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J.D. David

Sonnenfeuer

Legenden von Valorien

Legenden von Valorien

Sonnenfeuer

J.D. David


Impressum

© 2017 J.D. David

Druck und Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

ISBN 978-3-7450-6798-9

Printed in Germany

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.


Prolog 770 St. Gilbert

„Pfeile los!“

Es war dieser eine Befehl, den Daron nicht glauben konnte. Aber der Ritter aus Tandor rief ihn mit voller Kraft und wie die anderen Soldaten ließ er die Sehne los. Er schaute noch seinem Pfeil nach. Und den all den anderen Pfeilen, die auf die Reiter zuflogen. Er sah den eigenen Pfeil nicht mehr, fühlte aber, dass er sein Ziel fand. Die Reiter der Kronlande. Die doch gerade noch ihre Verbündeten gewesen waren.

„Ulf, beende diesen Wahnsinn!“, hörte er den Ruf des zweiten Ritters. Alois von Schöngau. Doch der glatzköpfige Anführer schaute nur nach vorne, während Soldaten aus Tandor Alois abführten.

„Weiter schießen. Dies sind Verräter an unserer Heimat. Sie müssen den Tod finden. Pfeile los!“, rief Ulf von Darbenkort mit fester Stimme. Wie in Trance zog Daron den nächsten Pfeil aus dem Köcher und schickte ihn den Hügel hinab.

Während ein fremder Geist ihn dazu zu zwingen schien, wie seine Kameraden neben ihm zu handeln, fragte er sich, wie es soweit hatte kommen können. Gerade noch war er in Rethas gewesen, in seinem Heimatdorf Velken. Zusammen mit seinem Freund Feslan, der ihm nach dem Tod der Eltern fast zum Bruder geworden war. Dazu die anderen Jungs. Der ältere Borchart, der jüngere Dodo, der in seinem Alter war, oder all die anderen Jungen aus Velken. Doch dann war der Befehl von Herzog Helmbrecht gekommen und jeder Junge, der zumindest fünfzehn Sommer gesehen hatte, war in den Krieg gezogen.

Er ließ den nächsten Pfeil fliegen. Die Reiter kamen den Hügel hinauf und kamen näher und näher. Dennoch hatten sie keine Chance. Zu schlecht war ihre Lage, den Hügel aufwärts die Fußsoldaten angreifen zu müssen. Zu groß die Anzahl der Verteidiger, die ihnen mit einer Salve nach der nächsten den Tod schickten.

Mit zitternden Händen zog er den nächsten Pfeil. Er erinnerte sich in der Bewegung daran, wie sein Vater ihm einst das Bogenschießen beigebracht hatte. In dessen letztem Herbst, bevor er wie die Mutter den Winter nicht überlebte. Daron hatte noch immer die gleichen krausen, schlammbraunen Haare wie damals, die zu allen Seiten abstanden und sich nicht bändigen ließen. Doch sein Gesicht war seitdem strenger geworden, härter. Nicht nur das Alter, sondern auch die Bitterkeit des jungen Lebens hatten ihn gekennzeichnet. Im Winter hatte sich sogar der erste Flaum an seiner Lippe gebildet. Dennoch war er noch mehr Junge als Mann, der Körper nicht voll ausgewachsen oder gestählt.

Erneut ließ er die Sehne los. Mittlerweile schossen die Schützen mehr nach vorne, als nach oben. Die ballistische Flugbahn war nicht mehr notwendig, die Feinde waren schon näher. Doch es waren nur noch wenige, die ihre Pferde weiter trieben. Daron beobachtete die Flugbahn seines Pfeils. Er wollte eigentlich gar nicht sehen, ob er traf. Er wollte nicht für den Tod eines Mannes verantwortlich sein. Doch es war genau dieses Entsetzen, das ihn starren ließ. Er konnte den Blick nicht abwenden. Und dann sah er wie der Pfeil traf.

Zu seiner Verwunderung war es nicht ein Mann, den er traf. Die junge Frau in voller Rüstung schrie auf. Ihr Schild sank nach unten, als sich sein Pfeil in die Schulter bohrte. Er konnte das Wappen gerade noch erkennen. Ein silbernes Schwert auf dunkelblauen Grund, darunter ein silberner Halbmond. Fast wie das Wappen des Reiches, und dennoch anders. Er beobachte die Reiterin. Selbst durch den eigentlich fatalen Treffer schien ihr Angriff nicht zu stoppen zu sein. Sie schaute entschlossen und Daron erkannte die Schönheit der Person. Wie konnten sie nur ihre eigenen Kameraden angreifen? Wie nur etwas so Schönes zerstören?

„Hey, weiterschießen, sonst erreichen die uns noch.“, hörte Daron die Stimme von Feslan neben sich, die sich sogar über den Lärm der Schlacht erhob. Über die Hufschläge und die fernen Schreie der Sterbenden. Daron nickte und zog den nächsten Pfeil aus dem Köcher. Er legte an, spannte den Bogen und zielte.

Noch immer sah er die Frau, die den Linien näher und näher kam. Noch weitere Pfeile hatten sie getroffen, aber mit unbändigem Willen hielt sie sich im Sattel. Er wusste, dass ein einziger Pfeil das Ende bedeuten konnte. Doch sie ritt weiter und weiter.

Daron riss den Bogen leicht nach oben und ließ den Pfeil los. Er sah noch, wie dieser flog und über die Ritterin hinweg glitt. Dann ging alles ganz schnell. Mit einem letzten Anritt erreichte diese die erste Linie, tötete einen, dann den nächsten Mann. Er schaute ihr noch nach, als sie ein Banner aus dem Boden riss und die Spitze dem verdutzt schauenden Ulf von Darbenkort, der ihren Angriff befohlen hatte, in die Brust trieb. Beide fielen vom Pferd. Beide schienen tot.

„Haltet ein. Soldaten Valoriens, senkt die Waffen!“, hörte Daron den lauten Ruf eines anderen Mannes. Er drehte sich um und erkannte den zweiten Ritter, der sie angeführt hatte. Mit einer schnellen Bewegung zog dieser seine Waffe und hielt die einstigen Bewacher in Schach. Als der eine Tandorer Anstalten machte, seine Waffe zu ziehen, durchbohrte die prachtvolle Waffe von Alois dessen Leib. Die anderen zogen sich schnell zurück.

Alois schwang sich auf ein Pferd und ritt vor die Reihen. „Im Namen des Königs, legte alle die Waffen nieder. Dieser Wahnsinn, dieser Verrat ist vorbei. Als Ritter Valoriens führe ich nun dieses Heer.“, sagte er mit kraftvoller Stimme. Nach dem Tod des tandorischen Freiherrn schien ihm niemand widersprechen zu wollen. Viele Soldaten senkten den Blick zu Boden. Eine fast gespenstische Stille legte sich über das Schlachtfeld.

Daron war einer der ersten Männer, die sich regten. Erneut schien es jemand anderes zu sein, der ihn lenkte, aber diesmal ein guter Geist. Er warf den Bogen davon und lief nach vorne. Zu den Verwundeten, die über den Hügel verstreut lagen, dazwischen sich windende Körper sterbender Pferde. Daron wusste nicht wirklich wohin, aber er lief. Er wollte denen helfen, die doch bis vor wenigen Momenten ihre Kameraden gewesen waren.

Es schien, als hätte die Bewegung des Jungen eine Welle ausgelöst. Mehr und mehr Soldaten Valoriens lösten sich, um die Verwundeten zu retten, oder auch nur den Sterbenden das Ende leichter zu machen. Kurz schaute Daron noch hoch auf den Hügel und sah, wie der Ritter Alois zu der gefallenen Ritterin ging und an ihrer Seite niedersank. Dann richtete Daron den Blick wieder nach vorne.

„Hilf mir.“, hörte er die leise Stimme eines Jungen neben sich. Daron wandte sich um und ging auf die Stimme zu. Erst konnte er den Verwundeten gar nicht sehen, aber dann erkannte er unter dem Leib des toten Pferdes einen jungen Soldaten. Obwohl er deutlich größer als Daron selbst aussah, erkannte man an dessen Gesicht, dass er kaum war. Die braunen Haare mit einer rötlichen Tönung waren kurz geschnitten, Sommersprossen bedeckten das Gesicht, über das ein sich eine Blutspur aus einer Platzwunde am Kopf bildete.

„Ich bin eingeklemmt.“, keuchte der Junge. „Bitte töte mich nicht. Ich bin Leon von Aueneck. Du bekommst für mich bestimmt ein großzügiges Kopfgeld.“, sprach er leise weiter. Obwohl er mit dem Tod zu rechnen schien, konnte man keine Angst in dessen Augen erkennen.

Daron schüttelte den Kopf. „Nein, ich bin nicht hier um dich zu töten. Der Ritter, der den Angriff befahl, ist tot. Wir wollen euch helfen.“, sagte er und drückte an dem Pferd. Doch es schien hoffnungslos, zumindest alleine.

Daron drehte sich um, um nach Hilfe zu rufen, als er schon Feslan erkannte, der auf ihn zulief. Seine schwarzen, langen Haare klebten ob des Schweißes an seinem Gesicht, das im Vergleich zu Daron bereits das Gesicht eines Mannes war. Ihm folgten der kräftige Borchart, der trotz junger Jahre eine Glatze trug, und der etwas dickliche Dodo mit seinen blonden Haaren.

„Hey, helft mir.“, rief Daron zu den Jungen, die sofort zu ihm kamen.

„Lebt er noch?“, fragte Feslan und nickte zu Leon, der kurz die Augen geschlossen hatte. Wie eine Antwort schlug der Knappe diese wieder auf und fixierte den Soldaten mit seinem Blick.

„Ja, helft mir das Pferd runterzuschieben.“, antwortete Daron für Leon und drückte mit den vier Anderen an dem schweren Leib des toten Tieres. Stück für Stück schafften sie es, dieses zur Seite zu drücken, bis Feslan schließlich Leon hinunter hervor ziehen konnte.

Der junge Knappe sah schrecklich aus. Zu der Platzwunde am Kopf kamen eine Pfeilwunde am Arm, sowie die Beine, die unter der Last des Pferdes anscheinend gebrochen waren. Daron bezweifelte, dass der junge Mann je wieder laufen würde.

„Wir müssen ihn ins Heerlager bringen.“, sagte Daron bestimmt. Er zeigte auf gebrochene Speere. „Lasst uns daraus eine Trage bauen.“ Obwohl er deutlich jünger war als zumindest Feslan und Borchart nickten diese nur und folgten den Anweisungen wortlos.

„Hey, ihr. Der Ritter von Schöngau hat befohlen, dass sich alle Unverwundeten sammeln.“, hörte Daron die Stimme eines Offiziers.

„Wir helfen dem hier noch.“, antwortete Feslan für ihn und der Offizier schaute mitleidig auf den verletzten Leon. Dann nickte er. „In Ordnung. Aber kommt dann sofort ins Heerlager. Wir brechen bald auf. Nach Burg Eisentor.“

„Hey, Daron.“

Der junge Soldat schreckte auf. Vor Erschöpfung war er sofort fest eingeschlafen, nachdem sie ihr Lager aufgeschlagen hatten. Als er nun die Augen öffnete und Feslan erkannte, der ihn weckte, sah er, dass es noch immer tiefste Nacht war. Nur der Fackelschein durchbrach mit einem rötlichen Flackern die Dunkelheit.

„Was ist?“, fragte Daron den Älteren und schaute sich um. Neben ihm lagen weitere Soldaten schlafend. Neben Feslan stand Borchart, der gerade Dodo weckte.

„Wir hauen hier ab. Sei still.“, antwortete Feslan und legte den Finger auf den Mund. Feslan und Borchart waren am Abend zur Wache eingeteilt worden. Das erklärte, wieso sie wach waren. Aber ihr Plan erschloss sich Daron nicht.

„Nein. Wieso? Wenn sie uns finden, dann werden wir bestraft.“, antwortete er immer noch flüsternd. Die Schlacht, die doch keine gewesen war, war nun zwei Tage her. Sie hatten den verletzten Leon von Aueneck ins Lager gebracht, wo sich einige Frauen seiner angenommen hatten. Dann war das Heer weiter gezogen, nach Süden, in Richtung Burg Eisentor. Alois von Schöngau hatte eine berittene Vorhut vorgeschickt und dennoch die Fußsoldaten zur Eile angetrieben. Die nächtliche Ruhe war meist nur kurz, bevor der Marsch weiterging. Und so wurde das Heer jeden Tag erschöpfter, während sie der Grenzfestung näher kamen.

„Jetzt komm schon. Draußen ist niemand, wir haben geschaut. Bis die merken, dass wir weg sind, sind wir schon auf halbem Weg nach Rethas. Außerdem sucht niemand nach vier Männern.“ Kurz zögerte Daron, als Feslan noch etwas hinzufügte. „Die Adeligen bekämpfen sich gegenseitig. Dafür will ich nicht sterben. Sollen die sich doch alle selber die Köpfe einschlagen.“

Daron wusste nicht genau wieso, aber er nickte nur und stand so leise wie möglich auf. Feslan war ihm wie ein Bruder. Und er vertraute ihm. Wenn er diesen Entschluss gefasst hatte, würde er ihm folgen. Das war sicher.

„Also los.“, sagte Daron und schlich sich mit den drei anderen Deserteuren von den Schlafenden davon.

Als der Morgen des nächsten Tages anbrach, hatten die vier Flüchtenden das Heerlager bereits weit hinter sich gelassen. Die Sonne kroch über den Horizont und wies ihnen den Weg: nach Osten. Nach Rethas. Nach Velken, ihrer gemeinsamen Heimat. Weg von dem Krieg, den Schlachten und dem unnötigen Blutvergießen.

„In Ordnung, wir sollten hier kurz rasten.“, unterbrach Feslan ihren Marsch. Der junge Mann hatte sich schnell als Anführer der Gruppe herausgestellt, war er doch auch schon in der Heimat Wortführer der Jungen des Dorfes gewesen. Dodo ließ sich erschöpft auf den Boden fallen. Auch Daron atmete seufzend aus, denn sie hatten ein scharfes Marschtempo angeschlagen, um schnell voran zu kommen. Nur Borchart schien wenig angestrengt.

„Daron, teile du ein bisschen unserer Vorräte aus. Dodo, ruh dich kurz aus, es geht gleich weiter. Borchart, geh du dort oben auf den Hügel und schau dich ein bisschen um, ob Dörfer oder andere Reisende in der Nähe sind.“, gab Feslan den anderen kurze Befehle. Dodo und Daron nickten stumm, während Borchart brummte, etwas erwidern wollte, es sich dann aber anders überlegt. Mit seinem Bogen in der Hand begann er die kleine Anhöhe hochzusteigen, an dessen Fuß die Gruppe Schutz gesucht hatte.

Daron ließ die Umhängetasche, die er trug, zu Boden sinken und kniete sich hin, um den Inhalt zu inspizieren. In der Eile hatten sie schnell zu einigen Vorräten gegriffen, ohne genau zu gucken, was es war. Die Ausbeute sah nicht schlecht aus. Einige Säckchen mit Körnern, aus denen man Brei kochen konnte, ein größeres Stück Käse, sowie einige Stücke getrocknete Wurst und Schinken. Dazu noch zwei Laibe Brot. Daron griff nach einem der Brote und brach vier Stücke ab, um diese Dodo und Feslan zu geben.

„Hier, das können wir schnell ohne Feuer zu machen essen. Wir sollten mit unseren Vorräten gut haushalten, wenn wir bis nach Rethas Städte meiden wollen. Darum muss das erstmal reichen.“, sagte Daron zu den beiden, während sich Dodo schon über das Stück Brot hermachte.

„Ja, sehr gut Daron.“, bestätigte ihn Feslan und biss dann auch genüsslich in das Brot. Dann ließ er seinen Blick auf den Hügel schweifen. Zu Borchart, der diesen gerade erklomm, und oben angekommen über das Land schaute. Doch dieser Moment dauerte nicht lang.

Ein kurzer Aufschrei von Borchart war noch zu hören und dann brach der kräftige Mann zusammen und rutschte den Hügel hinunter. Selbst von unten konnte man den Pfeil erkennen, der ihm im Leib steckte.

„Verdammt. Lauft!“, rief Feslan nur und ließ das Brot fallen. Er rannte los, auf den kleinen Wald zu, der vor ihnen lag. Daron sprang sofort auf folgte dem Bruder. Er war schon immer ein schneller Läufer gewesen und holte diesen trotz dessen Vorsprung sofort ein. Dodo brauchte länger, um die Situation zu realisieren und seinen schweren Körper aufzurichten, folgte dann aber den beiden anderen.

„Hey, wartet auf mich.“, rief er panisch. Jetzt hörte Daron auch die Hufschläge. Hufschläge, die nichts Gutes bedeuteten. Wäre der Feind auch zu Fuß gewesen, hätten sie eine gute Chance gehabt, zu fliehen. Doch der Weg zum Wald war noch weit und die Verfolger hatten so einen großen Geschwindigkeitsvorteil. Hektisch schaute Daron über die Schulter zurück.

Hinter ihnen sah er die Verfolger. Es waren in der Tat Reiter, bestimmt fast zehn Mann. Wie sie selbst waren sie nur leicht gerüstet und hatten Bögen. Aber an der Art ihrer Kleidung erkannte man genauso wie an dem Reitstil, dass es sich um Urben des Herzogs von Tandor handeln musste. Kurz sah Daron Dodo noch, wie dieser strauchelte. Dann trafen den Jungen schon mehrere Pfeile in den Rücken und er schlug tot auf den Boden auf. Daron wandte sich wieder ab. Er schaute nach vorne. Nur nach vorne. Und rannte, so schnell ihn seine Beine tragen konnten.

Er spürte, wie rechts und links von ihm Pfeile flogen. Doch weder er noch Feslan, der neben ihm rannte, wurden getroffen. Sie schlugen ein paar Haken, um ein schwerer zu treffendes Ziel zu sein, während sie spürten, wie die Reiter näher und näher kamen. Doch auch der Waldrand kam näher. Und obwohl er es nicht geglaubt hatte, rannte Daron dann zwischen die Bäume. Das Licht der Sonne wich den Schatten der dichten Baumkronen. Die beiden rannten weiter in den Wald, er wagte es nicht mehr, nach hinten zu schauen. Die Bäume und Sträucher wurden dichter und dichter. Hier konnten sie ihnen mit den Pferden nicht folgen, oder?

Vollkommen außer Atem erreichten die beiden eine Lichtung und hielten kurz inne. Feslan schnaufte schon stärker als Daron und beugte sich kurz nach vorne, um sich dann aber gleich aufzurichten. Er schaute sich um. Rings um sie war dichter Wald, nur ein kleiner Pfad schlängelte sich quer über die Lichtung und verschwand dann wieder im dichten Unterholz.

„Haben wir sie abgehängt?“, fragte Daron skeptisch, der zu allen Seiten schaute und versuchte zu lauschen.

„Ich glaube…“, wollte Feslan antworten, als sie wieder die Hufe hörten. „Nein, hier rein!“, sagte der Ältere und packte Daron am Arm, um im Unterholz zu verschwinden. Er lief zwei Schritte weiter und verharrte dann vor Schreck. Daron schaute auf und erkannte den Mann, der mit einem Grinsen aus dem Wald trat. Er sah verschlagen aus, wie die anderen Urben. Mit seiner Steppenkleidung, den schmaleren Augen und dem fiesen Blick.

Die beiden Rethaner drehten sich weg, um in eine andere Richtung zu fliehen, doch weitere drei Urben traten aus allen Richtungen aus dem Wald. Und dann erreichten die Hufschläge die Lichtung. Von jeder Seite näherten sich zwei Reiter.

Hektisch schaute sich Feslan um, erkannte aber, dass sie umzingelt waren. Mit zitternden Händen löste er die Axt von seinem Gürtel und schaute sich zu den Feinden um, die aber keinerlei Anstalten machten, sie direkt anzugreifen.

„Verschwindet. Wir haben euch nichts getan!“, brüllte Feslan hektisch. Daron hatte ihn noch niemals so ängstlich gesehen. Sein ganzes Leben war Feslan der Starke gewesen, der sich gegen alles wiedersetzt hatte. Bruder und auch Vorbild. Doch nun schien das unausweichliche Ende nah und die Entschlossenheit und der Mut wichen Angst und Verzweiflung. Er selbst stand starr an einer Stelle und vermochte kein Wort zu sprechen. Egal ob er seine Waffe ziehen würde oder nicht, er würde sowieso keine Chance haben.

Der Anführer der Urben lächelte mitleidig ob des jämmerlichen Versuches des jungen Mannes, sich zu retten. In einer langsamen Bewegung zog er seinen Säbel aus dem Gürtel und drückte seinem Pferd die Fersen in die Flanke. Das schnelle Ross lief auf Feslan zu und obwohl dieser noch die Axt zum Schlag erhob, war die scharfe Klinge des Urben schneller. Mit Wucht schnitt sie dem jungen Mann in den Hals. Daron spürte, wie Feslans Blut auf ihn spritzte und der Bruder dann tot zu Boden fiel.

„Nein.“, sagte er leise. Es war nicht mehr entschlossen, oder panisch, es war nur noch ein entkräfteter Laut. Er wusste, dass er sich nicht retten konnte. Niemand würde ihn retten können. Er schaute über die Schulter und sah, wie der Urbe sein Pferd wendete um erneut auf die Mitte der Lichtung zuzureiten. Und sein blutiges Werk zu vollenden.

Das Pferd ritt erneut an. Daron drehte sich um. Blut tropfte vom Säbel des Urben. Er könnte versuchen zu fliehen. Oder zu kämpfen. Aber beides erschien ausweglos. So verharrte er. Starr vor Schreck. In Erwartung des Unausweichlichen. Die Hufe schlugen auf den Waldboden.

Auf einmal erzitterte die Erde unter Daron. Ein Grollen kam aus dem Boden und er schwankte kurz, konnte sich aber auf den Beinen halten. Das Pferd des Urben scheute ob des Schrecks und warf den Reiter ab. Auch die anderen Pferde scheuten und trabten unruhig. Das Beben der Erde dauerte nur wenige Sekunden, aber die Feinde waren so überrascht wie Daron und schauten sich ängstlich um.

Dann hörte Daron einen unerwarteten Laut. Einen Klang, der weder zu diesem Ort, noch zu diesem Moment zu passen schien. Obwohl die Flüche des Urben, der auf den Boden geworfen worden war, diesen übertönten, war der Klang eindeutig. Gesang. Der tiefe und dennoch melodiöse Gesang von einem Mann. Oder sogar mehreren Männern.

Dann erkannte Daron die Männer. Es waren vier, die den Pfad auf die Lichtung kamen, den vorher schon die Reiter gewählt hatten. Hinter den Pferden kamen sie in sein Sichtfeld, wie sie vollkommen ruhig über den Weg gingen. Einer hinter dem anderen. Und sangen. In einer Sprache, die er selber nicht kannte.

Wie er bemerkten auch die Urben die Neuankömmlinge. Die vier Fußsoldaten zogen sofort ihre Bögen aus und richteten die Pfeile auf die Männer. In diesem Moment blieben die vier Fremden stehen und der vorderste Mann schaute auf.

Wie seine vier Begleiter hatte auch er eine einfache braune Kutte an, deren Kapuze zurück geschlagen war. An den Füßen trug er einfache Lederstiefel. Am Gürtel, der eigentlich nur ein Seil war, waren mehrere Täschchen und Säckchen befestigt. Dennoch wirkte er insgesamt ärmlich. Auch die Frisuren der Männer glichen sich. Die Haare waren seitlich und hinten bis auf kleine Stoppeln geschoren. Nur am Schopf waren sie ein bisschen länger gelassen und am Hinterkopf zu einem kleinen Zopf gebunden. Während der vorderste Fremde schon älter wirkte und seine Haare bereits gräulich waren, waren die Männer hinter ihm in ihren Zwanzigern oder Dreißigern.

In einer schnellen Bewegung riss er seine Arme nach oben. Erneut zitterte die Erde und Daron musste mit Schrecken feststellen, wie sich rechts und links von ihm tiefe Spalten in der Erde bildeten. Er hörte die Schreie der Überraschung der vier urbischen Bogenschützen. Obwohl sie ihre Pfeile noch los ließen, wurde der alte Mann nicht getroffen. Die Urben fielen bereits in die Spalten, die sich direkt unter ihnen aufgetan hatten.

Dann ballte der Ältere die gerade noch offenen Handflächen zu Fäusten. Noch immer bebte die Erde, aber so schnell, wie sich die Spalten im Erdboden aufgetan hatten, schlossen sich diese auch wieder. Neben dem Krachen des Gesteins vernahm Daron auch das Knirschen der Knochen der Urben, die in der Erde ihr ewiges Grab fanden.

Einen kurzen Moment erstarrten die anderen Urben und nur der monotone Gesang der drei anderen Männer lag auf der Lichtung. Dann brach Panik aus. Der Urbe, der den Fremden am nächsten war, zog seinen Säbel und riss am Zügel seines Pferdes. Doch er kam nicht weit.

Daron erkannte, wie der zweite Mann nach vorne trat. Er war jünger als der alte Anführer, hatte tief braunes Haar und einen festen Blick aus stahlblauen Augen. Dennoch wirkte er mit seiner Kutte und der gleichen Frisur fast unscheinbar. Er riss seine rechte Faust nach oben. Erneut bebte die Erde, als ein Fels aus dem Waldboden schoss. Die Beine des Pferdes brachen, als sich der Fels zwischen diese und in den Leib des Pferdes schob. Das Tier brachte noch einen grotesken Schrei hervor, bevor es sterbend zu Boden fiel und den Reiter unter sich begrub, sein Kopf in einer unnatürlichen Position vom Körper gebeugt.

Die letzten beiden Reiter versuchten gar nicht erst zu kämpfen. Hektisch wendeten sie ihre Pferde und trieben diese in den Wald. Die zwei letzten Fremden traten vor, immer noch singend. Sie unterschieden sich von den Vorderen nur durch ihre tiefschwarzen Haare, die sie beide hatten. Obwohl der eine Mann älter war, waren sie sich wie aus dem Gesicht geschnitten. Beide hoben ihre Arme auf Brusthöhe, die offenen Handflächen nach oben. Dann führten sie ihre Hände zusammen, bis sie diese vor ihrer Brust flach aufeinander legten.

Daron schaute über seine Schulter und hörte noch das Krachen von Holz. Dann sah er schon die Bäume, die von beiden Seiten auf den Weg stürzten und die Reiter samt ihrer Pferde unter sich begruben.

Mit zitternden Gliedern stand nur noch der Anführer der Urben. Er hatte seinen Säbel mit beiden Händen umfasst und deutete mit der Spitze auf den älteren Mann.

„Was seid ihr?“, fragte er mit zittriger Stimme und dem krächzenden urbischen Akzent. Daron sah, wie der Mann langsam auf den Urben zuging. Die Spitze seines Schattens berührte ihn fast, als er stehen blieb.

„Wir sind die Boten der Sonne.“, sagte der alte Mann ruhig und führte eine leichte Bewegung mit der linken Hand aus. Ein größerer Stein löste sich vom Boden und noch bevor der Urbe ausweichen konnte, zerschmetterte das fliegende Objekt seinen Schädel und eine Blutlache bildete sich an dem Ort, an dem er zu Boden ging. Mit dem Tod des letzten Urben verstummte auch der Gesang der anderen drei Männer.

Dann schaute der alte Mann zu Daron.

„Bitte tötet mich nicht.“, sagte Daron. Seine Stimme hörte sich wieder erstaunlich ruhig an. Aber wie schon vorher bei der drohenden Gefahr durch die Urben blieb er fest verwurzelt am Boden stehen. An den beiden Reitern hatte man sehen können, dass eine Flucht ausweglos war.

„Wieso sollten wir dich erst retten, um dich nun zu töten?“, fragte der alte Mann, auf dessen hartem Gesicht sich auf einmal ein geradezu unpassendes Lächeln abbildete.

„Wer seid ihr?“, fragte Daron unsicher und fügte dann gleich die nächste Frage an. „Und wieso habt ihr mich gerettet?“

Der Alte ging einige Schritte nach vorne auf Daron zu und blieb erst kurz vor ihm stehen. Er legte seine Hände auf dessen Schulter und schaute dem Jungen tief in die Augen.

„Ja, du bist es.“, sagte er mysteriös.

„Wer bin ich?“

„Mein Name ist Prior Cleos.“, beantwortete der Fremde nun Darons erste Frage. „Dies sind Bruder Nexan, Bruder Kortan und Bruder Gregos. Wir sind Mönche des Ordens der Laëa, aus dem Kaiserreich der Sonne.“

Daron schaute verwundert. Die Worte sagten ihm nichts. Er wusste nicht, was ein Mönch tat. Er wusste nicht, wer oder was Laëa war. Nur vom Kaiserreich hatte er Geschichten gehört, Mythen, von diesem fernen Ort.

„Wie habt ihr das gemacht?“, stellte er aber als nächstes die offensichtlichste Frage und deutete auf die Felsen und Spalten, die den Waldboden durchzogen.

Diesmal war es nicht Cleos, der antwortete, sondern der Braunhaarige, den dieser als Nexan vorgestellt hatte. „Laëa ist die Mutter dieser Erde. Sie durchzieht alles Land. Wir sind ihre demütigen Diener und dafür schenkt sie uns ihre Kraft. Wir beten sie an, auf dass wir diese Kraft gegen unsere Feinde einsetzen können.“

„Ist das Magie?“, fragte Daron vorsichtig, hatte er doch schon so viele Geschichten über die Zauberei der Altvorderen gehört. Wie sie Elorath errichtet hatten. Oder die Brücken über den Calas. Oder mit ihrer Zauberei gegen böse Mächte gekämpft hatten.

Es war wieder Cleos, der antwortete. „Nenne es, wie du willst. Aber es gibt nur wenige, die von Laëa gesegnet sind. Doch sie hat uns den Weg zu dir gezeigt. Und ich erkenne es. Du trägst die Kraft in dir. Laëa hat dich ausgewählt. Begleite uns in das Kaiserreich und werde ihr Diener, junger Daron.“

Daron schaute Cleos verwundert hat. Woher kannte der Alte seinen Namen? Und wieso dachte er, dass er ähnliches vollbringen könnte, wie diese Männer? Er war Valore, hier geboren und aufgewachsen. Und bis er eingezogen worden war, hatte er seine Heimat, Velken, nie verlassen. Und nun wollte Cleos, dass er diese fremden Männer in das weit entfernte Kaiserreich begleitete?

„Ihr müsst Euch täuschen, mein Herr.“, sagte Daron mit zittriger Stimme. „Ich kann solche Dinge nicht vollbringen. Ich bin ein einfacher Junge aus Rethas, aus Valorien.“

Cleos lächelte und schüttelte den Kopf.

„Nein, mein Junge. Du bist alles andere als gewöhnlich. Und du wirst die Wege der Laëa lernen, wenn du das willst.“

Daron zögerte. Er schaute sich um. Traurig blickte er auf den toten Feslan hinunter. Er war ihm ein Bruder gewesen. Und nun war er tot. Genau wie Dodo und Borchart. Genau wie seine Eltern. Genau wie die schöne Ritterin. Und hunderte weiterer Soldaten. Dennoch hatte dieser Krieg doch gerade erst begonnen. Viele Weitere würden genauso sterben. Und Velken, seine Heimat. Es war unklar, wie lange es die kleine Stadt überhaupt noch geben würde. Wenn der Tod seine Klauen aus Krieg, Krankheit und Hunger ausstreckte. Doch Cleos gab ihm eine Hand. Einen Weg. Daron hatte gesehen, was die Macht dieser Göttin im Stande war. Die Mutter Laëa. Was, wenn er wirklich solche Kraft erlangen könnte? Um jene zu schützen, die ihm einst wieder wichtig sein würden. Anders als Feslan, dessen Tod er nur mit ansehen konnte.

Er nickte. „In Ordnung. Ich begleite euch.“

Er hatte schon bald aufgehört, die Tage zu zählen. Doch als er schon glaubte, die Reise würde ewig dauern, zeichnete sich am Horizont ein einsamer Berg ab. Und schließlich erkannte er die Klosteranlage, die auf halber Höhe des Berges war und wie in den Fels geschlagen wirkte. Nur ein kleiner Pfad schlängelte sich zu dieser hoch. Die Architektur erinnerte mehr an eine Burg, denn an einen Tempel. Und gleichzeitig schien die Anlage alt, denn viele der Felsen waren bereits durch Wind und Wetter geschliffen.

„Ist dies das Kloster?“, fragte Daron dann schließlich Bruder Nexan, der neben ihm wanderte. Der ältere Mönch nickte.

„Ja, dies ist Kloster Sonnfels. Die Heimat unseres Ordens. Der heilige Sitz Laëas.“

„Wie viele Mönche leben hier?“, fragte Daron, kurz bevor sie das schwere hölzerne Tor erreichten, das die Klostermauern mit der Außenwelt verband.

„Im Moment ungefähr fünfzig Brüder. Es ist schwierig, Auserwählte der Laëa zu finden, und wir müssen die gesamte Welt bereisen, wie in deinem Fall.“, antwortete Nexan.

Dann erreichten sie geführt von Prior Cleos die Mauern. Doch bevor er durch das große Holzportal schritt, drehte dieser sich um und schaute Daron an. „Daron, von diesem Tag an bist du ein Novize der Laëa. Lerne fleißig, bete demütig und diene mit Hingabe. Dann wirst auch du einst die Macht unserer Mutter in deinen Händen halten.“

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