Czytaj książkę: «Der Kandidat»
DER KANDIDAT
(EIN LUKE STONE THRILLER—BUCH 5)
J A C K M A R S
Aus dem Englischen von Simon Dehne
Jack Mars
Jack Mars ist der USA Today Bestseller Autor der LUKE STONE Thriller Serie, welche sieben Bücher umfasst (und weitere in Arbeit). Er ist außerdem der Autor der neuen WERDEGANG VON LUKE STONE Vorgeschichten Serie und der AGENT NULL Spionage-Thriller Serie.
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BÜCHER VON JACK MARS
LUKE STONE THRILLER SERIE
KOSTE ES WAS ES WOLLE (Buch #1)
AMTSEID (Buch #2)
LAGEZENTRUM (Buch #3)
UMGEBEN VON FEINDEN (Buch #4)
DER KANDIDAT (Buch #5)
DER WERDEGANG VON LUKE STONE
PRIMÄRZIEL (Buch #1)
PRIMÄRKOMMANDO (Buch #2)
EINE AGENT NULL SPIONAGE-THRILLER SERIE
AGENT NULL (Buch #1)
ZIELOBJEKT NULL (Buch #2)
JAGD AUF NULL (Buch #3)
EINE FALLE FÜR NULL (Buch #4)
AKTE NULL (Buch #5)
RÜCKRUF NULL (Buch #6)
ATTENTÄTER NULL (Buch #7)
KÖDER NULL (Buch #8)
EINE AGENT NULL KURZGESCHICHTE
„Der Tod ist vorzuziehen, da jedes Schicksal besser ist denn Tyrannei.“
– Aischylos
Zwei Jahre später…
KAPITEL EINS
02. November
02:35 Uhr Eastern Standard Time
Nahe des Tidal Basin – Washington, D.C.
„Okay“, sagte der Mann, während sein Atem in weißen Wolken davondriftete. „Was machen wir hier eigentlich?“
Es war schon spät. Die Nacht war kalt und ein leichter Regen fiel vom Himmel.
Sein Name war Patrick Norman und er sprach mit sich selbst. Er war Privatdetektiv, jemand, der es gewohnt war, lange Zeit alleine zu verbringen. Mit sich selbst zu reden war Teil seiner Arbeit.
Er stand auf dem betonierten Pfad nahe dem Ufer. Außer ihm war niemand zu sehen. Noch vor einem Moment hatte ein Obdachloser bedeckt von Zeitungspapier auf einer Bank ungefähr 50 Meter entfernt von ihm gelegen. Jetzt war er verschwunden und das Zeitungspapier lag auf dem nassen Boden verteilt.
Von Normans Standpunkt aus konnte er das Lincoln Memorial zu seiner Rechten sehen. Direkt vor ihm hinter dem Tidal Basin befand sich die Kuppel des Jefferson Memorials, beleuchtet in schimmerndem Blau und Grün. Die Lichter spiegelten sich auf dem Wasser wider.
Norman war schon lange im Geschäft und diese Art von Treffen mochte er am liebsten. Spät nachts an einem abgelegenen Ort, Treffen mit jemandem, der versuchte seine Identität zu verbergen – riskant. Aber das hatte sich schon oft bezahlt gemacht. Wenn nicht, wäre er jetzt nicht hier.
Auf dem betonierten Pfad ging ein Mann ging langsam auf ihn zu. Er war groß und trug einen langen Regenmantel und einen Hut mit weiter Krempe, der ihm tief ins Gesicht gezogen war. Norman beobachtete ihn, während er sich ihm näherte.
Plötzlich spürte er eine Bewegung hinter sich. Norman drehte sich um und sah, dass zwei weitere Männer da waren. Einer von ihnen war der Obdachlose von eben. Er war schwarz und hatte zerrissene Arbeitshosen und eine schwere Winterjacke an. Die Jacke war nass, fleckig und mit Dreck beschmutzt. Sein Haar stand in wirren Büscheln und Locken ab. Der zweite Mann war ein nichtssagender Niemand, ebenfalls in einer Regenjacke und mit einem Hut auf seinem Kopf. Er hatte einen buschigen schwarzen Schnauzbart – wenn Norman in später hätte beschreiben müssen, wäre das das einzige, was er über ihn aussagen könnte. Er war zu überrascht, um sich andere Details zu merken.
„Kann ich den Herren weiterhelfen?“, sagte Norman.
„Mr. Norman“, sagte der große Mann hinter ihm. Er hatte eine sehr tiefe Stimme. „Ich denke ich bin es, mit dem Sie reden wollen.“
Norman ließ seine Schultern fallen. Sie spielten mit ihm. Wenn sie ihm weh tun wollten, hätten sie das wahrscheinlich längst getan. Das beruhigte ihn ein wenig – sie waren offensichtlich Regierungsangestellte. Geister. Spione. Geheimagenten würden sie sich wahrscheinlich selbst nennen. Doch keine mysteriöse Informationsquelle, die ihm Geheimnisse verraten würde. Diese Typen hatten ihn mitten in einer verregneten Nacht hierherbestellt um ihm… was genau zu sagen?
Sie verschwendeten seine Zeit.
Norman drehte sich um. „Und Sie sind?“
Der Mann zuckte mit den Schultern. Ein Lächeln war unter seinem Hut zu erkennen. „Es ist nicht wichtig, wer ich bin. Was wichtig ist, ist für wen ich arbeite. Und ich kann Ihnen sagen, dass meine Vorgesetzten mit Ihrer Arbeit sehr unzufrieden sind.“
„Ich bin der Beste, den es gibt“, sagte Norman. Er antwortete ohne zu zögern. Er sagte es, weil er daran glaubte. Man konnte sich über vieles streiten. Aber eine Sache, die niemals zur Debatte stand, war die Qualität seiner Arbeit.
„Das haben sie auch geglaubt, als sie Sie angestellt haben. Ich denke, Sie können mir zustimmen, wenn ich sage, dass sie sehr geduldig gewesen sind. Sie haben Sie ein Jahr lang bezahlt, ohne Resultate zu erhalten. Doch plötzlich ist all diese Zeit vergangen und es wird langsam eng. Sie sind inzwischen dazu gezwungen worden, eine andere Richtung einzuschlagen. Sie haben gehofft, dass es nicht dazu kommen müsste. Die Wahl ist in fünf Tagen.“
Norman schüttelte seinen Kopf. Er hob seine Hände, die Handflächen nach oben. „Was kann ich Ihnen sagen? Sie wollten, dass ich Hinweise auf Korruption finde und ich habe mein Bestes getan. Es gab keine. Sie ist vielleicht vieles, aber nicht korrupt. Sie hat keinerlei Verbindungen zu den Geschäftsinteressen ihres Ehemanns, ob öffentlich oder privat. Ihr Mann verwaltet nicht einmal mehr die Tagesgeschäfte seiner Firma und die Firma hat keine Regierungsaufträge, weder hier noch sonst wo. Ihr gesamtes außereheliches Vermögen ist als Treuhandvermögen angelegt, ohne jeglichen Input von ihrer Seite – eine Maßnahme, die sie ergriffen hat, seit sie vor 15 Jahren zum ersten Mal in den Senat gewählt wurde. Es gibt keine Hinweise auf Bestechungen, nicht einmal ansatzweise.“
„Also sind Sie daran gescheitert, etwas zu finden?“, fragte der Mann.
Norman nickte. „Ich bin daran gescheitert –“
„Sie sind also gescheitert.“
Norman ging ein Licht auf, etwas, das er nicht bedacht hatte, da ihn noch nie jemand um so etwas gebeten hatte.
„Sie wollten, dass ich etwas finde“, sagte er, „egal, ob tatsächlich etwas da ist oder nicht.“
Die Männer um ihn herum sagten nichts.
„Wenn das so ist, warum haben sie es mir nicht gleich gesagt? Ich hätte ihnen gesagt, dass sie das vergessen können und dieses Missverständnis wäre nie zustande gekommen. Wenn Sie Gerüchte in die Welt setzen wollen, sollten Sie keinen Privatdetektiv anstellen, sondern einen Publizisten.“
Der Mann starrte ihn nur an. Sein Schweigen und das seiner beiden Handlanger, machte ihn nervös. Norman fühlte, wie sein Herz anfing, schneller zu schlagen. Sein Körper zitterte leicht.
„Haben Sie Angst, Mr. Norman?“
„Vor Ihnen? Kein bisschen.“
Der Mann blickte die beiden Männer hinter Norman an. Sie packten ihn, ohne ein Wort zu sagen. Sie blockierten seine Arme, zerrten sie hinter seinen Rücken und zwangen ihn auf die Knie. Die Feuchtigkeit vom Gras sickerte sofort durch seine Hosenbeine.
„Hey!“, schrie er. „Hey!“
Schreien war eine altbewährte Taktik, die er vor vielen Jahren in einem Selbstverteidigungskurs gelernt hatte. Sie hatte ihn schon einige Male gerettet. Wenn man angegriffen wird, sollte man so laut schreien, wie man nur kann. Das verunsichert den Angreifer und sorgt oft dafür, dass umstehende Personen zu Hilfe kommen. Niemand erwartet ein lautes Opfer, da man im Alltag nur selten die Stimme erhebt. Die meisten Opfer sind leise. Das war die schmerzhafte Wahrheit – schon viele Personen wurden beraubt, vergewaltigt oder ermordet, weil sie zu gut erzogen waren, um zu schreien.
Norman holte tief Luft, um den lautesten Schrei seines Lebens loszulassen.
Der Mann riss Normans Kopf an den Haaren nach oben und stopfte ein altes Tuch in seinen Mund. Es war riesig, nass und dreckig vor Öl, Benzin oder einer anderen Substanz und der Mann rammte es tief hinein. Er brauchte mehrere gewaltsame Anläufe, damit es richtig feststeckte. Norman konnte nicht glauben, wie tief es hineinging und wie es seinen gesamten Mund ausfüllte. Seine Kiefer waren so weit auseinandergespreizt, wie es nur ging.
Er konnte das Tuch nicht herauswürgen. Sein ätzender Geruch und der Geschmack waren unerträglich. Sein Magen rebellierte. Wenn er sich jetzt übergeben würde, würde er ersticken.
„Guh!“, sagte Norman. „Guh!“
Der Mann schlug Norman gegen den Kopf.
„Schnauze!“, zischte er.
Sein Hut war ihm vom Kopf gefallen. Jetzt konnte Norman seine wilden und gefährlichen blauen Augen sehen. Er sah weder Mitleid in ihnen noch Wut. Oder Humor. Sie zeigten überhaupt keine Emotionen. Unter seinem Mantel zog er eine schwarze Pistole hervor. Einen Moment später hatte er einen langen Schalldämpfer in der Hand. Langsam, sorgfältig, ohne jegliche Eile, schraubte er den Schalldämpfer auf den Lauf seiner Waffe.
„Wissen Sie“, fragte er, „wie diese Pistole klingen wird, wenn ich sie abfeuere?“
„Guh!“, sagte Norman. Sein gesamter Körper zitterte unkontrolliert. Sein Nervensystem war am Durchdrehen – so viele Signale, die gleichzeitig verarbeitet werden wollten. Alles, was er tun konnte, war Zittern.
Zum ersten Mal bemerkte Norman, dass der Mann schwarze Lederhandschuhe trug.
„Es klingt, als würde jemand Husten. Das denke ich mir jedes Mal. Als würde jemand so leise wie möglich Husten, als wollte er niemanden stören.“
Der Mann drückte die Waffe an die linke Seite von Normans Kopf.
„Gute Nacht, Mr. Norman. Es tut mir leid, dass Sie Ihre Arbeit nicht erledigen konnten.“
* * *
Der Mann betrachtete die Überreste von Patrick Norman, dem ehemaligen Privatdetektiv. Er war ein großer, dünner Mann gewesen und hatte einen grauen Regenmantel und einen blauen Anzug angehabt. Sein Kopf war zerstört, die rechte Seite offen aufgrund der Austrittswunde. Blut sammelte sich um ihn und begann, durch das nasse Gras und auf den Weg zu laufen. Wenn es so weiterregnen würde, würde das Blut wahrscheinlich einfach weggewaschen werden.
Aber die Leiche?
Der Mann gab die Pistole an einen seiner Helfer weiter, an den, der sich als Obdachloser verkleidet hatte. Er hatte ebenfalls Handschuhe an, kniete sich neben der Leiche nieder und drückte ihr die Waffe in die rechte Hand. Sorgfältig drückte er jeden von Normans Fingern an verschiedene Stellen der Pistole. Er ließ sie ungefähr 15 Zentimeter von ihm entfernt auf dem Boden liegen.
Dann stand er auf und schüttelte traurig seinen Kopf.
„Eine Schande“, sagte er mit einem Londoner Akzent. „Noch ein Selbstmord. Wahrscheinlich hatte er zu viel Stress auf der Arbeit. Zu viele Rückschläge. Zu viele Enttäuschungen.“
„Wird die Polizei das glauben?“
Der Engländer zeigte den Anflug eines Lächelns.
„Keine Chance.“
KAPITEL ZWEI
08. November
03:17 Uhr alaskischer Zeit (07:17 Uhr Eastern Standard Time)
Berg Denali
Denali Nationalpark, Alaska
Luke Stone bewegte sich nicht.
Er war in der Hocke und saß absolut still da, auf einem Flachdach hinter einer Brüstung aus grobem Zement. Die Nacht war heiß, die Luft war schwer – es war heiß genug, dass sich seine Kleidung mit Schweiß vollgesogen hatte. Er atmete schwer, seine Nasenflügel bebten, aber er machte keinerlei Geräusch. Sein Herzschlag in seiner Brust war langsam aber hart, wie eine Faust, die rhythmisch gegen eine Tür schlägt.
Bumm-BUMM. Bumm-BUMM. Bumm-BUMM.
Er lugte hinter der Ecke der Brüstung hervor. Vor ihm warteten zwei Männer mit dichten Bärten und automatischen Gewehren auf ihren Schultern. Sie standen am Rande des Gebäudes und beobachteten den Hafen unter ihnen. Sie unterhielten sich leise und lachten über etwas. Einer von ihnen zündete sich gerade eine Zigarette an. Luke griff hinunter zu seinem Bein, dort, wo sein Jagdmesser mit Klebeband an seiner Wade befestigt war.
Während Luke zuschaute, tauchte der große Ed Newsam auf. Er näherte sich von rechts und sah nahezu gelassen aus.
Er näherte sich den Wachen. Sie hatten ihn entdeckt. Ed hob seine Arme in die Luft, ging aber weiter auf sie zu. Einer der beiden brummte etwas auf Arabisch.
Luke schoss um die Ecke, sein Messer in der Hand. Eine Sekunde verging. Er raste auf die Männer zu, seine schweren Schritte krachten auf dem Kieseldach. Drei Sekunden, vier.
Die Männer hörten ihn und drehten sich um.
Jetzt griff Ed an, schnappte den Mann, der ihm am nächsten stand, am Kopf und verdrehte ihn gewaltsam nach rechts.
Luke schlug seinen Gegner in die Brust und beförderte ihn auf den Boden. Er landete auf ihm und drückte sein Messer mit aller Kraft in die Brustplatte des Mannes. Es glitt beim ersten Versuch hindurch. Er legte eine Hand auf den Mund der Wache und spürte seine borstigen Barthaare. Er stach wieder und wieder zu, rein und raus, schnell wie der Kolben einer tödlichen Maschine.
Der Mann wehrte und wand sich, er versuchte Luke hinunterzustoßen, aber Luke schlug seine Hände beiseite und stach weiter zu. Das Messer machte bei jedem Stich ein feuchtes Geräusch.
Der Mann ließ seine Arme langsam sinken. Seine Augen waren noch offen und er war noch am Leben, aber er hatte keine Kraft mehr, sich zu wehren.
Bring es zu Ende. Bring es jetzt zu Ende.
Luke riss den Kopf des Mannes nach oben, seine freie Hand immer noch auf seinem Mund und ließ seine Klinge über seine Kehle gleiten. Ein Blutstrom pulsierte hervor.
Das war’s.
Luke ließ die Hand auf seinem Mund, bis der Mann weggetreten war. Er starrte nach oben in den schwarzen Nachthimmel, während das Leben seinen Gegner langsam verließ.
„Schau deinen Mann an“, sagte Ed. „Schau hin!“
„Ich will nicht“, sagte Luke. Er starrte nur weiter in den Himmel, die Millionen von Lichtern der Milchstraße über ihm. Er konnte etliche Sterne sehen. Es war… Ihm fehlten die Worte. Schön war nur eines von denen, das ihm in den Sinn kam. Er wollte nie wieder etwas anderes als diese Sterne sehen. Er wusste, was ihn erwarten würde, wenn er wieder nach unten schauen würde – er hatte es schon zu oft gesehen.
„Du musst hinsehen, Mann“, sagte Ed weich. „Es ist dein Job hinzusehen.“
Luke schüttelte seinen Kopf. „Nein.“
Aber er hatte keine Wahl. Er blickte auf die Leiche unter sich. Der schwarze Bart des Dschihadi war verschwunden. Anstelle des rauen Gesichts waren die schönen Züge einer Frau getreten. Das lockige schwarze Haar war jetzt lang, weich und hellbraun.
Luke hatte seine Hand immer noch auf ihrem Mund. Ihre leblosen blauen Augen starrten ihn an, ohne etwas zu sehen – die Augen seiner Frau, Becca.
Ed flüsterte jetzt. „Du hast es getan, Mann. Du hast sie umgebracht.“
Luke schreckte auf.
In tiefster Dunkelheit setzte er sich kerzengerade hin, während sein Herz immer noch wie wild pochte. Er war nackt und sein Körper war schweißgebadet. Sein Haar war ein langes, verfilztes Durcheinander. Sein blonder Bart war so dick wie der eines heiligen Kriegers des Islam. Mit seiner Frisur und dem Bart konnte man ihn leicht mit einem Obdachlosen verwechseln.
Er war in einen dicken Schlafsack eingewickelt – ausgelegt für extreme Temperaturen, bis zu 20 Grad unter null. Außerhalb seines kleinen Zelts heulte der Wind – das Zelt flatterte wie verrückt, ein Geräusch, das den Wind fast übertönte. Er war alleine auf fast 5000 Meter Höhe am westlichen Hang des Denali und der Berg war bereits mitten im Winter. Ein Schneesturm war vor zwei Tagen aufgezogen und hatte bis jetzt nicht aufgehört.
Seitdem hatte er kein Feuer machen können. Er hatte das Zelt seit 40 Stunden nicht verlassen, außer um Wasser zu lassen. Es waren noch weitere 1000 Meter bis zum Berggipfel und es sah so aus, als würde er es nicht mehr dorthin schaffen. Vielleicht würde er es nirgendwo mehr hinschaffen.
Er war denkbar unvorbereitet hierhergekommen – das wurde ihm jetzt klar. Er hatte genug Wasser für vier Tage – es war ihm vor zwei Tagen ausgegangen. Inzwischen musste er Schnee essen und aufgetautes Eis trinken, um genug Wasser zu bekommen. Aber das war nicht das größte Problem. Feste Nahrung war schlimmer. Er hatte einen Stapel getrockneter Mahlzeiten mitgebracht. Von ihnen war jetzt fast nichts mehr übrig. Als der Sturm aufgezogen war, hatte er begonnen, die Mahlzeiten zu rationieren. Er nahm weniger als die Hälfte Kalorien zu sich, die er normalerweise täglich benötigte – zum Glück hatte er sich seit zwei Tagen kaum bewegt und sparte Energie, wo er nur konnte.
Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, einen Campingkocher mitzunehmen. Er hatte kein Radio, also hatte er keine Ahnung, was der Wetterbericht vorhersagte. Er war mit einem privaten Helikopter eingeflogen worden und hatte sich nicht beim Parkservice gemeldet. Niemand außer dem Piloten wusste, dass er hier draußen war und er hatte ihm nur gesagt, dass er ihm Bescheid geben würde, wenn er fertig war.
„Versuche ich, mich selbst umzubringen?“, fragte er sich laut. Er erschreckte sich fast vor dem Geräusch seiner eigenen Stimme.
Er kannte die Antwort. Nein. Nicht unbedingt. Wenn es passierte, okay, aber er versuche nicht aktiv zu sterben. Man könnte behaupten, dass er das Schicksal herausforderte, unnötige Risiken einging, seitdem Becca gestorben war.
Aber er wollte leben. Er wollte überleben. Wenn er das nicht schaffen würde…
Als Ehemann war er eine Niete gewesen. Als Vater hatte er versagt. Mit 41 Jahren war seine Karriere vorbei – vor zwei Jahren hatte er sich aus dem Regierungsdienst verabschiedet und sich keinen Ersatz gesucht. Er hatte schon eine Weile nicht auf seine Konten geschaut, aber er nahm an, dass er fast kein Geld mehr hatte. Das einzige, was er einigermaßen gut konnte, war in rauen und unnachgiebigen Umgebungen zu überleben. Und töten – darin war er auch gut. Abgesehen davon war er eine komplette, elende Niete.
Vielleicht würde er hier auf diesem Berg sterben, aber diese Aussicht machte ihm keine Angst.
Er fühlte sich leer… wie betäubt.
„Ich sollte mir überlegen, wie ich hier rauskomme“, sagte er, aber er murmelte nur vor sich hin. Hier wäre ein annehmbarer Ort, um zu sterben und es wäre nicht einmal besonders schwer. Alles was er tun musste war… nichts. Schließlich – schon bald – würde ihm das Essen ausgehen. Geschmolzenen Schnee zu trinken würde ihn nicht besonders lange versorgen. Er würde langsam schwächer werden, bis es am Ende unmöglich wäre, aus eigener Kraft wieder abzusteigen. Er würde verhungern. Irgendwann würde er einfach einschlafen und nie wieder aufwachen.
Was sollte er nur tun?
Plötzlich fing er an zu schreien, wie aus reinem Instinkt.
„Gib mir ein Zeichen! Sag mir, was ich tun soll!“
In dem Moment machte sein Telefon ein Geräusch, das er schon lange nicht mehr gehört hatte – es klingelte. Er erschreckte sich und sein Herz setzte einen Moment lang aus. Der Klingelton war so laut, wie man ihn nur stellen konnte. Es war ein Rocksong, den sein Sohn, Gunner, vor zwei Jahren eingestellt hatte. Luke hatte ihn nie geändert. Er hatte ihn absichtlich behalten. Es war seine letzte Verbindung zu ihm.
Er schaute das Handy an. Es kam ihm fast lebendig vor, wie eine giftige Viper – man musste sich vorsehen, wie man sie anfasste. Er nahm es in die Hand, überprüfte die Nummer und ging schließlich ran.
„Hallo?“
Er hörte nur Statik. Natürlich, das dicke Zelt blockierte das Satellitensignal. Er müsste nach draußen gehen, um den Anruf anzunehmen – kein besonders angenehmer Gedanke.
„Ich muss Sie zurückrufen!“, rief er in den Hörer.
Obwohl er sich beeilte, dauerte es mehrere Minuten, die Schichten an Kleidung anzuziehen, die er benötigte. Es war zu kalt draußen, um sich nur etwas überzuwerfen. Er öffnete den Reißverschluss des Zelts und krabbelte nach draußen in den Sturm. Der Wind und das beißende Eis schlugen unmittelbar auf sein Gesicht. Hoffentlich ging es schnell.
Er hängte eine Lampe an das Zelt und stolperte ein paar Meter weiter. Er hatte eine starke Taschenlampe dabei und drehte sich alle paar Meter um, um die Richtung zurück zu überprüfen. Abgesehen von seinem Zelt gab es hier draußen keine Lichter und er konnte nur etwa 20 Meter weit sehen. Schnee und Eis wirbelten um ihn herum.
Er drückte den Knopf, um zurückzurufen und hielt das Telefon an sein Ohr. Er stand da wie eine Statue und hörte dem Piepsen zu, während das Telefon Daten mit dem Satelliten austauschte und versuchte, den Anruf durchzustellen.
„Stone?“, sagte eine tiefe männliche Stimme.
„Ja.“
„Die Präsidentin der Vereinigten Staaten.“
Einen kurzen Augenblick war es still in der Leitung.
„Luke?“, sagte eine weibliche Stimme.
„Frau Präsidentin“, rief Luke. Er konnte nicht anders, als zu lächeln. „Ganz schön lange her.“
„Viel zu lange“, sagte Susan Hopkins.
„Welchen Umständen verdanke ich diese Ehre?“
„Ich stecke in Schwierigkeiten“, sagte sie. „Du musst herkommen.“
Luke dachte einen Moment lang nach. „Äh, ich bin in der tiefsten Wildnis. Es wird ein bisschen schwer, zu –“
„Das ist egal“, sagte sie. „Wo auch immer du bist, ich schicke ein Flugzeug. Oder einen Hubschrauber. Was auch immer du brauchst.“
„Ein freundlicher Bernhardiner wäre zunächst mal nicht schlecht“, sagte Luke. „Einen mit diesen kleinen Whiskeyfässern um den Hals.“
„Abgemacht. Er kann dir auch ein Sandwich mitbringen, falls du Hunger hast.“
Luke lachte fast. „Das klingt gut. Und wenn ich fertig gegessen habe, wäre ein Hubschrauber tatsächlich nicht schlecht.“
„Auch abgemacht. Bevor wir auflegen gebe ich dich an jemanden weiter, der deine Koordinaten aufnimmt und dir ein Taxi schickt. Du weißt, wie es bei uns läuft. Rundum-Service.“
Luke musste zugeben, dass er erleichtert war. Nur wenige Augenblicke zuvor hatte er keine Möglichkeit gehabt, von diesem Berg zu entkommen. Jetzt hatte er seine zweite Chance. Er hatte nicht gewusst, ob er sterben oder leben wollte – doch jetzt war es ihm klar. Das Rauschen seines Blutes, als sie gesagt hatte, sie könnte jemanden schicken, hatte es ihm verraten. Die Erkenntnis war in seinem Kopf vielleicht noch nicht angekommen, doch sein Körper wusste es.
Er wollte leben.
Trotz allem, was er durchgemacht hatte, wollte er leben.
„Was ist passiert?“, sagte Luke.
Sie zögerte und er bemerkte, wie ihre Stimme nur ganz leicht zitterte. Trotz des Windes konnte er es hören. „Gestern war die Wahl.“
Luke dachte darüber nach. Er war so lange untergetaucht, dass er keine Ahnung gehabt hatte, was für ein Datum heute war. Irgendwo weit weg, in einer anderen Welt, führte man noch Wahlkampf. Die Räder der Regierung drehten sich unaufhörlich weiter. Es gab Dinge, die diskutiert werden wollten und wichtige Entscheidungen, die man treffen musste. Es gab die Medien und Nachrichtensprecher, die miteinander diskutierten. An all diese Dinge hatte er lange nicht mehr gedacht. Er hatte sogar fast vergessen, dass sie überhaupt existierten.
Lange Zeit schwiegen sich die beiden an.
„Luke“, sagte Susan. „Ich habe die Wahl verloren.“