Czytaj książkę: «Septemberrennen»

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SEPTEMBERRENNEN

Impressum

Widmung

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

Epilog

Isolde Kakoschky

Isolde Kakoschky

SEPTEMBERRENNEN

Roman

Impressum

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://www.d-nb.de abrufbar. ´

Print-ISBN: 978-3-96752-048-4

E-Book-ISBN: 978-3-96752-548-9

Copyright (2019) XOXO Verlag

Umschlaggestaltung: Grit Richter

Coverbild: Isolde Kakoschky / Ray Purucker,

Buchsatz: Alfons Th. Seeboth

Hergestellt in Bremen, Germany (EU)

XOXO Verlag

ein IMPRINT der EISERMANN MEDIA GMBH

Gröpelinger Heerstr. 149

28237 Bremen

Widmung

Ich widme dieses Buch meinem Bruder Reinhard und meiner Schwägerin Martina. Danke für Euer Einverständnis, Teile Eures realen Lebens in die fiktive Geschichte einbauen zu dürfen.

Danke auch an Reinhards Rennsportfreunde für die tatkräftige Hilfe und Unterstützung!

Und ein ganz besonderer Dank an Ray Purucker für das tolle Foto.

1. Kapitel

Nachdenklich ließ Christian Blätterberg die Hand sinken und legte das Telefon auf die Werkbank. Sein

»Mach´s gut, Carola!« sprach er nur noch zu sich selbst. Nicht, dass die Nachricht vom Ableben seines Vaters ihn besonders überrascht hätte, schließlich musste man mit 80 Jahren früher oder später mit dem Tod rechnen, und auch seine Trauer hielt sich momentan in Grenzen, doch als seine Schwester ihn anrief, da drängte sich die Vergangenheit mit voller Wucht wieder in sein Leben. Seit zwei Jahrzehnten hatte er seinen Vater nicht mehr gesehen. Und seitdem war er nur noch selten in seiner Heimatstadt gewesen. Dass es ihn damals nach Bayern verschlagen hatte, war reiner Zufall gewesen. Hier fand er Arbeit, als es im Osten keine mehr gab. Nun würde er heimkehren, auch wenn es nur an ein Grab sein konnte, das hatte er seiner Schwester versprochen, den Auseinandersetzungen zu Lebzeiten zum Trotz. Er konnte den Streit doch nicht bis über den Tod hinaus fortführen. Instinktiv schüttelte er den Kopf und wandte sich wieder seiner Arbeit zu.

Doch die Gedanken ließen ihn nicht los. Hätte das Zerwürfnis zwischen Vater und Sohn nicht längst beigelegt werden können, beigelegt werden müssen?

Sie waren beide stur geblieben, der Vater nun bis zum Tod. Zumindest in dieser Hinsicht waren sie sich sehr ähnlich gewesen. Dort, wo die Unterschiede größer waren, rieben sie sich immer wieder aneinander, schon von Jugend an. Der Vater hatte stets etwas mit dem Bau zu tun. Erst war es der Bergbau, dann der Tiefbau, zwischendurch der Straßenbau und schließlich der Wohnungsbau. Nur zu gerne hätte er gesehen, wenn sein Sohn in seine Fußstapfen getreten wäre. Aber Christians Leidenschaft lag woanders. Er war der geborene Schrauber. Sei es nun ein Wecker, ein Fahrrad oder später ein Moped gewesen, er brachte alles wieder zum Laufen. Autoschlosser, davon träumte er als Junge. Ob es die Vier in Russisch war oder die in Staatsbürgerkunde wusste er nicht zu sagen, jedenfalls war es das Zeugnis, das zur Ablehnung seiner Bewerbungen führte. Schlussendlich landete er, fast noch Vaters Wunsch gemäß, im Betonkombinat. Immerhin hatte er die Ausbildung ordentlich zu Ende gebracht und noch ein paar Jahre dort mit der Produktion von Betonplatten für die einst beliebten und nun eher berüchtigten Plattenbauten ganz gutes Geld verdient. Seinem Drang zur Technik ging er in der GST nach. Obwohl militärisch angehaucht, bot die Gesellschaft für Sport und Technik viele Möglichkeiten, auch im Motorsportbereich.

Christian schob sich mit dem Unterarm eine widerspenstige Strähne, in der sich langsam die ersten grauen Haare zeigten, aus der Stirn und wischte sich den Schweiß ab. Es war zwar die letzten Tage nicht so heiß gewesen, wie es im August hätte sein können, doch heute schien seit dem Morgen schon die Sonne und die körperliche Arbeit brachte ihn zusätzlich ins Schwitzen. Er griff zum Schraubenschlüssel. Hier in seiner eigenen kleinen Werkstatt ging es ihm gut. Erst mit über 40 Jahren hatte er voller Stolz den Meisterbrief in Empfang genommen. Auch wenn es ihm nicht leicht gefallen war, noch so viel zu lernen, er hatte dafür weder Russisch noch Staatsbürgerkunde gebraucht. Vielleicht wäre der Vater stolz auf ihn gewesen, erfahren hatte der es aber nicht.

»Mist! Abgerutscht!« Er rieb sich das Handgelenk. Ich sollte weniger grübeln und besser aufpassen, schalt er sich in Gedanken. Vorsichtig rieb er mit einem Tuch über den frischen Lack. Nein, der hatte zum Glück nichts abbekommen. Er angelte das Werkzeug unter dem Auto hervor und arbeitete mit erhöhter Konzentration weiter.

Zwei Stunden später putzte sich Christian die Hände an einem Lappen ab und blickte voller Stolz auf sein fertiges Werk. Wieder einmal war es ihm gelungen, ein fast verlorenes Stück Rennsportgeschichte vor dem endgültigen Verfall zu bewahren. Wenn alles gut lief, würde das Auto einen ordentlichen Preis erzielen bei einem Sammler oder einem Hobbyrennfahrer der Formel Easter, wie er selbst es bis vor Kurzem noch gewesen war. Dann könnte er seiner Frau ihre so lange ersehnte Reise nach Cornwall spendieren. Der Blick auf die Uhr und der Gedanke an seine Frau ließen ihn nun auch den Hunger spüren. Er griff im Laufe des Tages höchstens zu einem belegten Brot oder kaufte sich beim nahegelegenen Metzger eine LeberkäsSemmel, denn am Abend wurde gemeinsam warm gegessen. Monika war bestimmt schon beim Kochen und so schloss Christian die Werkstatt ab und machte sich auf den Heimweg.

»Da bist ja, Schatz!«, begrüßte Monika Blätterberg ihren Mann mit einem kurzen Blick aus der Küche in Richtung Hausflur. »Magst dich erst duschen? Dann bin ich auch mit dem Essenmachen fertig.« Sie wartete keine Antwort ab, sondern widmete sich wieder dem Fleisch in der Pfanne. Christian war noch nie sehr gesprächig gewesen und so fiel ihr gar nicht auf, dass er heute noch wortkarger reagierte als sonst.

Erst als er frisch geduscht aus dem Bad kam, trat er hinter seine Frau und hauchte ihr einen Kuss auf ihre braunen Locken. »Na, wie war dein Tag?«

»Nichts Besonderes«, erwiderte Monika und fragte nun ihrerseits: »Und du, bist fertig geworden mit dem Flitzer?«

»Das schon«, antwortete Christian und ließ sich auf einen Stuhl fallen.

»Aber? Da ist doch noch was«, drängte Monika, die schon am Tonfall bemerkt hatte, dass es heute etwas Ungewöhnliches gab, das er bisher nicht gesagt hatte.

»Lass uns erst essen, danach ist genug Zeit.« Im Moment konnte Christian verstehen, warum Carola vorhin so lange gebraucht hatte, ehe sie zum Punkt gekommen war. Der Tod war immer noch ein Tabuthema, niemand sprach gerne darüber.

Erst als sie gegessen und das Geschirr abgeräumt hatten, nahm sich Christian ein Bier aus dem Kühlschrank und sah zu seiner Frau. »Magst auch eins?« Monika schüttelte den Kopf. »Ich hab noch ein Wasser. Aber nun sag schon, was heute los war!«

Er setzte sich ihr wieder gegenüber an den Tisch.

»Carola hat angerufen«, begann er zu berichten. Seine Frau unterbrach ihn nicht, bis er fortfuhr: »Mein Vater ist gestorben.«

Monika griff über den Tisch und drückte seine Hand.

»Das tut mir leid.« Es tat ihr wirklich leid, obwohl sie ihren Schwiegervater nie kennengelernt hatte. Aber wahrscheinlich war es auch gerade das, was ihr so leid tat. Immer hatte sie gehofft, dass sich Vater und Sohn versöhnen könnten. Doch nun war es definitiv zu spät. »Wirst du zur Beerdigung fahren?«

Christian nickte. »Ja, natürlich. Er ist und bleibt doch mein Vater. Und du kannst schon mal Urlaub beantragen für Anfang September, denn du kommst natürlich mit. Den genauen Termin wird mir Carola wohl

morgen sagen können, er wird eingeäschert und danach ist die Urnenbeisetzung.«

»Aha.« Monika musste das alles erst einmal sacken lassen. Hier in Bayern waren die Erdbestattungen üblich. So manch ein Katholik könnte den Gedanken daran, verbrannt zu werden, mit dem Fegefeuer vergleichen. Das wollte man sich doch lieber ersparen. Aber im protestantischen Sachsen-Anhalt wurde es wohl anders gesehen. Ihr Mann war ja nicht mal evangelisch getauft, er war ein Heidenkind, von Staats wegen angeordnet in der DDR, von der sie überhaupt keine Ahnung hatte, bis Christian hier aufgetaucht war. Irgendwie hatten sie sich gefunden, es hatte gefunkt zwischen dem Zugezogenen und der Geschiedenen, beide mit einem Makel behaftet. Was hinter ihm lag, hatte sie erst viel später erfahren. Noch heute machte das ihr manchmal Angst, doch nach bald fünfzehn Jahren guter Ehe kam es nur noch selten vor.

»Was meinst du«, unterbrach Christian die aufkommende Stille, »ob Victoria uns begleiten möchte?« Seine Frau sah ihn mit skeptischem Blick an. »Ich denke, eher nicht. Und ganz ehrlich, was soll sie denn bei einer Beisetzung von einem Menschen, den sie nicht kannte und der nichts von ihr wusste? Er hätte ihr Opa sein können, aber dem standen wohl zwei Sturköpfe im Wege.« Sie hatte oft versucht, ihren Mann zu überzeugen, endlich den alten Streit beizulegen und auf seinen Vater zuzugehen. Nun war es zu spät.

»Du hast Recht«, stimmte Christian ihr zu. »Wir müssen sie nicht mit unserem Kram, der ja eigentlich mein Kram ist, behelligen.«

Christian liebte seine Stieftochter sehr. Er hatte sie als Kind kennengelernt und das Heranwachsen der jungen Frau miterlebt. Etwas, was ihm bei seiner eigenen Tochter verwehrt geblieben war. Und wenn er selbstkritisch in sich hineinhorchte, musste er seine Exfrau verstehen. So, wie er sich damals aus dem Staub gemacht hatte, das konnte man nicht die feine englische Art nennen.

Victoria war inzwischen erwachsen und lebte in einer eigenen kleinen Wohnung in Regensburg, wo sie ihr Geld, mit dem Geld anderer Leute, als Finanzberaterin bei der Sparkasse verdiente. Auch seine Tochter Ines lebte inzwischen in Bayern, allerdings in der Landeshauptstadt.

Er konnte wirklich zufrieden sein mit seiner Familie und seinem Leben. Wenn da nur nicht dieses Aber wäre. Inzwischen ging er auf die 60 zu. Das Rennfahren mit den historischen Formel-Wagen hatte er vor ein paar Jahren seinem Rücken zuliebe aufgegeben, doch von den Rennautos kam er nicht los. Wie gerne hätte er einem Kind seinen Lebenstraum übergeben. Doch weder Victoria noch seine Ines interessierten sich auch nur im Geringsten für Technik. Eines Tages

würde er sterben, so, wie sein Vater jetzt. Und dann? Der Gedanke war ihm unerträglich. Wenn wenigstens sein Neffe… Noch lebhaft erinnerte er sich an Carolas erste Schwangerschaft und die Geburt des kleinen Uwe. Eine Hoffnung, die schneller verging, als es sich alle versahen. Zwei Jahre später hatte ein zweites Kind, seine Nichte Uta, der Familie wieder Glück geschenkt, doch sein Traum erfüllte sich nicht.

»Komm, lass uns noch ein bisschen fernsehen. Vielleicht bringt mich das auf andere Gedanken«, riss er sich selbst von der Vergangenheit los.

Bestätigend lächelte ihm Monika zu und ging mit ihrem Glas voran in Richtung Wohnzimmer. Es war normal, dass Christian etwas sentimental reagierte. Der Tod hatte etwas Endgültiges. Damit musste er sich erst einmal auseinandersetzenen.

2. Kapitel

Das Klappern von Geschirr in der Küche weckte Christian am nächsten Morgen. Monika war wie immer schon auf den Beinen. Schließlich musste sie pünktlich im Büro sein, während er sich den Luxus gönnte, auch mal etwas später mit der Arbeit zu beginnen.

Mit einem liebevollen »Guten Morgen!« begrüßte ihn Monika, als er in die Küche kam und goss ihm sogleich Kaffee ein. Sie selbst hatte sich schon ein Brötchen mit Butter bestrichen und reichte ihm den Brotkorb über den Tisch. Einen Moment aßen sie schweigend, bis Monika ihr Geschirr zusammenräumte, um sich für die Arbeit fertig zu machen.

»Schreibst du mir nachher, wann die Beisetzung ist«, bat sie ihren Mann und drückte ihm einen Kuss auf die Wange.

»Natürlich, ich schicke dir gleich eine Nachricht, wenn sich Carola gemeldet hat.«

»Bis später dann.« Monika griff nach ihrer Tasche und zog im nächsten Moment schon die Tür hinter sich zu. Was für ein Wirbelwind, lächelte Christian in sich hinein und blickte ihr durch das Fenster hinterher, wie sie in ihrem leichten Sommerkleid zum Auto lief. Monika und er, das waren die sprichwörtlichen Gegensätze, die sich anzogen. Er der wortkarge Eigenbrötler, sie der Hansdampf in allen Gassen. Als sie sich kennenlernten, vor fast genau zwanzig Jahren arbeitete er erst ein Jahr in Bayern. Er reparierte noch bei einer Baufirma die Maschinen und versuchte gerade, auf einer schmalen Zufahrtsstraße einen Bagger wieder flott zu bekommen, der natürlich an der engsten Stelle seinen Geist aufgegeben hatte. Als er ölverschmiert unter dem Vehikel hervorkroch, stand sie plötzlich da, lässig an den Kotflügel ihres kleinen, roten Autos gelehnt. Lange braune Locken umrahmten ein lachendes Gesicht. Und als er seinen Blick über ihre Figur wandern ließ, da fand er, dass jede Rundung genau am rechten Fleck saß. Ihr Lächeln zu erwidern war alles, was ihm einfiel. Dafür hatte sie kein Problem, Worte zu finden.

»Des is grad net der beste Platz zum Parken!«, lästerte sie munter drauf los. »I müsst nämlich nach dort drüben.« Sie wies in Richtung des Weges, der aber in ganzer Breite vom Bagger blockiert wurde. »Dauert´s noch lang?«, zwang sie ihn nun durch ihre Frage zu einer Reaktion.

Doch mehr als ein kurzes »Nee« kam nicht über seine Lippen. Er rieb sich die Hände an seinem Blaumann ab, kletterte nach oben und startete den Motor. Langsam und bedächtig setzte er die Maschine in Bewegung und fuhr ein paar hundert Meter vor bis zu einer Ausweichstelle, gefolgt von Monika in ihrem Auto. Als Christian den Bagger stoppte, sauste sie an ihm vorbei.

Er räumte das rasch zusammengeraffte Werkzeug in die dafür vorgesehene Kiste und lächelte vor sich hin. Was für eine Frau! Schon träumte er davon, sie wiederzusehen, als es neben ihm hupte. Aus dem Seitenfenster winkend, fuhr sie nun in die Gegenrichtung. Ein paar Tage später sah er das kleine, rote Auto vor der Metzgerei stehen. Ohne Plan, was er dort kaufen wollte, ging er hinein.

»Grüß Gott!« An den bayerischen Gruß hatte er sich inzwischen gewöhnt, auch wenn es aus seinem Mund wenig bayerisch klang.

»Ja hallo!« Mit einem erkennenden Blick strahlten ihn zwei braune Augen an. »Sie san aber net von hier?«, fragte sie einfach drauflos.

Wieder brachte er nur ein »Nee« heraus, was sie aus ihm unerklärlichen Gründen lustig fand.

»Ach so. Dann verstehen Sie mich wohl gar nicht? Ich kann auch hochdeutsch sprechen«, lachte sie.

Christian wurde rot. »Doch, schon.« Darauf musste er sich der Verkäuferin zuwenden, die nach seinen Wünschen fragte.

Monika hatte vor der Tür auf ihn gewartet. »Und, funktioniert der Bagger wieder?«

»Ja, der läuft wieder.«

»Dann haben Sie vielleicht Zeit für einen Kaffee?« Noch heute glaubte er, nie einen besseren Kaffee getrunken zu haben, als an jenem Tag in der kleinen Bäckerei gegenüber vom Metzger. Schon bald trafen sie sich regelmäßig, anfangs außerhalb von Monikas winzigem Heimatdorf. Wie schnell konnte man als geschiedene Frau in Verruf kommen! Dann lernte er Monikas Tochter Victoria kennen und wurde von ihr sofort als Freund der Mutter akzeptiert. Ein paar Jahre später machten sie Nägel mit Köpfen und heirateten, sie die geschiedene Katholikin und er der konfessionslose Zugezogene. Das Getratsche hatte sich irgendwann gelegt. Die Feier war klein, nur ein Essen zu dritt, es gab ja kaum Familie. Allerdings hatte Carola etwas verärgert reagiert, weil sie erst Monate später von der Hochzeit erfuhr.

Als sein Handy klingelte, saß Christian immer noch am Küchentisch und war in Gedanken bei Monika. Eigentlich hatte er seit einer Stunde schon in der Werkstatt sein wollen. »Carola« erschien auf dem Display, das musste wohl eine Gedankenübertragung gewesen sein.

»Hallo, kleine Schwester!«, nahm er das Gespräch an. Sie trennten zwar nur zwei Jahre, aber mindestens zwanzig Zentimeter Größe, insofern war »kleine Schwester« doppelt gerechtfertigt.

»Hallo, großer Bruder!«, grüßte Carola dann auch zurück und kam direkt zum Wesentlichen. »Ich konnte gestern noch das Wichtigste klären. Es ist ja gut, dass der Bestatter heute nahezu alles für einen erledigt. Das war bei Mutter noch ganz anders. Die Beisetzung ist

am neunten. Es ist ein Freitag, ich hoffe, das passt euch. Dann könnt ihr doch bestimmt noch übers Wochenende bleiben. Abgesehen davon, dass es ja noch einiges zu bereden gibt, freue ich mich einfach, dich und Monika mal wieder zu sehen.«

Christian hatte sogleich auf den Wandkalender gesehen und den Termin als wenig passend registriert. Eigentlich hatte er an diesem Wochenende mit einer Fahrt ins tschechische Brno geliebäugelt, wo die vorletzten Wertungsläufe des Historic Cup des ADAC stattfanden. Auch wenn er selbst nicht mehr startete, würde wenigstens eins der von ihm restaurierten Fahrzeuge dort teilnehmen. Doch nun entschied er sich ein letztes Mal für seinen Vater. »Jo mei, des passt schon!«

»Chris, sprich deutsch mit mich, nicht bayerisch!«, konnte sich Carola nicht verkneifen, zu lästern, wobei sie absichtlich »mir« durch »mich« ersetzte, wie es im Mansfeldischen gesprochen wurde. Früher, zu DDRZeiten gab es den Spruch, dass sich angesichts der Mansfelder Mundart sogar Lenin gefragt hätte: Heiße ich nun Wladimir oder Wladimich?

»Ich gebe mich Mühe«, reagierte er ebenso. »Aber passen tut es trotzdem!«

Nachdem Carola noch eine Weile das Gespräch mit Themen wie Wetter und Straßenverkehr aufrecht erhalten hatte und Christian sich mit einem »Ja« oder

»Stimmt« beteiligt hatte, verabschiedeten sich die Geschwister. Wenn es etwas Wichtiges gab, konnte man immer noch einmal anrufen oder sich eine Nachricht schicken.

Und genau das tat er nun auch sofort. Schließlich wollte Monika wissen, wann sie Urlaub nehmen musste. Sie arbeitete seit Jahren im Büro eines großen Logistikunternehmens, da war Planung alles, um nicht in Probleme mit der Arbeitseinteilung zu geraten.

Nachdem Christian die Nachricht an seine Frau abgesendet hatte, legte er das Handy erst zur Seite, um es kurz darauf erneut anzuschalten. In der Telefonliste scrollte er zu I, I wie Ines. Auch wenn er nur selten Verbindung zu seiner Tochter hatte, jetzt war ihr Opa gestorben und er fühlte sich in der Pflicht, es ihr mitzuteilen. Denn nachdem die Mutter von Ines den Kontakt zu allen Mitgliedern seiner Familie abgebrochen hatte, konnte er nicht damit rechnen, dass Ines auf anderem Weg vom Tod ihres Großvaters erfuhr.

Nachdenklich schaute er auf das Display, das ihm mehrere Möglichkeiten für eine Kontaktaufnahme aufzeigte. Eine Nachricht schreiben?, überlegte er und verwarf es gleich wieder. Auch wenn die jungen Leute heutzutage sogar per SMS ihre Beziehungen beendeten, für ihn war das keine Option. Also doch anrufen.

Nach dem zweiten Klingelton hörte er die Stimme seiner Tochter.

»Hi, was gibt es Chris?« Er war nicht glücklich darüber, dass Ines ihn nicht mehr Papa nannte, dass sie dieses Wort wahrscheinlich sogar zum zweiten Mann ihrer Mutter gesagt hatte, doch er musste es akzeptieren.

»Hallo , Ines«, begann er die Unterhaltung unverfänglich. »Wie geht es dir?«

»Ganz okay soweit. Aber deshalb rufst du doch nicht an?«

»Nein«, bekannte er. »Sag mal hast du heute etwas Zeit? Ich müsste mit dir reden, aber nicht am Telefon.« Plötzlich erschien es ihm unmöglich, ihr diese Nachricht am Handy zu sagen. Selbst seine wortgewandte Schwester hatte gestern lange gebraucht, um zum Wesentlichen zu kommen. Und lange Telefonate waren nun gar nicht sein Ding. Vom anderen Ende kam Schweigen. Er hörte das leise Atmen seiner Tochter und fragte trotzdem: »Ines, bist du noch dran?«

»Es scheint dir wichtig zu sein«, antwortete Ines.

»Gut, heute Nachmittag um drei in dem Café gegenüber von der Kanzlei.«

»Danke! Dann bis nachher!«

Christian sah auf das Handy bis sich das Display verdunkelte und erhob sich dann ruckartig vom Stuhl. Er streifte die Träger seiner Latzhose, die er in der Werkstatt meistens trug, herunter und lief ins Schlafzimmer, um sich eine Jeans und ein T-Shirt aus dem Schrank zu nehmen. Fertig angezogen griff er die Autoschlüssel und schloss hinter sich die Tür ab.

Zuerst wollte er noch einmal in die Werkstatt fahren, um nach seinem neuesten Baby zu sehen. Jedes Fahrzeug, das durch seine Hände ging, war wie ein Kind für ihn. Vielleicht baute er zu diesen Blechkarossen eine engere Bindung auf, als je zu seiner Tochter. Hätte er sich sonst so aus dem Staub machen können?

Während er noch darüber nachdachte, war er schon bei seiner Werkstatt angekommen. Normalerweise legte er den kurzen Weg stets zu Fuß zurück, doch heute wollte er gleich weiterfahren und es lag in der Richtung zur Autobahn.

Zufrieden ließ Christian den Blick über das Rennauto gleiten, dem man nun seine 40 Jahre nicht mehr ansah. Zwar fehlte noch die Werbung und der Namenszug auf der Karosse, auch die alte Startnummer sollte wieder darauf ihren Platz finden, doch das war Kleinkram gegen die Arbeit, die hinter ihm lag. Etwas wehmütig schweiften seine Gedanken ab zum ersten Rennwagen, den er wieder aufgebaut hatte. Auch wenn sich dieses Fahrzeug längst nicht mehr in seinem Besitz befand, hing doch noch immer sein Herz daran. Nur durch einen dummen Zufall hatte er es überhaupt gefunden. Sonst würden Teile der Karosserie möglichweise heute noch als Abdeckung eines Holzstapels in einem Mecklenburgischen Dorf dienen. Stattdessen hatte er es zu neuem Leben erweckt und damit wieder Rennen gefahren. In der Vitrine standen seine errungenen Pokale dicht an dicht. Seine Schwester hatte ihm zugejubelt an

den Serpentinen von Naumburg und auf der damals gerade neu erbauten Rennstrecke in Oschersleben, die binnen eines Jahres in der Börde, gar nicht weit von seiner Heimat entfernt, entstanden war. Auf diese Art war er immer wieder in den Osten gereist, schließlich fanden die Fahrer der historischen Rennwagen hier ein begeistertes Publikum, das sich an die Glanzzeiten dieser Rennwagen erinnerte. Seinem Heimatort war er oft sehr nahe gekommen, doch kaum einmal setzte er den Fuß in die Stadt seiner Kindheit. Wenn überhaupt, dann nur für einen Besuch am Grab seiner Mutter. Dabei war er sogar noch im Krankenhaus der Kreisstadt zur Welt gekommen, es war also auch sein Geburtsort. Wer bald danach auf die Idee gekommen war, die Entbindungsstation in den letzten Zipfel des Kreises zu legen, wusste er nicht. Vor allem im Winter erwies es sich als problematisch. Seine Schwester wäre beinahe eines jener Kinder geworden, die irgendwo unterwegs das Licht des Krankenwagens erblickten.

Christian riss sich von seinen Gedanken los. Schließlich zeigte die Uhr inzwischen Mittag an und er hatte noch ein Stück Fahrt vor sich. Noch einmal tippte er nun eine Nachricht für Monika ins Handy: »Es kann sein, dass ich heute später komme. Fahre nach München. ILD«

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