De Temps en Temps

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De Temps en Temps – Von Zeit zu Zeit

1. Auflage, erschienen 9-2020

Umschlaggestaltung: Romeon Verlag

Autorin: Jacqueline Hoffmann

Layout: Romeon Verlag

ISBN: (E-Book) 978-3-96229-865-4

www.romeon-verlag.de

Copyright © Romeon Verlag, Kaarst

Das Werk ist einschließlich aller seiner Teile urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung und Vervielfältigung des Werkes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks und der Übersetzung, sind vorbehalten. Ohne ausdrückliche schriftliche Genehmigung des Verlages darf das Werk, auch nicht Teile daraus, weder reproduziert, übertragen noch kopiert werden. Zuwiderhandlung verpflichtet zu Schadenersatz.

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

JACQUELINE HOFFMANN

De Temps en Temps

Von Zeit zu Zeit

Inhalt

Epilog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

Epilog

Schweißgebadet wachte Aurelie auf. Draußen war es noch dunkel. Der Vollmond schien auf ihr Bett und ließ auch den Rest ihres Zimmers in einem sanften Weiß erstrahlen. Seit fast 10 Jahren hatte sie nun diesen immer wiederkehrenden Traum. Nacht für Nacht. Doch was er bedeuten sollte, wusste sie nicht. Nur über eines war sie sich bewusst, dass er für sie nie gut endete. Sie starb unter Qualen und schrecklichen Schmerzen. Und dann war da dieser junge Mann. Sie spürte eine Verbindung zu ihm, obwohl sie ihn nicht erkannte. Denn egal, wie oft sie diesen Traum noch durchlebte, sein Gesicht war nie zu sehen. Aurelie stand auf und warf ihre Bettdecke mit dem Florenblumenmuster zur Seite.

Sie ging in die Küche, um sich dort ein Glas Wasser zu holen. Zurück im Zimmer schaute sie aus dem Fenster, hinauf in den Himmel, wo die Sterne funkelten und der Mond so viel Schönheit ausstrahlte. „Was bedeutest du nur? Was willst du mir sagen?“ Diese Frage stellt sie sich immer nach diesem Traum. Doch auch heute bekam sie keine Antwort. Sie legte sich wieder in ihr Bett und griff nach ihrem Handy. Sie steckte die weißen Kopfhörer ein und drückte auf Play. Es gab jetzt nur eine Sache, die sie beruhigen konnte. Nur seine Musik und seine Stimme gaben ihr wie so oft die Ruhe, die sie brauchte. Finn Martinez. Ein französischer Sänger. Seine Stimme gab ihr immer Kraft, weiterzumachen und zu kämpfen, wenn sie nicht mehr konnte.

Die Stimme drang in ihr Ohr und sofort spürte sie diese Vertrautheit und dieses warme, beruhigende Gefühl, welches sie jedes Mal spürte, wenn sie Finns Stimme hörte. Kurz darauf schlief sie ruhig. So als wäre nichts gewesen. Die nächtlichen Qualen begannen vor gut 10 Jahren, damals war Aurelie 20 Jahre und mit ihrer ehemaligen Chefin auf einem Weinseminar im Elsass. Da hörte sie durch Zufall das erste Mal einen seiner Songs im Radio. Der Titel des Songs war „Jusqu‘à tout temps“ Was so viel wie „Bis in alle Zeit“ hieß. Sofort war sie von seiner Stimme gefesselt. Vom ersten Moment an gab ihr seine Stimme Kraft und eine Wärme, die sie seitdem immer bei sich trug. Als Kind war Aurelie ein ruhiges, ja schüchternes Mädchen.

Sie wurde gehänselt und gemobbt. Nach solchen Vorkommnissen zog sie sich immer zurück und fühlte sich einsam und allein. Nur ihre Schwester Anna ließ sie hin und wieder an sich ran. Wie gerne hätte sie Finn damals schon gekannt. Seine Stimme hätte diese Zeit bestimmt etwas leichter gemacht. Doch zu dieser Zeit hatte er bestimmt noch keine Musik gemacht. Und heute konnte sie ihn auch nicht mehr treffen oder einen Brief schreiben, um ihm zu sagen, wie viel Kraft ihr seine Musik gibt.

Denn als Aurelie seine Stimme das erste Mal hörte, war er bereits 3 Monate tot. Gestorben bei einem tragischen Verkehrsunfall. Doch seine Stimme war für sie immer so vertraut gewesen all die Jahre. Sein Gesicht war ihr so bekannt, und wenn sie ihn sah, auf Bildern oder auf Videos, dann fühlte sich das wie nach Hause kommen an.

Von Jahr zu Jahr wuchs dieser schreckliche Schmerz der Sehnsucht nach ihm in ihr mehr und mehr. Aurelie kam sich blöd und kindisch vor und vertraute sich niemandem an. Man kann doch niemanden vermissen, den man nicht kennt oder doch? Und dann war da noch diese Frage in ihrem Kopf, warum sie sich schon immer so zu Frankreich hingezogen fühlte. Schon als kleines Kind verspürte sie Heimweh nach Frankreich, dabei war sie noch nie dort gewesen. Bis sie mit Anfang 20 das erste Mal arbeitsbedingt dort war. Sofort fühlte sie sich angekommen und zuhause. Ihr kam alles so vertraut und bekannt vor. Sie wollte am liebsten nie wieder zurück nach Deutschland. Doch das konnte sie nicht tun. Zum einen sprach sie kein Wort Französisch und zum anderen würde sie ihre Eltern und am meisten Anna schrecklich vermissen. Das Gefühl des Heimwehs nach Frankreich und dieser Sehnsuchtsschmerz nach Finn Martinez, veranlasste sie, sich dann mit dem Unmöglichen auseinanderzusetzen: Reinkarnation, Wiedergeburt, Seelenwanderung. Es gab so viele Bezeichnung, für das, an was Aurelie nicht glauben wollte. Und was auch weit über ihrer Vorstellungskraft lag.

Doch wie waren all die Gefühle und Gedanken sonst zu erklären? Dazu kam immer dieser Traum. Der Traum, in dem sie Nacht für Nacht starb. Die Träume begannen, kurz nachdem sie Finn das erste Mal im Radio gehört hatte. Seitdem kamen sie fast jede Nacht und ließen ihr keine Ruhe mehr. Wie also sollte all dies, was in ihrem Leben in den letzten Jahren passierte, sonst zu erklären sein? Auch wenn sie es nicht wahrhaben wollte, aber sie musste sich mit dem Unmöglichen auseinandersetzen. Und es sollte ihr Leben für immer verändern …

1

Heute ist Aurelie 30 Jahre alt, gelernte Restaurantfachfrau, Wein-Sommelière und sie darf ein kleines Café ihr Eigen nennen. Ihr langes dunkelbraunes Haar trägt sie am liebsten zu einem einfachen Zopf zusammengebunden. In ihrer normalen weiblichen Figur fühlt sich oft wohl, außer wenn sie ihre zwei Jahre jüngere Schwester Anna in tollen Outfits sieht. Diese würden Aurelie vermeintlich nie so gut stehen wie Anna. In diesen Momenten ist sie dann doch manchmal etwas eifersüchtig auf die Figur ihrer Schwester. Aurelie lebt mit Anna zusammen in einer kleinen 3-Zimmer-Wohnung und hat eine dicke Glückskatze namens Maja.

Alles wäre perfekt, wenn da nur nicht immer diese Sehnsucht wäre, die sie sich nicht erklären konnte … Die Sonne schien Aurelie ins Gesicht und weckte sie. Da sprang auch Maja zu ihr ins Bett. „Guten Morgen Maja. Scheinbar hat wenigstens eine von uns die Nacht gut geschlafen.“ Sie setzte sich im Bett auf und begann, Maja zu streicheln. „Ich hatte wieder diesen Traum, Maja. Ich weiß immer noch nicht, was er bedeuten soll. Es ist, als ob mich jemand ruft. Nur verstehe ich nicht, warum ich am Ende immer sterbe. Wenn ich nur mit jemandem darüber reden könnte.“ Aurelie wurde nachdenklich.

 

Sie knuddelte ihre Katze noch einmal und stand dann auf. „Guten Morgen, Anna“, begrüßte sie ihre Schwester, als sie in die Küche kam. Die Küche war nicht besonders groß, eher schlauchförmig. Sodass gerade eine Küchenzeile auf die linke Seite des Raumes passte und gegenüber noch ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen Platz fand. Ihre Schwester sah um diese Uhrzeit schon wieder viel zu gut aus. Sie hatte die langen blonden Haare zu einer tollen Frisur nach oben gesteckt, wodurch ihre blauen Augen noch mehr zur Geltung kamen, und sie trug eine Skinny Jeans und ihr schwarzes Kellner-T-Shirt aus Aurelies Café. Es stand ihr. Anna sah so unverschämt gut in den Sachen aus. Aurelie dagegen hatte sich eine bequeme Jeans und ihre Café-T-Shirt angezogen. Ihre Haare trug sie zu einem einfachen Knoten zusammengebunden. Gedankenversunken schenkte sich Aurelie den ersten, so wichtigen Kaffee des Tages ein. „Alles okay bei dir?“, fragte Anna, die bemerkt hatte, dass ihre Schwester etwas belastete. „Alles gut. Ich hatte nur wieder einen schlechten Traum.“

„Die hast du aber in letzter Zeit ziemlich häufig. Vielleicht solltest du mal mit einem Arzt reden.“

„Willst du mir jetzt sagen, ich soll zum Psychologen? Ich bin gesund. Es ist alles okay. Es sind nur Träume, Anna“, antwortete Aurelie ihr etwas gereizt. „Ja, aber Träume, die dich schon eine Weile quälen. Dein Unterbewusstsein will dir etwas sagen und du musst es zulassen. Ich glaube dir auch nicht, dass du die Träume erst seit ein paar Monaten hast, wie du mir versuchst weiszumachen. Ich bin nicht blind, Aurelie. Du bist seit Jahren so komisch am Morgen und willst mir erzählen, dass es erst seit einigen Monaten so ist?“ Aurelie schüttete ihren Kaffee in den Abguss und stellte die blaue Tasse in die Spüle. „Es ist gut, Anna. Ich bin nicht verrückt und es ist nur ein Traum. Er will mir nichts sagen und bedeutet auch nichts.“ Sie machte eine Pause und versuchte, wieder etwas freundlicher zu klingen.

„Und jetzt komm bitte, ich möchte das Café heute pünktlich öffnen.“ Dann verließ sie die Küche.

Sie wollte weg von Anna. Sie wollte nicht mit ihr darüber sprechen und erst recht nicht mit einem Psychologen. Sie ist doch nicht verrückt. Und ein Traum ruft nicht nach einem und er will dir auch nichts sagen. Träume sind nichts weiter als nächtliche Streiche des Gehirns. Dinge, die man sich vielleicht wünscht, aber niemals etwas Unerklärliches. Aber wie sollte sie sich dann nur all die Gefühle der letzten Jahre erklären? Egal. Nicht daran denken. Es gab Wichtigeres, als irgendwelchen Hirngespinsten hinterherzulaufen. Und was wusste Anna schon von ihren Träumen oder Gefühlen. Nichts wusste sie. Gar nichts.

Da Aurelie sie seit Jahren aussperrte, sie nicht an ihren Gedanken oder an ihren Leiden teilhaben ließ. Warum auch, sie war ja schließlich die große Schwester. Sie musste für Anna da sein und sie beschützen, nicht umgekehrt. Wenige Minuten später parkte Aurelie ihren kleinen blauen Wagen vor dem Café und begann, die Sachen, die sie im Großmarkt geholt hatte, auszuräumen. Da wird sie von einer älteren Dame angesprochen. „Guten Tag Aurelie. Ich habe dich ja schon lange nicht mehr gesehen.“

„Oh, Guten Tag Frau Meier.“ Die Dame hatte graues, gelocktes Haar und grüne Augen. Sie trug eine beigefarbene Bluse mit Rosenblütenaufdruck und eine blaue Stoffhose. Und ihr wichtigstes Accessoire, ein sehr liebenswertes, freundliches und warmes Lächeln. Aurelies Blick wanderte zu dem kleinen weißbraunen Jack Russel auf dem Arm der Damen. „Was hat denn ihr kleiner Max? Geht es ihm nicht gut?“ Mit trauriger Stimme antwortete ihr Frau Meier: „Nein, leider geht es ihm gar nicht gut. Er frisst nicht mehr und hat Schmerzen. Ich bin wieder auf dem Weg zur Tierärztin, aber ich denke, sie wird ihm nicht mehr helfen können.“ Dann bricht Frau Meier die Stimme weg. Aurelie reicht ihr ein Taschentuch. „Danke, Kindchen. Ich will dich gar nicht länger aufhalten. Manchmal tut es aber einfach nur gut zu reden. Dann fühlt sich der Schmerz oft nicht mehr so schlimm an und er wird leichter und verkraftbarer.“

Sie verabschiedete sich und ging. Aurelie aber schaute ihr noch eine Weile lang nach und war in Gedanken versunken, als Anna sie vom Türrahmen aus ansprach. „Kommst du jetzt rein oder willst du da Wurzeln schlagen? Die Kaffeemaschine spinnt auch schon wieder.“

„Ja, ich komme. Hilfst du mir noch beim Reintragen?“ Den ganzen Tag über kreisten nun Aurelies Gedanken um die Worte der alten Damen. Wie sollte sie Anna von ihrem Traum erzählen und davon, was sie für eine schreckliche Sehnsucht nach einem Toten hatte? Das klang doch krank! Anna würde sie bestimmt gleich einweisen lassen. Und wie sollte sie es ihr überhaupt sagen? Hallo Anna, ich glaube, ein Toter versucht, mich zu rufen oder mir etwas zu sagen? Allein bei dem Gedanken, es ihr zu sagen, wurde ihr schlecht. Egal, für was sie sich entschied, am Ende stand eines fest, wenn sie nicht bald eine Lösung finden würde, würde sie durchdrehen.

Am Abend schloss sie das Café ab und setzte sich in ihr Auto. Aurelie atmete tief durch und startete dann den Wagen. Sofort sprang auch die CD an, welche sich im Radio befand. Da erklang sie wieder, seine Stimme. Sofort war wieder dieses Gefühl von Sehnsucht und Heimweh in ihrer Brust zu spüren. Sie atmete noch einmal tief durch, machte den Rückwärtsgang rein und fuhr nach Hause.

2

Zuhause wurde sie von Maja begrüßt, die sich ihrem Frauchen um die Beine schmiegte und dabei laut schnurrte. „Na du, hast du mich vermisst?“ Sie zog die dünne graue Jacke aus, legte die Tasche und Autoschlüssel ab und ging in die Küche, um Maja ihr Futter zu geben. Da hörte sie Anna laut fluchen, die auch kurz darauf wutentbrannt in die Küche kam. „Kannst du mir sagen, wo unsere Heißklebepistole ist? Ich geh doch morgen Abend zu einem Geburtstag und beim Geschenkeinpacken ist es mir gerade runtergefallen. Und natürlich ist ein Stück abgebrochen.“

„Die müsste in der Stube sein. In dem kleinen Schrank unterm Fenster.“

„Danke.“ Anna wollte gerade wieder die Küche verlassen, als sie bemerkte, wie abwesend Aurelie aussah. „Sag mal, ist wirklich alles okay bei dir? Also irgendwie kommst du mir heute noch mehr durch den Wind vor als sonst.“

„Ich muss gerade an Frau Meier denken. Ihr kleiner Max musste heute wahrscheinlich eingeschläfert werden. Ihr ging es damit nicht gut. Er ist alles, was sie noch hat, seit ihr Mann vor zwei Jahren verstorben ist. Und sie sagte mir, dass Schmerz weniger wehtut, wenn man drüber redet. Als sie ging, schien sie mir wirklich besser drauf zu sein.“

„Heißt das, du willst endlich mit mir reden und mich nicht mehr ausschließen?“

„Ich würde gerne, aber du wirst mich für verrückt halten oder gleich einen Arzt rufen und mich zwangseinweisen lassen. Wie gerne würde ich mit dir darüber reden, aber ich verstehe meine Gefühle und Gedanken selbst nicht. Warum also dich damit belasten?“ Anna trat einen Schritt auf ihre Schwester zu. „Weil ich deine Schwester bin, Aurelie. Und ich immer für dich da bin, egal wie verrückt du wirst oder bist.“ Aurelie lächelte und nahm ihre Schwester in die Arme. „Danke, Anna.“

Nachdem Anna ihr Missgeschick repariert hatte und auch Maja versorgt war, kochten die Schwestern sich einen Kaffee und setzten sich dann gemeinsam, in eine grüne Fließdecke gekuschelt, auf den Balkon. Der Mond schien hell und die Sterne funkelten auf sie herab. „Fast wie früher“, lachte Anna. „Ja nur, dass es damals Kakao und kein Kaffee war“, sagte Aurelie lächelnd zu ihrer Schwester. „Dann erzähl mir mal von deinem Traum oder was dich sonst belastet.“ Aurelie holte tief Luft und nahm noch einen großen Schluck von ihrem schwarzen Kaffee. „Die Träume habe ich nicht erst seit ein paar Monaten. Da hast du nur das erste Mal gefragt, ob etwas nicht stimmt. Der Traum kommt jetzt seit fast 10 Jahren so gut wie jede Nacht.“

„So lange schon? Warum hast du nie etwas gesagt?“, unterbrach Anna ihre Schwester entsetzt. „Ich habe mich nicht getraut. Es gibt ja noch etwas, was mich seitdem belastet. Aber lass mich dir erst mal vom Traum erzählen, bevor mich der Mut wieder verlässt.“ Aurelie nahm wieder einen großen Schluck und begann, weiter zu erzählen. „In dem Traum bin ich nicht ich. Also ich sehe mir sehr ähnlich, aber irgendwie bin ich nicht ich. So als ob ich in einem anderen Körper wäre. Ich bin in einem Geschäft. Es könnte ein Café, eine Bäckerei oder ein Bistro sein. Das kann ich dir nicht genau sagen. Ich spüre, wie glücklich ich bin und dass mein Leben perfekt ist. Ich stelle eine Erdbeertorte, die ich scheinbar selbst gebacken habe, gerade in eine Auslage, als mich von hinten ein Mann umarmt.“

„Was für ein Mann? Will er dir was tun?“, fragte Anna dazwischen. „Nein. Er tut mir nichts. Er scheint mich zu lieben. Er dreht mich um, zieht mich vorsichtig zu sich und küsst mich zärtlich.“

„Das ist aber doch schön. Was ist daran so schrecklich, dass du nach dem Traum immer so durcheinander bist? Sieht er etwa nicht gut aus?“ Aurelie lächelte. „Das kann ich dir nicht sagen. Ich sehe sein Gesicht nicht. Er redet auch nicht, sodass ich wenigstens seine Stimme hören könnte. In diesem Moment spüre ich einfach nur pures Glück und enorm viel Liebe.“ Aurelie machte eine Pause. Jetzt kommt der Teil des Traumes, über den sie nicht reden will. Am besten gar nicht daran denken. Aber wie hat Frau Meier so schön gesagt, wenn man drüber redet, ist der Schmerz nicht mehr so groß. „Im nächsten Moment geht die Tür auf. Soldaten kommen herein. Sie tragen aber sehr alte Uniformen und es scheint mir so, als ob es auch keine deutschen Soldaten sind. Sie reißen uns auseinander. Sie schlagen den Mann zusammen und nehmen ihn mit in den hinteren Teil des Geschäftes, sodass ich ihn nicht mehr sehen kann.

Dann beginnen sie, auf mich einzutreten und mir Fragen zu stellen. Aber ich verstehe sie nicht. Sie sprechen eine andere Sprache. Dann fesseln sie mich und bringen mich auf einen Laster. Im nächsten Moment sehe ich mich in einem Raum liegen. Es ist dunkel und kalt. Zwei Männer kommen herein, schreien mich an, aber ich versteh sie wieder nicht.

Dann reißen sie mir die Kleider vom Leib.“ Ihr bricht die Stimme weg. Sie kann nicht mehr. Anna nimmt sie in die Arme und streicht ihr über den Kopf. „Du musst nicht weiterreden. Es ist okay.“ Aurelie greift nach einem Taschentuch. „Nein, nichts ist gut. Ich lebe mit diesem Traum und dieser Angst schon viel zu lange. Ich will dir alles erzählen.“ Sie nimmt noch einen Schluck von ihrem Kaffee, der mittlerweile schon kalt ist und beginnt weiter zu erzählen. „Nachdem sie mit dieser Abscheulichkeit fertig sind, stechen sie mehrfach mit einem Messer auf mich ein. Nur um mich dann sterbend zurückzulassen. Ich spüre die Schmerzen jedes Mal und wenn ich aufwache, tut mein ganzer Körper weh, so als ob ich diese Messerstiche gerade wirklich bekommen hätte.“ Anna ist sprachlos. Sie nippt an ihren Kaffee und lässt ihren Blick über die beleuchtete Stadt schweifen. Sie kann nichts sagen. Was soll man dazu auch sagen? Was sind die richtigen Worte, die sie ihrer Schwester danach sagen sollte?

Wenn es ein einmaliger Traum gewesen wäre, hätte sie gesagt, schau abends kein Fernsehen mehr, davon bekommst du solche Träume. Aber ihre Schwester quälte sich seit so vielen Jahren mit diesem Traum. „Warum hast du mir nicht schon viel früher davon erzählt?“, fragte Anna mit ruhiger Stimme. „Ich weiß nicht. Die Träume fingen an, als ich 20 war. Da habe ich das auf zu viel Internet, Bücher oder Fernsehen geschoben. Aber jedes Jahr wurde der Traum etwas länger. Neue Details kamen dazu und die Schmerzen wurden immer schlimmer und intensiver. Am Anfang war ich mir sicher, dass dieser Traum bald wieder aufhören würde. Aber nach 10 Jahren muss ich einfach wissen, was das zu bedeuten hat. Ich glaube langsam, er will mir etwas sagen oder zeigen. Keine Ahnung was, aber er macht etwas mit mir.“ Eine Weile sitzen die Schwestern einfach nur ruhig nebeneinander. „Und ich muss wissen, was aus dem Mann geworden ist. Was sie ihm angetan haben.

Weißt du, Anna, ich glaube nicht an Wiedergeburt oder Geister, aber ich spüre, dass das, was ich da sehe, eine wichtige Bedeutung hat. Und ich das nicht ohne Grund jede Nacht durchmachen muss.“ Anna stand auf und ging hinüber zum Balkongeländer. „Wann hat das alles angefangen? Also gab es einen Auslöser für diese Träume?“ Aurelie gab ihr nur ein kurzes, leises „Ja“ als Antwort. Und jetzt kam er also, der Teil, den sie noch viel weniger erzählen wollte. Jetzt würde sich entscheiden, ob Anna sie nur auslachte oder gleich in der Psychiatrie anruft. „Du weißt doch, dass ich schon seit Jahren diesen französischen Sänger höre.“ Anna überlegte kurz. „Du meinst den, der schon verstorben ist?“

 

„Ja genau. Finn Martinez. Weißt du, seit ich seine Stimme das erste Mal gehört habe, hat das irgendwas in mir ausgelöst. Es fühlt sich so an, als ob ich ihn schon lange kennen würde. Seine Augen, sein Lächeln, das kommt mir so vertraut und bekannt vor. Wenn ich ihn singen höre, fühle ich mich sicher und geborgen. Ich weiß, das klingt voll dämlich und gestört und um ehrlich zu sein, ist es mir auch peinlich, mit dir darüber zu reden, aber ich halte diesen Druck nicht mehr aus. In mir ist irgendetwas, was mir sagt, dass er mich ruft.“ Anna war still. Sie hörte ihrer Schwester zu. „Jetzt sag doch auch mal was. Ich erzähle dir hier, dass ich möglicherweise durchdrehe und du stehst einfach ganz still da.“ Anna nahm einen großen Schluck von ihrem nun auch kalten Kaffee und schaute nach unten auf die Straße. Sie sah die vielen Autos, die sich durch die engen Straßen den Weg nach Hause bahnten. Wie hektisch doch alles noch um diese Uhrzeit war.

Dann drehte sie sich zu ihrer Schwester um. „Warum hast du nicht eher mit mir geredet? Ich habe die letzten Jahre gedacht, dass dir was fehlt oder dass es dir nicht gut geht, aber ich dachte, so schlimm kann es nicht sein, du würdest ja sonst zu mir kommen und mit mir reden. Ich hatte den Gedanken, dass dir das mit dem Café vielleicht zu viel wird. Oder dass du genervt bist von mir und meinem Chaos, was ich immer hinterlasse. Aber ich hätte nie gedacht, dass es etwas ist, das dich so sehr belastet.“ Sie setzte sich wieder neben ihre Schwester und nahm sie kurz in die Arme, dann schaute sie ihr ins Gesicht. „Aurelie, du kannst mit mir über alles reden. Egal, wie merkwürdig oder verrückt es klingt. Ich bin für dich da.

Ich höre dir zu, egal, um was es geht oder wie verrückt es sich anhört. Ich werde dir helfen, herauszufinden, was dieser Traum oder auch deine Gefühle zu bedeuten haben.“ Aurelie nahm ihre Schwester erleichtert in die Arme. Wie groß war ihre Angst vor diesem Gespräch. Wie oft ist sie in Gedanken das hier schon durchgegangen, aber nie hätte sie mit dieser Reaktion gerechnet. Gehofft ja, aber nie gedacht, dass es so kommt. Hatte sie sich also in ihrer kleinen Schwester getäuscht? „So, jetzt lass uns lieber reingehen. Sonst erfrieren wir, bevor wir herausgefunden haben, was dein Franzose von dir will.“