Erst trommelt der Höhlentroll ein bisschen auf seiner (und/oder deiner) Brust herum, dann lassen sie den Teesieder aus der Kiste, um dich einzuseifen.
»Rösner«, sagt der Teesieder und reicht mir die Hand.
Ich sehe keinen Grund, unhöflich zu sein, und schüttle die dargebotenen Engerlinge.
Nachdem das erledigt ist, zieht sich Frau Rösner einen Stuhl an den Tisch und nimmt Platz.
»So«, sagt sie, »dann fangen Sie mal ganz von vorne an.«
»Ich fange mit gar nichts an«, entgegne ich, wild entschlossen, bei ihr erst gar keine Hoffnungen aufkommen zu lassen. »Ich will den Anruf machen, der mir zusteht. Außerdem verlange ich, einem Arzt vorgeführt zu werden.«
»Sie wollen einen Arzt? Sind Sie krank?« Während sie das sagt, schaut sie mir derart besorgt in die Augen, dass ich an ihrem Wahrnehmungsvermögen zu zweifeln beginne. Ihr kann doch das, was ihr Kollege gerade mit mir veranstaltet hat, unmöglich entgangen sein.
Ich zeige auf mein zermatschtes Ohr.
»Krank trifft es nur bedingt, wenn ich auch gewissermaßen ein Opfer der Schweinegrippe geworden bin. Darüber hinaus haben es sich Ihre Häscher nicht nehmen lassen, mir schon während der Verhaftung eine Verletzung zuzufügen.«
»Eine Verletzung?« Obwohl ich das für unmöglich gehalten hätte, gelingt es ihr, noch eine Spur betroffener zu gucken. Sie muss wirklich einen an der Murmel haben.
»Wo denn?«, fragt sie.
Und ich Narr bin aufgrund ihres seltsamen Gebarens derart abgelenkt, dass ich für einen Augenblick meine Deckung vergesse.
»Am rechten Oberarm«, entgegne ich reflexartig.
»Ach. Lassen Sie mal seh’n!« Sie langt blitzschnell über den Tisch, packt mein rechtes Handgelenk und zieht dann mit einer solchen Gewalt an meinem Arm, als ob sie ein Stück davon mit nach Hause nehmen wollte.
Das tut so weh, besonders an der defekten Stelle zwischen Ellenbogen und Schultergelenk, dass ich schreien muss.
»Also ich kann da nichts entdecken«, sagt sie, nachdem sie losgelassen hat und mein Schrei zu einem kläglichen Wimmern verebbt ist. »Wahrscheinlich nur der Schock angesichts ihrer neuen Lebenslage – so eine Art Phantomschmerz … Und jetzt wollen wir mal anfangen.«
Ich bin fassungslos; ich habe im wahrsten Sinne des Wortes die Fassung verloren und größte Mühe, meine Tränen zurückzuhalten. Die Frau, die mir da gegenübersitzt und mich so aufmunternd anlächelt, ist nicht der Weichspüler, der Lindenblütentee, der Mutterersatz, für den ich sie gehalten habe. Das alte Spiel böser Bulle/guter Bulle hat – zumindest hier und heute – ausgedient. Stellt sich nur die Frage, wie das neue Spiel heißt: Gestapo-Ähnlichkeitswettbewerb? Fakir-Erlebniswochen?
Wir hatten oft darüber gesprochen, wie eine Verhörsituation am besten zu bewältigen sein würde, und waren uns schnell einig geworden, dass jeder letztlich seine eigene Strategie entwickeln müsse. Der eine beamt sich weg, indem er Kindheitserinnerungen oder Landschaftsbilder abruft, der andere murmelt ohne Pause vor sich hin oder weiß sich dadurch zu behelfen, dass er seine unfreiwilligen Zuhörer mit Fußballgesängen beschallt. So oder so waren nahezu all unsere Überlegungen darauf angelegt, endlos quälenden Befragungen zu begegnen, nicht körperlicher Drangsal. Und wenn wir diesen Aspekt doch mal thematisiert hatten, dann immer als Beiwerk, dem aufgrund der bestehenden Gesetze ein gewisser Rahmen vorgegeben war. Natürlich fielen Menschen hin und wieder auf Polizeiwachen Treppenstufen hinunter, schlugen sich durch eigenes Ungeschick die Köpfe an Einsatzwagen ein oder kollidierten dergestalt mit dem Demonstrationsrecht, dass Augenverletzungen unausweichlich blieben. Systematische Misshandlungen jedoch waren in unseren Planspielen nicht vorgekommen.
Was aber, wenn sie in unserem Fall beschlossen hatten, einfach auf bestehende Gesetze zu scheißen? Wenn die Nummer, die sie hier mit mir abziehen, nicht aufhört, also am Ende tatsächlich System besitzt? Abartig genug scheint das, was wir getan haben, in ihren Augen jedenfalls zu sein. Während ich mir diese Möglichkeit ausmale, kriecht mir kalte Angst den Rücken hoch – Angst vor weiteren Schlägen oder schlimmeren Grausamkeiten, aber auch die Angst davor, die anderen ans Messer zu liefern.
Frau Rösner unterbricht meine Gedanken.
»So, nun aber frisch ans Werk«, sagt sie. »Ich bin Ihre ebenso aufmerksame wie geduldige Zuhörerin.«
Sie nimmt ihre Brille ab, fördert aus den Weiten ihrer Strickjacke ein Stofftaschentuch zutage und beginnt, akribisch die Gläser zu polieren.
Unweigerlich muss ich an eine Geschichte denken, die mir Lasse mal erzählt hat. Sie spielt zu einer Zeit, in der er noch bei seinen Eltern wohnte, einem schwerreichen Architekten-Ehepaar mit einer hochmodernen, selbst entworfenen Villa in einem der wenigen Nobelvororte. Lasse hatte damals gerade sein Coming-out gehabt und war von seinen ebenso aufgeschlossenen wie verständnisvollen Erzeugern gebeten worden, ihnen seinen Boyfriend doch gelegentlich vorzustellen. Als der entsprechende Knabe dann tatsächlich vorbeikam, waren die Vorbereitungen für das gemeinsame Abendessen noch nicht abgeschlossen, also sprach nichts dagegen, sich in Lasses Zimmer ein bisschen Oralverkehr zu gönnen. Gerade als Lasse im Mund seines Freundes gekommen war, wurde von unten zu Tisch gebeten, und dorthin begaben sich die beiden Teenager dann auch. Nachdem Getränke gereicht worden waren, eröffnete Lasses Mutter den Smalltalk mit der Frage, welche Schule der Gast denn besuchen würde. Lasses Freund wollte antworten, wurde aber von einem plötzlichen Hustenreiz überwältigt, der sich zu einem Anfall heftigen Ausmaßes auswuchs, bis seiner Kehle schließlich ein Klümpchen milchig-weißen Schleims entstieg, das – von den Konvulsionen in seiner Brust befeuert – über den Tisch hinweg auf die Brillengläser der ihm direkt gegenübersitzenden Fragestellerin geschleudert wurde. Unnachahmlich, wie Lasse am Ende seiner Erzählung die Szene nachgespielt hatte, in der seine Mutter, im vergeblichen Versuch, Haltung zu bewahren, die Brille abnimmt, mit ihrer Damastserviette die Substanz, die keine zehn Minuten zuvor den Schwanz ihres Sohnes verlassen hat, von den Gläsern tupft und an den vom Husten Gepeinigten gewandt, die Aufforderung erklingen lässt, er solle nur ordentlich von den Lachsröggelchen nehmen. Die würden seiner Gesundheit gewiss gut tun.
Ich habe Lasses Mutter nie gesehen, noch nicht mal auf einer Fotografie. Umso leichter fällt es mir in diesem Moment, sie durch Frau Rösner zu ersetzen. Vor meinem inneren Auge sehe ich das Ejakulat in aller Deutlichkeit auf das zerknautschte Gesicht der Beamtin zufliegen. Und das hilft ungemein.
Als sie mir erneut nahelegt, endlich mit einem Geständnis über den Tisch zu kommen, habe ich alle Mühe, mir die Frage zu verkneifen, ob das Sperma von ihrer Sehhilfe denn nun bald entfernt sei.
Im Anschluss tritt eine Pattsituation ein. Frau Rösner poliert weiterhin die Gläser, ich schweige.
Nach einer gefühlten Ewigkeit beendet sie schließlich ihre Tätigkeit, setzt sich die Brille wieder auf und beugt sich vor.
Ich zucke instinktiv zurück, aber diesmal hat sie keine sadistischen Schweinereien im Sinn. Stattdessen tätschelt sie mir nachsichtig die Wange.
»Ein bisschen mundfaul, der Junge, hm?«, sagt sie. Und dann, mit der Strenge eines militärischen Vorgesetzten: »Hören Sie. Ich gebe Ihnen jetzt eine Stunde, damit Sie noch mal in sich gehen und Ihren kleinen Aufsatz ausformulieren können. Danach unterhalten wir uns. Verstanden?«
Ich lasse das unkommentiert.
»Soll ich Degowski wieder reinrufen, damit Sie Gesellschaft haben?«, fragt sie, nachdem sie sich vom Stuhl gequält hat.
»Wen?«, murmle ich verständnislos.
»Degowski, den charmanten Kollegen, den Sie bereits kennengelernt haben.« Sie lacht schallend, während sie auf die Tür zugeht.
»Funkelperlenaugen«
[Pur]
Endlich allein, wandern meine Gedanken augenblicklich zu Julia. Ich sehe sie in einer Zelle, ähnlich der, in der man mich hat schmoren lassen, bevor ich hierher verbracht wurde. Stelle mir vor, wie sie von kleingeistigen Wachteln, die es unter normalen Umständen schon als Gnade betrachten müssten, von ihrer verbrauchten Atemluft umweht zu werden, verlacht und gedemütigt wird. Sicher, Angst kennt sie nicht. Aber die Ohnmacht wird auch ihr zu schaffen machen. Ein Gedanke, bei dem sich mir der Magen zusammenzieht.
Ich versuche, die trostlose Sequenz durch Bilder aus glücklicheren Tagen zu ersetzen, und habe plötzlich wieder Frau Rösners so überaus angenehmes Schnurren im Ohr. »Dann fangen Sie mal ganz von vorne an«, säuselt sie, lockend wie ein Radiojingle, das zum Flatrate-Saufen einlädt. Und genau das tue ich. Ich gehe zurück auf Los und rufe noch einmal die Erinnerung an mein erstes Zusammentreffen mit Julia ab – diese eine Begegnung, die alle auf der weiteren Strecke liegenden Weichen und Signalanlagen dauerhaft außer Funktion zu setzen wusste.
Jan hatte ihren Namen irgendwann ins Spiel gebracht. Er würde demnächst umziehen, erzählte er eines Abends, während ich den Kühlschrank mit dem Bier füllte, das er mitgebracht hatte. Eine neue WG. Zwei Typen, eine Frau. Eine ganz besondere Frau. Julia. Ob ich die kennen würde …
»Nein«, antwortete ich wahrheitsgemäß, denn zu diesem Zeitpunkt konnte ich noch nicht wissen, dass mir Julia schon ein paar Mal über den Weg gelaufen war.
»Ein Zimmer wäre noch frei. Hast du nicht Lust?«
»Nur wenn mich in nächster Zeit eine Querschnittslähmung oder die Taucherkrankheit befällt«, erwiderte ich. Ich verspürte keinerlei Verlangen mehr nach Putzplänen und Einkaufslisten, war nach vier Jahren Gemeinschaftsleben in den unterschiedlichsten Konstellationen vielmehr heilfroh, endlich wieder selbst darüber entscheiden zu können, wie ich meinen Hausrat verrotten ließ.
Eine Einstellung, die so schnell über Bord ging wie ein armamputierter Ausguck bei Windstärke zwölf, als Jan zwei Wochen später in der neuen Wohnstatt einen Umtrunk gab.
Es herrschte mächtig Gedränge, und so wurde mir die Dame des Hauses nur flüchtig vorgestellt. Aber das genügte, um mich aus dem Gleichgewicht zu bringen. Denn Julia war mir bereits aufgefallen, bei Konzerten oder Demos, und noch jedes Mal hatte mir ihr Anblick den Atem geraubt. Sie besaß das stolze Gesicht einer Cäsarentochter, mit hohen Wangenknochen und klaren, hellblauen Augen, die stets durch dich hindurchzublicken schienen; dazu lange blonde Haare, die meist zum Pferdeschwanz gebunden waren. Im krassen Gegensatz zu dieser Hanseatenschleifen-Optik stand ihre Garderobe, die ziemlich martialisch daherkam: Cargohosen, Kapuzenpullover, Windbreaker, Doc Martens – selbstredend alles in Schwarz. Ein Kontrast, der für mich das Maximum an Erotik darstellte. Hier wohnte sie also. Und wer mit ihr hier wohnte, besaß das Anrecht, mit ihr zu frühstücken, in ihre Gedankenwelt einzutauchen, ihre Vorlieben und Abneigungen zu erfahren, ihr bei den alltäglichsten Verrichtungen zuzusehen, kurz: ihr nahe zu sein.
Ich wandte mich an Jan, der sich gerade mit einer Salatschüssel an mir vorbeizwängte.
»Sag mal, dieses Zimmer, von dem du letztens gesprochen hast, ist das noch zu haben?«
»Soweit ich weiß, schon«, entgegnete er.
»Gut, ich nehm’s.«
Jan lachte.
»Ist das dein Ernst?«
»Ja«, sagte ich nur und versuchte wie jemand dreinzublicken, der dringend ein Obdach braucht.
»Willst du’s dir vorher nicht wenigstens anseh’n?«
»Nicht nötig«, erwiderte ich und schwafelte irgendwas von wegen Schimmelbefall, Totalsanierung und dringendem Umzugsbedarf.
Jan bedachte mich mit einem wissenden Grinsen.
Später – ich hatte schon einigermaßen getankt – stand plötzlich Julia vor mir.
»Hab gehört, du möchtest hier einziehen?« Sie musterte mich eingehend.
Ich nickte dümmlich.
»Na, zumindest scheinst du nicht ganz unsportlich zu sein. Komm Dienstagabend mal vorbei, dann reden wir.«
»Mach ich«, quetschte ich hervor.
Dann war sie auch schon wieder verschwunden. Und so blieb mein alkoholgesättigtes Gehirn allein mit der Frage zurück, warum sie gerade die Fitness eines potentiellen Wohnungsgenossen so sehr interessierte.
Am Dienstagabend spielte genau dieser Punkt dann seltsamerweise überhaupt keine Rolle mehr.
Wir befanden uns in dem Raum, der von allen Bewohnern gemeinsam genutzt wurde. Ich saß auf einem altersschwachen Sofa. Die anderen, also Julia, Lasse, Jan und Kleingeld hatten sich mir gegenüber auf verschiedene Stühle verteilt, die einen losen Halbkreis bildeten. Auf dem Teppich zwischen uns leckte sich Julias Rottweilermischling Ulrike genüsslich die Hoden. Ich hatte mich bereits mit Lasse und Kleingeld bekannt gemacht, mich auch Julia noch einmal namentlich vorgestellt und erwartete nun die üblichen Ausführungen zu Themen wie Miete und Nebenkosten sowie ein lockeres Gespräch über unsere gegenseitigen Vorstellungen von Zusammenleben. Was mich betraf, war ich fest entschlossen, mich auch noch der albernsten Regel zu unterwerfen. Hauptsache, sie würden mich aufnehmen. Hauptsache, Julia würde mich akzeptieren. Denn am Ende würde sie es sein, deren Stimme den Ausschlag gab. Das war so deutlich zu spüren wie ein Schlag auf den Solarplexus. Sie besaß diese natürliche Autorität, die ihr, gepaart mit ihrem Aussehen, zwangsläufig Macht über Menschen verlieh.
Es war dann auch Julia, die das Gespräch eröffnete. Und zwar nicht mit den erwarteten Formalien, sondern mit einer Frage, die mich vollkommen unvorbereitet traf.
»Wo würdest du dich denn politisch einordnen?«
Herrje! Mein politisches Weltbild war nicht anders als diffus zu nennen. Zwar hätte ich auf Anhieb zig Missstände aufzählen können, die mein Blut zum Kochen brachten, angefangen bei der ungerechten Verteilung von Gütern bis hin zur Unfreiheit des Einzelnen. Des Weiteren war mir durchaus bewusst, dass für beinahe alle der himmelschreienden Übel, die mich umtrieben, das kapitalistische System verantwortlich zeichnete, also das Hamsterrad, in dem auch ich gefangen war. Aber wie nun genau die neue Welt von morgen aussehen sollte, hätte ich nicht sagen können. Vor allen Dingen hatte ich keine Bezeichnung bei der Hand, die meinen wankelmütigen, unausgegorenen Ansichten eine allgemeingültige Form hätte geben können. Musste ich mich zu den Sozialrevolutionären oder zu den Sozialisten zählen? War ich Kommunist oder Hedonist? Oder beides, falls sich die Begriffe nicht aufhoben? Oder doch eher Anarchist, beziehungsweise Anarchosyndikalist? Ich besaß nicht den Hauch einer Ahnung. Natürlich hätte ich mir stattdessen mit einer Floskel behelfen können, einem Allgemeinplatz à la Frei sein, high sein, Terror muss dabei sein. Aber das würde der Schönheit mir gegenüber, in deren Gesicht sich bereits ein spöttischer Ausdruck breitmachte, nicht genügen. Verdammt, auf diesen Punkt hätte mich Jan ruhig vorbereiten können.
Ich blickte auf den Hund zu meinen Füßen, was meiner Konzentration allerdings auch nicht auf die Sprünge half. Stattdessen wurde ich von der Frage abgelenkt, warum ein Tier, das unübersehbar einen Penis sein Eigen nannte, mit einem weiblichen Namen bedacht worden war, noch dazu mit einem derart althergebrachten. Wer bitte schön hieß denn heutzutage noch Ulrike?! Ul-ri-ke – ich ließ mir die Silben auf der Hirnrinde zergehen. Und plötzlich hatte ich sie, die rettende Lösung, die Worte, die meiner Reputation den notwendigen Dienst erweisen würden. Also erklärte ich mit fester Stimme, wobei ich meinen Blick langsam über die Gesichter der anderen wandern ließ: »Um es mit Ulrike Meinhof zu sagen: Die Konfrontation mit der Staatsgewalt ist zu suchen und unbedingt erforderlich.«
Das Zitat stammte zwar gar nicht von der RAF-Mitbegründerin, sondern, soweit ich mich erinnern konnte, von Rudi Dutschke. Aber ich hatte auf die Schnelle kein anderes finden können. Außerdem spielte der Wahrheitsgehalt in diesem Fall keine Rolle. Wer kannte sich mit Zitaten schon aus?! Wichtig war nur, dass der Satz schön kämpferisch klang und von Ulrike Meinhof hätte sein können. Denn wenn ich auch nicht zu hundert Prozent sicher sein durfte, dass die Namensgebung des Hundes etwas mit der Roten Armee Fraktion zu tun hatte, hätte ich doch jede Wette angenommen, dass Madame Meinhof zu den Menschen gehörte, die Julia verehrte – zumindest heimlich. Die Kompromisslosigkeit, mit der die ehemalige Journalistin ihren Weg vom Wort zur Tat beschritten hatte, musste einer Frau wie Julia einfach zusagen.
Sie sah denn auch einigermaßen verblüfft aus, nachdem die letzte Silbe meines Statements verhallt war.
»Klingt nicht schlecht«, sagte sie mit einem leichten, beinahe widerwilligen Zögern. Und kam dann doch um die Andeutung eines Lächelns nicht herum.
Ich nahm das mit einer tiefen Befriedigung auf, wie ich auch nicht ohne Stolz registrierte, dass sich von Seiten meiner männlichen Gegenüber kein Widerspruch regte. Offenbar war keinem aufgefallen, dass ich mich an der eigentlichen Fragestellung vorbeigemogelt hatte. Demgemäß stand einem unangestrengten Geplauder über profanere Dinge nichts mehr im Wege.
Erst als wir zum Ende kamen, wurde es noch einmal kritisch.
»Ach, eins noch«, warf Julia ein, während mir Lasse gerade einige der häuslichen Gepflogenheiten auseinandersetzte. »Wir leben hier übrigens vegan. In dieser Hinsicht gibt’s keine Kompromisse. Da müsstest du schon mitziehen.«
Ich sah zu Jan hinüber. Hatte gar nicht gewusst, dass mein bester Freund Veganer war. Hatten wir nicht letztens noch Hawaiitoast bei mir gegessen?!
»Heißt das, wenn ich mir mal ’n Schnitzel … muss ich das, äh, also draußen …?«, stotterte ich überrascht und hätte mir am liebsten die Zunge abgebissen – auch wenn die natürlich ebenfalls unter die Rubrik fleischhaltige Produkte fiel.
Julia sah mich an, als ob auf meiner Stirn eine Hakenkreuztätowierung erschienen wäre.
»Nee, nee, vegan ist kein Problem«, beeilte ich mich daraufhin zu sagen. »Ich esse ohnehin fast nur Hülsenfrüchte.«
Jetzt war es an Jan, zu mir herüberzusehen.
Und damit war es vollbracht.
»Wir rufen dich in ein oder zwei Stunden an«, sagte Julia und entließ mich mit einem knappen Nicken.
Noch bevor ich meinerseits ein Abschiedswort hätte formulieren können, hatte sie sich bereits den anderen zugewandt. Sicher, um gleich die Diskussion über das Für und Wider meiner Person zu eröffnen.
Das Zimmer hatte ich immer noch nicht gesehen.
Zurück in meiner Wohnung, hatte ich einige Mühe, nicht alle zwei Sekunden auf mein Mobiltelefon zu starren. Erstaunlich, welch hypnotische Kraft so ein toter Gegenstand zu entwickeln in der Lage ist. Ich versuchte mich abzulenken, indem ich im Netz vegane Rezepte studierte. Nicht, dass ich mir später noch den Vorwurf machen musste, ich hätte es an der notwendigen Dosis positiven Denkens fehlen lassen. Nach einer gefühlten Ewigkeit und ungezählten Anleitungen für Soja-Quiche und Konsorten erklangen schließlich diese nagetierähnlichen Laute, die mir als Klingelton dienten. Im Display des Handys Jans Name.
»Alles klar. Kannst einziehen«, sagte er.
Ich hatte Mühe, mir eins dieser Geräusche zu verkneifen, wie sie häufig weiblichen Teenagermündern entfahren, sobald musizierende Schönlinge eine Bühne betreten. Stattdessen sagte ich: »Perfekt, dann bring ich morgen gleich die ersten Kisten rum.«
»Scheint dir ja echt im Nacken zu sitzen, der Schimmel«, sagte Jan.