Czytaj książkę: «Nach der Erleuchtung: Boden wischen»

Czcionka:

Jan Frerichs

Nach der Erleuchtung: Boden wischen

Ein franziskanisches Alltagsprogramm

Franziskanische Akzente

herausgegeben von Mirjam Schambeck sf

und Helmut Schlegel ofm

Band 23

JAN FRERICHS

Nach der Erleuchtung:

Boden wischen

EIN FRANZISKANISCHES

ALLTAGSPROGRAMM

echter

Mein herzlicher Dank geht an Maria Zimmer-Geyer und Stefan Backes für die kritische Lektüre des Manuskripts und die wertvollen Anregungen und Korrekturen. Ebenso herzlich sei Eva Laux für die sorgfältige Zuarbeit bei den Korrekturen gedankt sowie der Provinz Sankt Elisabeth der Franziskaner-Minoriten, OFM Conv. in Deutschland, für die finanzielle Unterstützung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.

1. Auflage 2019

© 2019 Echter Verlag GmbH, Würzburg

www.echter.de

Umschlag: wunderlichundweigand.de (Umschlagfoto: Shutterstock)

Satz: Crossmediabureau – http://xmediabureau.de

E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de

ISBN

978-3-429-05432-8

978-3-429-05056-6 (PDF)

978-3-429-06458-7 (ePub)

Inhalt

1. Was ist Alltagsspiritualität – und was nicht?

2. Aufbruch zwischen Ordnung und Unordnung

Begegnung mit Gott

Sich nicht (mehr) auskennen

Gott zeigt sich im „Und“

Neubeginn aus dem „Nichts“

Gegenwärtig im „Dazwischen“

3. Das Christentum: eine Lebensschule

Wie alles begann

Nicht Kult, sondern Lebenshilfe

Gott lebt inmitten seines Volkes

Durch die Wüste in die Freiheit

Versuchung

Manna

Leben in Christus

Keiner soll mehr hungern

4. Franziskus: Leben als Stadteremit

Achtung: Abenteuer!

Das eigene Nichts fühlen

Gott: Nichts und Alles

Berufung

Gemeinschaft

Anarchie der Herzen

Frieden

Verwurzelt im Eremos

5. Ein Eremos-Programm für heute

Was ist ein Stadteremit?

Gebet (oratio) – das Herz klären

Hingabe (devotio) – den Kreis heilen

Buße (poenitentia) – geschwisterlich leben

6. Die zwei Berufungen

Anmerkungen

Zum Weiterlesen

Abkürzungsverzeichnis

1. Was ist Alltagsspiritualität – und was nicht?

Als die Idee für dieses Buch entstand, war ich skeptisch. Eine christliche Spiritualität des Alltags? Und dann auch noch eine franziskanische? Kann man davon sprechen, ohne dass es billig oder oberflächlich wird? Mal ganz ehrlich: Franz von Assisi war kein alltäglicher Heiliger. Er zog sich nackt aus, ließ sein Leben als reicher Kaufmannssohn hinter sich, um fortan als Einsiedler in den Wäldern um die Stadt herum mit den Aussätzigen zu leben und Dinge zu tun, die ich gerade nicht als „alltäglich“ bezeichnen würde. Dazu zählen wochenlanges Fasten, stunden- und tagelanges Gebet in Felshöhlen und Ähnliches. Und Jesus? Er fordert seine Jünger auf, nichts mit auf den Weg zu nehmen. Keinen Geldbeutel, keine Ersatzkleidung, sprich: den Alltag mit allen Sicherheiten hinter sich zu lassen. Seine Jüngerberufungen bedeuten radikale Kehrtwenden. Er reißt die Angesprochenen mitten aus dem Leben. Sie lassen ihre Fischernetze liegen, um „Menschenfischer“ zu werden. Ein vollständiger Umbruch des bisher Dagewesenen. Jesus stellt die Welt auf den Kopf. Und später finden wir im Christentum immer wieder Beispiele für genau solche Bewegungen. Da sind radikale Männer und Frauen, die alles hinter sich lassen, um als Eremiten in der Wüste zu beten und Gott zu suchen.

Es sind solche Überlegungen, die mich am Sinn eines Buches über franziskanische „Alltagsspiritualität“ zunächst zweifeln ließen. Vor allem, wenn unter Alltag jene Zeit verstanden wird, die aus Routinen und Gewohnheiten besteht. Ein Alltag oder „tägliches Einerlei“, wie der Duden Alltag definiert, also das, was wir als grau empfinden mögen, uns aber zugleich ein wenig Sicherheit bietet vor dem Einbruch des vielen Nicht-Alltäglichen in unsere kleine Welt. Ist das, was wir Alltag nennen, nicht vielleicht sogar gerade unser Ort der Weltflucht, aus dem Gott uns herausrufen will in den immer je größeren Horizont? Ziehen wir uns nicht gerne in diesen grauen Alltag zurück, um uns nicht mit all den vielen Problemen befassen zu müssen, vor denen die Menschheit steht: Umweltzerstörung, Ausbeutung, Armut, Hunger, Krieg, Migration? Fürchten wir nicht geradezu den Einbruch von Katastrophen in unseren „sicheren“ Alltag: Unfälle, Krankheit, Arbeitslosigkeit, Trennung, Tod? Wenn eine Spiritualität des Alltags nur dazu dienen sollte, uns ein gutes Gefühl zu geben, ein bisschen Wellness fürs Gemüt, ein bisschen Stillsitzen, um wieder „runterzukommen“ und das Deckchen eines fragwürdigen Friedens über alles zu legen – wäre das nicht eine Spiritualität des Wegschauens? Und braucht es nicht gerade heute Menschen, die furchtlos bereit sind, sich zu konfrontieren – eine Spiritualität des Hinschauens also?

Bei aller Skepsis war auch klar, dass es eine Spiritualität des Alltags natürlich geben muss. Jesus, Franziskus und alle spirituellen Meister und Meisterinnen haben in einem Alltag gelebt. Der Alltag gehört als „Werktag“ – wie der Duden ebenfalls definiert – notwendig zum Leben. Es ist die Zeit des Schaffens und der Arbeit, ohne die wir als Menschen nicht überleben würden. Eine Zeit, in der nichts „Besonderes“ geschieht. Freilich kann auch das schwer erträglich werden. Und wenn es die Weltflucht in den Alltag gibt, so gibt es auch die Alltagsflucht in die Welt, immer das Besondere, Aufregende, Neue suchend. Wenn die Gefahr besteht, im Alltag zu erstarren, so besteht sicher auch die Gefahr, außerhalb des Alltags abzuheben. Und wer spült dann das Geschirr?

Eine Geschichte über den heiligen Bonaventura, einen der ersten Nachfolger des heiligen Franziskus in der Leitung des Ordens, veranschaulicht das sehr schön. Einst kam eine päpstliche Gesandtschaft in den Garten des Klosters, in dem Bonaventura lebte. Er sollte die Kardinalswürde erhalten und in jener Zeit ohne Telefon und Internet standen also nach tagelanger Reise die ehrwürdigen Vertreter des Papstes im Garten, um ihm den Kardinalshut aufzusetzen. Bonaventura war gerade damit beschäftigt, das Geschirr zu spülen, und soll gesagt haben: „Hängt den Hut dort in den Baum. Ich spüle noch eben zu Ende.“ Solch eine Spiritualität ist auf eine bestimmte Art und Weise bodenständig: „Vor der Erleuchtung: Boden wischen. Nach der Erleuchtung: Boden wischen“, heißt es passend dazu – und sehr weise – in einem buddhistischen Sprichwort.

Eine christliche und speziell franziskanische Spiritualität des Alltags hebt also weder ab noch verschließt sie sich vor der Wirklichkeit. Ja, sie besteht im Wesentlichen darin, sich der Wirklichkeit möglichst ganz und gar zuzuwenden und nichts und niemanden auszuschließen. Sie sieht das Heilige im Profanen und das Profane im Heiligen. Sie erwartet Gott eben genau „dazwischen“, möchte ich sagen. Und Gott zu erwarten bedeutet, eben nicht zu wissen, wo Gott ist. Dieses Nichtwissen ist vielleicht sogar überhaupt die genuine Haltung der franziskanischen Spiritualität. Eine Herausforderung, die anzunehmen und zu erforschen sich lohnt. Denn daraus erwächst eine heilige Neugier, die uns fähig macht, kreativ zu sein und das Potenzial zu entfalten, das in jeder und jedem von uns angelegt ist. Franz von Assisi war in diesem Sinne durchdrungen von der Überzeugung, Gott in der Welt, mitten im Leben, mitten im Alltag, eben in diesem geheimnisvollen Dazwischen zu entdecken. Und „entdecken“ beschreibt die Erfahrung, dass Gott uns bereits erwartet, wenn wir ihm Raum schaffen. Als Stadteremit lebte Franziskus in jeder Hinsicht „dazwischen“: zwischen Kultur und Natur, zwischen Stadt und Land, zwischen Reichtum und Armut, zwischen profan und heilig. Deshalb also dieses Buch: Wie können wir solch einen Weg heute gehen?

2. Aufbruch zwischen Ordnung und Unordnung

Begegnung mit Gott

NICHTS zeigt sich.

NICHTS gibt mir Sicherheit.

NICHTS nimmt mir die Angst.

NICHTS kann mich von meiner Scham befreien.

NICHTS macht mir Freude.

NICHTS vermag meinen Hunger zu stillen.

ALLES ist NICHTS.

Und NICHTS ist ALLES.

NICHTS gibt mir Kraft.

NICHTS gibt mir ein Ziel.

NICHTS muss ich schützen.

NICHTS braucht meine Tatkraft.

Für NICHTS lohnt es sich, zu sterben.

ALLES ist NICHTS.

Und NICHTS ist ALLES.

NICHTS kann mich aufhalten.

NICHTS steht mir im Weg.

NICHTS stört meine Kreise.

NICHTS stellt meine Entscheidungen in Frage.

NICHTS ist größer als ich.

ALLES ist NICHTS.

Und NICHTS ist ALLES.

Ich fordere NICHTS.

Ich sehne mich nach NICHTS.

Ich glaube NICHTS.

Ich nehme NICHTS mit auf den Weg.

Ich besitze NICHTS,

und ALLES wird mir geschenkt.

Sich nicht (mehr) auskennen

Ich erinnere mich an Ferien in den Bergen mit den Kindern. „Heute ist Sonntag“, sage ich und schlage vor, im Dorf in den Gottesdienst zu gehen. „Oh nein! Nicht in die Kirche!“ Also rege ich an, einen Gottesdienst im kleinen Kreis am Tisch zu feiern. „Muss das sein? Wir haben doch Ferien!“ Ich falte ernst die Hände zum Gebet: „Lieber Gott, lass uns bitte in Ruhe. Wir haben Ferien und möchten nicht gestört werden.“ Alle lachen. Wir machen fürs Erste einen großen Spaziergang.

Ich kenne viele in meiner Generation, die würden nicht einmal auf die Idee kommen, einen Gottesdienst zu besuchen. „Wir brauchen Gott nicht“, sagen sie. Und ich weiß, dass viele in der Generation meiner Eltern und Großeltern das nur schwer ertragen. Sie sagen dann, dass wir in „gottlosen“ Zeiten leben. Für sie gehen selbstverständlich alle sonn- und feiertags in den Gottesdienst. Es sind überwiegend diese „Leute der Ordnung“, wie ich sie nennen möchte, die in den Kirchen noch Sonntag für Sonntag präsent sind, pflichtbewusst die Tradition pflegen und auch sonst im Alltag Ordnung halten. Sie wissen genau, was richtig und was falsch ist.

Meine Generation tickt anders. Ich bin in eine Zeit hineingewachsen, in der es keine letztgültige Ordnung mehr gibt. Wir sind die „Leute der Unordnung“. Unser Lebensgefühl ist von einer grundlegenden Orientierungslosigkeit geprägt. Kaum etwas ist von vornherein festgelegt. Wir können grundsätzlich selbst entscheiden, was wir tun und wie wir es tun. Daher wissen wir aber auch nie, was genau richtig und was falsch ist. Niemand gibt den Weg vor. Schon gar nicht mehr „die Kirche“. Wir können selbst wählen. Wir müssen aber auch selbst wählen. Viele in meiner Generation nehmen deshalb ganz bewusst eine bestimmte Ordnung an: eine politische Ideologie, irgendeine Konfession oder esoterische Lehre oder was auch immer uns für unser Leben sinnvoll erscheint. Und die Auswahl ist groß.

Als ich mit 20 Jahren in den Franziskanerorden eintrat, war ich überzeugt, dort eine Ordnung für mein Leben finden zu können. Orden – von lateinisch ordo – heißt ja nichts anderes als Ordnung. Ich erinnere mich noch gut an den ersten Tag. Ich hatte aus irgendeinem Grund das Mittagessen verpasst. Zusammen mit einem Mitbruder holte ich die Mahlzeit nach. Wir setzten uns in der großen Klosterküche an den Tisch. „Guten Appetit“, sagte ich und begann fröhlich zu essen. „Wollen wir erst beten?“, fragte mein Gegenüber. Ich schämte mich. Ich fühlte mich bloßgestellt. Die Situation hatte sichtbar gemacht, dass ich aus einer anderen Welt kam. Tischgebete gab es dort nicht. Es gab überhaupt keine religiöse Alltagspraxis. Jetzt war ich fremd. Und ich passte mich an, um dazuzugehören. Dennoch blieb – und das kennzeichnet uns „Leute der Unordnung“ – eine Distanz, dieses Gefühl von „Fremdsein“. Vielleicht ist dieses Gefühl auch der Grund, warum ich nach fünf Jahren wieder aus dem Orden austrat. Ich wählte die nächste „Ordnung“ und hoffte, auf diese Weise dem Schmerz des Fremdseins zu entkommen. Was natürlich nicht funktionierte. Heute weiß ich: Das Fremdsein gehört dazu. Es ist geradezu notwendig. Ich habe noch einige Jahre gebraucht, um den Schatz zu entdecken, der im Fremdsein liegt. Gerade das Fremdsein und Sich-nicht-Auskennen ist für mich ein Schlüsselbegriff franziskanischer Spiritualität geworden.

– Zählst du dich eher zu den Leuten der Ordnung oder der Unordnung?

– In welche Ordnung bist du hineingewachsen? Welche hast du selbst gewählt?

– Wie gehst du um mit Situationen des Sich-nicht-Auskennens?

Gott zeigt sich im „Und“

Die Sache mit der Ordnung und der Unordnung hat letztendlich nur bedingt etwas mit „Generationen“ zu tun. Das ganze Leben spielt sich ab zwischen Ordnung und Unordnung, zwischen Verbundensein und Getrenntsein, zwischen Gemeinschaft und Alleinsein. Die Natur ist bipolar: Es gibt hell und dunkel, Tag und Nacht, Himmel und Erde, Tod und Geburt. Und alle, die Gott suchen, müssen früher oder später lernen, dass er weder im einen noch im anderen ganz zu finden ist, sondern „dazwischen“. Und wenn ich „er“ sage, dann ist das genau ein Beispiel für das Problem, denn Gott ist natürlich nicht nur „er“, sondern zugleich „sie“. Uns Menschen fällt es schwer, über die Polaritäten hinauszusehen. Gott ist aber keine Frage von „entweder – oder“. Gott zeigt sich im „Und“. Zwischen Ordnung und Unordnung.

Es geht nicht ohne Ordnung, sonst würde das Chaos herrschen. Aber es geht auch nicht ohne Unordnung, sonst würde nie etwas Neues entstehen. Entwicklungspsychologisch betrachtet, brauchen wir Ordnung, wenn wir heranwachsen, um uns sicher zu fühlen und zu orientieren. Aber spätestens in der Pubertät beginnen wir, aus der Ordnung herauszuwachsen. Das ist die Zeit, die Eltern und Familien dann mit Herausforderungen der Unordnung konfrontiert. Und in Wahrheit müssen wir uns alle ständig mit irgendeiner Art der Unordnung auseinandersetzen, die das Leben mit sich bringt. Das fängt bei kleinen alltäglichen Dingen an, die nicht so laufen, wie wir es gerne hätten. Und schließlich erzählt uns die Geschichte von Hiob, dass wir die Unordnung nicht vermeiden können, auch nicht, indem wir alles „richtig“ machen. Hiob, der Gerechte, der definitiv alles richtig gemacht hat, erlebt dennoch Schreckliches: Er verliert seine Kinder, wird krank und hat am Ende nichts mehr, an dem er festhalten kann. Das Leben kann sehr ungerecht sein – auch das ist eine Erfahrungsform von Unordnung. Und gerade dort – zwischen Ordnung und Unordnung – begegnet Hiob Gott.

Die „Leute der Ordnung“ haben ein Gefäß, das Geborgenheit spendet und an dem sie festhalten können. Die Ordnung gibt auch den Weg vor: Wie auf einer Leiter können sie Sprosse für Sprosse emporsteigen. Der Versuch aber, irgendeine Ordnung mit Gewalt durchzusetzen, führt zu einer Art Allmachtswahn, dem sich dann nichts in den Weg stellen darf, wie das Kapitel „Begegnung mit Gott“ zum Ausdruck bringt. Man könnte sagen: Das Gefäß wird dann wichtiger als sein Inhalt. Meist verbirgt sich hinter dieser Haltung eine tiefe Angst vor der Unordnung. Das ist auch die Quelle von Rassismus oder Hass gegen irgendeine Art von Andersartigkeit, meist gegen Minderheiten. Es ist dann leichter, die Unordnung – oder die, die sie repräsentieren – auszuschließen, als sich von ihr in Frage stellen zu lassen. Auch dann, wenn irgendeine religiöse Praxis oder die Kirche als Institution selbst wichtiger werden als ihr Zweck, treten sie praktisch an die Stelle Gottes, dem sie eigentlich Raum schaffen sollen. Das Gefäß selbst, also z.B. die Kirche, wird dann verehrt und „erbittert“ verteidigt. Aber das bringt uns Gott kein Stück näher, sondern führt eben früher oder später in die Verbitterung. Die Unordnung und überhaupt jegliche Ungewissheit des Lebens lassen sich nicht mit Gewalt beseitigen – zumindest sind alle Versuche bisher gescheitert und haben kaum mehr als Leid und Opfer gebracht.

Wir Leute der „Unordnung“ haben dagegen weder ein festes Gefäß noch eine sichere Leiter, auf der wir emporsteigen können. Wir können Gefäße und Leitern nach Belieben wechseln, wenn sie uns nicht mehr das Gefühl von Sicherheit, Zugehörigkeit, Bestätigung geben. Aber wir bleiben eben heimatlos. Wenn nichts letztgültig und wahr ist, muss alles angezweifelt werden. Und im schlimmsten Fall ist dann am Ende alles nur noch gleichgültig. Das ist aber nichts anderes als Zynismus, und der taugt auch nicht zum Leben, sondern nährt eine „Kultur der Gleichgültigkeit“ und des Wegschauens, wie sie Papst Franziskus immer wieder anprangert (vgl. EG 54). Wesentliche Fragen bleiben nicht nur unbeantwortet, sondern werden am Ende gar nicht mehr gestellt, z.B. was mir innere Sicherheit gibt und mir sagt, wer ich bin, was mir Angst und Scham nimmt, was mich tiefe Freude und Fülle erfahren lässt, was meinen inneren Hunger nach Lebendigkeit, Liebe und Geborgenheit stillt und wofür es sich lohnt, die eigene Schaffenskraft einzusetzen.

– Mit welcher Art von „Unordnung“ hat dich dein Leben konfrontiert?

– Wie begegnest du Ereignissen oder Menschen, die deine Ordnung stören?

– Was ist deine größte Sehnsucht?

Neubeginn aus dem „Nichts“

Im Grunde kommen wir alle – so oder so – alsbald an diesen Punkt, wo wir mit unserem Latein am Ende sind. Dann stehen wir tatsächlich vor dem Nichts und sind herausgefordert, uns mit Leere, Unordnung, Nichtwissen usw. auseinanderzusetzen. Theologisch ausgedrückt, stehen wir früher oder später alle vor der Frage: Wo ist Gott? Und Gott ist nicht da. Jedenfalls nicht da, wo wir es gerne hätten. Wir können genau darin anknüpfen an Erfahrungen derer, die uns vorausgegangen sind: „Bin ich nur ein Gott aus der Nähe – Spruch des Herrn – und nicht auch ein Gott aus der Ferne?“, fragt der Prophet Jeremia (Jer 23,23). Wir wären also in bester Gesellschaft mit unserer Erfahrung der Gottesferne, was aber nur ein schwacher Trost ist.

Wenn wir ganz ehrlich sind, wollen wir an diesem Punkt meistens doch aussteigen, statt uns auf die unbequeme Suche nach Gott zu machen. Wir versuchen dann lieber, die Leere selbst zu füllen (bzw. die Unordnung zu beseitigen), und basteln uns ein „Goldenes Kalb“, wie es die Exodus-Geschichte erzählt (vgl. Ex 32,1–29). Am liebsten wollen wir gar nicht wirklich viel mit Gott zu tun haben, denn das würde ja bedeuten, dass es ungewiss, abenteuerlich, gefährlich und anstrengend werden könnte und höchstwahrscheinlich auch wird. Irgendetwas kann im Grunde nicht so weitergehen, wie es bisher läuft, sonst wären wir ja nicht an diesen kritischen Punkt gekommen, aber wir versuchen, den Punkt des Aufbruchs soweit es geht hinauszuschieben. Oder wir nehmen nicht alles mit und halten uns heimliche Hintertürchen offen, wie es Yves Raguin formuliert: „Viele brechen nur scheinbar auf. Sie tragen nur ein Gespenst ihrer selbst mit sich fort, eine abstrakte Puppe. Sich selber bringen sie vor dem Aufbruch in Sicherheit … Sie bilden sich eine künstliche Persönlichkeit, eine ausgeliehene, nach Büchern zurechtgemachte, und diesen Roboter, diesen Schatten ihrer selbst schicken sie auf die Suche nach Gott. Nie treten sie mit ihrem ganzen Wesen in die Erfahrung ein.“1

Es sind unter den Kirchenmenschen meist die Mystiker, die sich trauen, diese Dinge unverblümt beim Namen zu nennen. Zu ihnen gehört die evangelische Pastorin Nadia Bolz-Weber in den USA. Auf die Frage eines Seminaristen, was sie persönlich unternehme, um Gott näherzukommen, antwortet sie spontan: „Was? Gar nichts! Das klingt für mich nach einer schrecklichen Idee!“ Und sie führt aus, dass sie Gott nicht in der Meditation begegne, sondern in Momenten, in denen Gott gewissermaßen dazwischenkommt: „ … in denen mir klar wird, dass Gott durch mich etwas Schönes getan hat, obwohl ich ein Arschloch bin. In denen ich die Sünde anderer nicht verurteilen kann (was ich, ehrlich gesagt, sonst gerne tue), weil mein eigener Mist zu sehr im Weg ist, oder wenn ich Zeugin menschlichen Leids werde, obwohl ich viel lieber in Ruhe gelassen würde, wenn mir jemand vergibt, obwohl ich es nicht verdient habe. Gott näherkommen klingt wunderbar, aber es kann sich ganz schön hart anfühlen.“2

Wenn wir sagen, dass wir Gott „brauchen“, meinen wir wahrscheinlich meistens, dass wir Gott „gebrauchen“ wollen. Für irgendetwas, das unsere Sicht der Dinge bestätigt. Erst wenn wir aufhören, Gott zu „gebrauchen“, entsteht Raum für die Begegnung mit ihm, behaupte ich. Aufhören, Gott zu „gebrauchen“, bedeutet, die eigene Komfortzone zu verlassen. Die eigene Überlegenheit, das Bescheidwissen, die Urteile, Ausreden und alle Sicherheiten. Es bedeutet gleichsam, die Leiter wegzuwerfen, auf der wir bisher hochgestiegen sind, wie es der Philosoph Ludwig Wittgenstein einmal formuliert hat. Es ist wie in einer Partnerschaft oder Ehe: Die Beziehung beginnt eigentlich erst, wenn wir aufhören, den anderen Menschen nach unseren Vorstellungen verändern zu wollen. Erst wenn wir damit aufhören, beginnen wir zu lieben. Wir treten ein in eine neue Lebenswirklichkeit, in der wir nicht mehr passiv sind (geliebt werden), sondern aktiv (lieben). Und wenn zwei (oder drei; vgl. Mt 18,20) das tun, öffnen sich Räume für Wunder. Wir schenken der Wirklichkeit die volle Aufmerksamkeit, und die ist „wichtiger als die Idee“, um noch einmal Papst Franziskus zu zitieren (vgl. EG 231–233).

Darmowy fragment się skończył.

399 ₽
34,27 zł