Herbstblatt

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HERBSTBLATT

Impressum

Gewidmet

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

Epilog

Isolde Kakoschky

Quellenverzeichnis:

Isolde Kakoschky

HERBSTBLATT

Roman

Impressum

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://www.d-nb.de abrufbar.

Print-ISBN:978-3-96752-051-4

E-Book-ISBN: 978-3-96752-551-9

Copyright (2019) XOXO Verlag

Umschlaggestaltung: Grit Richter

Coverbild: ISKA

Buchsatz: Alfons Th. Seeboth

Hergestellt in Bremen, Germany (EU)

XOXO Verlag

ein IMPRINT der EISERMANN MEDIA GMBH

Gröpelinger Heerstr. 149

28237 Bremen

Gewidmet

Den ausdrücklich namentlich erwähnten Musikern von ILLUMINATE

1.

Und die Scheiben, sie sind blind So blind, dass sich die Seele sehnt

Dem Tod ganz nah, ganz nah zu sein

Mit letzter Kraft zog Cosima die Autotür hinter sich zu. Nur weg hier, weiter konnte sie nichts mehr denken. Ihre zitternden Finger bekamen kaum den Schlüssel ins Zündschloss, während sie sich mit der linken Hand die Tränen aus den Augen wischte. Mechanisch legte sie den Gang ein und fuhr los. »Mich siehst Du nicht wieder!« sagte sie leise zu sich selbst. Ihre Wut und Enttäuschung übertrug sich aufs Gaspedal. Mit überhöhter Geschwindigkeit raste sie aus dem Ort. In ein paar Kilometern stand ein dicker Baum, an dem wollte sie diesen Qualen ein Ende setzen. Endlich nicht mehr leiden müssen, nie wieder so traurig sein, nie wieder … Sollte er doch sehen, wie es ohne sie war! Sollte er sich doch einen anderen Abtreter suchen!

Immer wieder musste sie sich die Tränen aus dem Gesicht wischen, sonst hätte sie die Straße nicht mehr erkannt. Na ja, nicht mehr weit, dann würde es zu Ende sein. Die Straße ging einen ganz leichten Anstieg hinauf, ehe sie zur nächsten Stadt hinab führte. Genau auf der Anhöhe der Baum, der sollte es sein. Bedachtsam lenkte sie nach links und löste ihren Sicherheitsgurt. Nichts wäre schlimmer, als wenn es schief ginge und sie überleben würde, vielleicht als Krüppel. Sie trat das Gaspedal weiter durch und atmete tief ein und aus.

Gleich … In diesem Moment erschrak sie! Selten

kam ihr auf dieser Straße jemand entgegen, doch nun tauchte da aus dem Nichts ein anderes Auto auf, genau auf ihrer Spur, denn sie fuhr ja schon auf der Gegenfahrbahn. In wenigen Augenblicken würde es schrecklich knallen, das drang wie ein Blitz durch ihre Gedanken. Ja, sie wollte sterben. Doch die Menschen in dem anderen Auto nicht!

Die Entscheidung kam keine Sekunde zu spät. Cosima riss das Lenkrad nach rechts, ein Blick streifte das Auto, das in diesem Moment an ihr vorbei fuhr und durchdringend hupte. Ihr Wagen schoss über die Straße, sie versuchte gegen zu lenken, doch die Räder kamen von der Fahrbahn ab. Nur mit Mühe hielt sie das Lenkrad fest. Mit schlingernden Bewegungen brachte sie das Fahrzeug wieder auf die Straße. Vorsichtig bremste sie ab und hielt am Straßenrand. Sie rieb sich die Augen und schniefte durch die Nase. Wo war nur das blöde Taschentuch? In der Seitentür steckte noch eine Serviette, die musste es erst mal auch tun. Sie ließ den Kopf in die Hände sinken und lehnte so minutenlang am Lenkrad. Was war das nur gewesen? Sie lebte noch. Aber wie sollte es weiter gehen? Wer konnte ihr nur helfen? Der Mensch, den sie am meisten liebte, war nicht mehr für sie da.

Sie blickte auf, in die Richtung des nächsten Ortes und fuhr langsam wieder los. Zum Friedhof wollte sie fahren, zu den Gräbern Ihrer Eltern.

Cosima öffnete das eiserne Tor. Kein einziges Auto stand außer ihrem auf dem Parkplatz. Es dämmerte schon, schließlich war Herbst und es wurde früher dunkel. Langsamen Schrittes ging sie zum Grab ihrer Mutter. Sie hatten einige Jahre den üblichen Zickenkrieg zwischen Mutter und Tochter gehabt, doch als die Mutter tödlich verunglückte, da verstanden sie sich wieder sehr gut. Das hatte ihr immer geholfen in der Bewältigung ihrer Trauer. Und doch hätte sie noch so gerne mit ihrer Mutter gesprochen. Jetzt kniete sie vor dem Grab und weinte.

»Mutti, was soll ich nur tun? Wie soll ich das nur überstehen?« stellte sie die Fragen, auf die sie keine Antwort fand.

»Ich glaube, Du würdest mich verstehen. Ich habe Dich mal gesehen, da ging ich noch zur Schule, wie Du einen Kollegen geküsst hast! Kann es sein, dass Du einmal etwas erlebt hast,

wie ich? Hättest Du mir raten können? Was kam danach?« Ihre Tränen tropften in den Sand. Sie erhob sich und wand sich zum Gehen.

Elf Sterbejahre später und damit ein paar Grabreihen weiter war das Grab ihres Vaters. Sie hatte ihn sehr geliebt, ohne wenn und aber. Als er an Krebs erkrankte, hatte sie zuerst gehofft, er möge gesund werden und dann, er möge nicht leiden. Es war sehr schnell gegangen vor einem Jahr.

»Ach Vati«, fing sie an zu erzählen, »wenn Du wüsstest, was alles passiert ist im letzten Jahr.«

Er hatte Robert gekannt, mit ihm hätte sie darüber sprechen können. Doch als der Vati noch lebte, da war noch alles ganz anders gewesen. Da war Robert noch ihr Chef gewesen und sonst nichts. Aber war dem Vati nicht auch mal seine Sekretärin etwas mehr gewesen …?

Plötzlich war ihr, als säuselte eine Stimme durch die Kronen der alten Bäume. Sie drehte den Kopf, um besser hören zu können und glaubte es ganz deutlich zu vernehmen:

»Erzähle es mir, lass es raus, meine Tochter. Es wird Dir helfen!« Sie lauschte noch einen Moment, doch nun war wieder tiefe Stille. Nur ab und zu fiel ein Blatt vom Baum.

»Es ist spät heute, Vati. Ich komme morgen wieder, dann werde ich es Dir erzählen. Ich werde lieber gehen, sonst schließt mich noch jemand ein, es ist ja schon völlig dunkel.« Cosima küsste die Rosenblüte, die sie ein paar Tage vorher in die Vase gestellt hatte, und ging den Weg zurück. Am Grab ihrer Mutter machte sie noch mal kurz halt.

»Bis morgen, Mutti!« Noch vor einer Stunde hatte es für sie kein Morgen mehr geben sollen.

Cosima stieg ins Auto und fuhr nach Hause. Als sie an der Stelle des Beinahe‐Unfalls entlang kam, hätte sie schwören können, dass sie trotz der Dunkelheit die Spuren noch sehen konnte.

In ihrer Wohnung verließ sie jede Kraft. Völlig erschöpft fiel sie ins Bett. Albträume geisterten durch ihren Schlaf. Gesichter, die zu Fratzen

wurden, Autos, die sie wütend angriffen, sprechende Bäume, die sie mit ihren Ästen festhielten und zwischen allem immer wieder Robert. Sie wollte auf ihn zu laufen, doch ein unüberwindlicher Graben tat sich auf, der mit jedem Schritt, den sie machte, noch tiefer und breiter wurde. Schweißgebadet wachte sie auf. Die erste Dämmerung zeigte sich am Horizont. Es hatte keinen Sinn, noch mal zu versuchen, weiter zu schlafen, obwohl Feiertag war. So ließ sie sich Badewasser in die Wanne laufen, goss einen großen Becher duftendes Schaumbad dazu und nahm ein ausgiebiges Bad. In der Zwischenzeit lief der Kaffee durch die Maschine und als sie im Bademantel mit der Kaffeetasse auf dem Sofa saß, kamen die Lebensgeister langsam zurück.

Es war gut, dass sie allein war, stellte Cosima fest. Reiner, ihr Mann, war mit dem LKW im Ausland unterwegs. Tim, ihr Ältester, hatte schon seine eigene Wohnung und Tom, der Kleine, war auf Klassenfahrt. Wenigstens musste sie so keinem was erklären.

Doch, erklären musste sie es, und sie wollte es auch. Doch es war so schwer, wo sie doch selbst nicht wusste, was geschehen war und schon gar nicht, wie es weiter gehen sollte. »Der Vati!« fiel ihr plötzlich wieder ein. Sie wollte doch zum Friedhof und mit dem Vati sprechen. Nun konnte sie gar nicht schnell genug in die Sachen kommen. Sie streifte Jeans, Pulli und eine warme Jacke über und sprang fast die Treppen hinunter und in das Auto. Heute fuhr sie ausgesprochen langsam, noch immer das Bild von gestern vor Augen, als plötzlich das andere Fahrzeug da war und sie es fast gerammt hätte.

 

Der Friedhof lag ruhig da. Es war ja noch früher Morgen und gerade bahnten sich die ersten Sonnenstrahlen einen Weg durch die Bäume. Cosima ließ sich auf einer Bank nieder. Sie hatte sie eben entdeckt und war sich sicher, dass da gestern noch keine war. Die Bank stand genau so, dass sie zu beiden Gräbern sehen konnte.

»Hallo, Mutti! Hallo, Vati!« begrüßte sie die Eltern, vorsichtig um sich blickend, ob sie jemand sehen und hören könnte. Nachher hielt man sie noch für geistig verwirrt. Sie wartete, ob aus den Bäumen eine Antwort kam, aber alles blieb stumm. So sprach sie weiter:

»Ich muss Euch was erzählen, was mir passiert ist. Ihr werdet mich verstehen, denn ich bin mir sicher, Ihr habt etwas Ähnliches einmal erlebt. Aber ich weiß auch, dass es bei Euch irgendwann zu Ende war, denn Ihr habt Euch nicht getrennt. Ich weiß, Ihr habt Euch geliebt bis zum Schluss. Und ich liebe Reiner auch immer noch. Ich möchte ihn auf keinen Fall verlieren.

Ach, weißt Du, Mutti«, sprach sie nun ihre Mutter an, »bis zu Deinem Tod war die Welt noch in Ordnung. Doch kurz danach geriet alles aus den Fugen. Erst gab es keine Mauer an der Grenze mehr, dann gab es unsere vertrauten Sachen nicht mehr, und dann gab es unser ganzes Land nicht mehr. Damit fing ja alles an.

Und dann, nach Deinem Tod, Vati, war plötzlich alles noch anders. Und ich weiß auch nicht, wie es jetzt weiter gehen soll. Ich habe mir das nicht ausgesucht. Da ist nichts bewusst Geplantes gewesen, es ist einfach so passiert. Aber es war wunderschön! Und nun ist es vorbei, und ich weiß nicht weiter.«

Cosima lehnte sich zurück und ließ den Blick in die Baumkronen gleiten, die schon langsam die Blätter verloren. Die Sonne drang durch die Zweige und plötzlich wurde ihr so angenehm warm. Sie schien weg zu schweben, trieb mit dem Wind über Felder und Wiesen, sah Häuser und Autos unter sich und fand sich wieder auf einer Treppe, der Treppe, die einmal vor fast 8 Jahren zu Roberts Büro geführt hatte.

2.

Abgeschirmt von allen Augen brennt ein Licht.

In tiefster Dunkelheit.

Jedoch kein Lächeln und kein Wort von Dir Dringt je hinab zu mir.

Cosima Ratowsky blieb auf der obersten Treppenstufe stehen. Ihr Herz raste und wollte sich gar nicht beruhigen. Doch sie musste jetzt da rein gehen und ihrem zukünftigen Chef gegenübertreten. Schon seit einigen Monaten wusste sie, dass die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen keinen Bogen um ihre kleine Stadt und um ihren Landwirtschaftsbetrieb machen würden. Bisher war noch fast alles in eingefahrenen Bahnen weiter gelaufen. Doch nun war er da, der Neue. Und der Ruf, der ihm vorauseilte, war Furcht erregend. Da gab es nun keine Beziehung mehr, wie zu den alten Kollegen, die sie fast väterlich behandelt hatten und nun gehen mussten. Vorruhestand war das Wort, das eigentlich nur schöner klang als Entlassung.

Seit sie wusste, dass Robert Weihtmann der neue Geschäftsführer werden würde, kamen jeden Tag neue Gerüchte an ihr Ohr, wie herzlos, wie brutal, wie unnahbar er sein sollte.

Und nun stand sie hier, auf der letzten Treppenstufe und versuchte, sich zu beruhigen. Allen Mut zusammen nehmend, machte sie die letzten beiden Schritte in Richtung der Bürotür und klopfte. Das »Herein!« klang freundlicher als erwartet und Cosima wagte es, die Klinke niederzudrücken.

»Guten Tag!« versuchte sie, die Stille zu durchbrechen.

»Guten Tag!« kam es zurück.

Erst jetzt registrierte Cosima den Mann, der von seinem Schreibtisch aufblickte.

»Was kann ich für Sie tun?« fragte er.

Cosima machte ein paar Schritte durch den Raum auf den Mann zu.

»Bitte entschuldigen Sie die Störung, ich bin Cosima Ratowsky und ich arbeite in der Lagerhalle.«

»Ach, Sie sind Cosima Ratowsky.« Ein leichtes Lächeln zeigte sich auf seinem Gesicht. »Herr Haan hat mir schon von Ihnen berichtet. Was führt Sie jetzt zu mir?«

Der Hauptgeschäftsführer und ihr bisheriger Chef hatten Robert Weihtmann also schon auf sie vorbereitet. Doch jetzt kam der Moment, vor dem sie sich noch mehr fürchtete. Sie musste ihm von dem Problem mit der einzigen, alten Telefonleitung berichten, die sie sich teilen mussten. Es wurde Zeit, dass sich daran etwas änderte. Doch solange die technischen Voraussetzungen nicht gegeben waren, mussten sie sich irgendwie arrangieren.

Cosima zitterte und stotterte so, dass es ein Wunder war, dass Robert Weihtmann überhaupt verstand, was sie wollte. Sie hatte sich instinktiv rückwärts bewegt, weil sie fürchtete, dass er sie rauswerfen würde und sie dachte sich, dass dann der Fluchtweg kürzer wäre.

»Nun beruhigen Sie sich erst mal!« Robert Weihtmann merkte, dass diese junge Frau ziemlich aufgeregt war. Es amüsierte ihn ein bisschen.

»Haben Sie in der Lagerhalle ein Büro?« fragte er.

Cosima schüttelte den Kopf. »Nein, nur einen kleinen Schaltraum, da steht das Faxgerät und da arbeite ich.«

»Dann packen Sie das Faxgerät ein und was Sie sonst noch brauchen und kommen Sie zu mir in das Büro hier. Ich organisiere noch einen Schreibtisch, Platz ist ja genug. Und dann wäre doch auch das Problem mit der Telefonleitung geklärt.«

Cosimas Herz schlug wie wild. Ablehnen konnte sie diesen Vorschlag sowieso nicht, bald würde er ganz offiziell der Chef sein. So nickte sie und versuchte, nicht in seine Augen zu sehen. Da war etwas, was sie mehr faszinierte, als ihr lieb war.

»Auf gute Zusammenarbeit!« Robert Weihtmann reichte ihr die Hand. Sekunden später stand sie wieder vor der Tür und hoffte, nicht

ohnmächtig zu werden, während drinnen Robert überlegte, wo er dieses Gesicht mit den blauen Augen und den blonden Haaren schon mal gesehen hatte.

Ein paar Tage später war es so weit, Cosima zog mit Sack und Pack in Roberts Büro ein. Und langsam legte sich auch die Aufregung und ganz für sich stellte sie fest, dass an den Gerüchten doch nicht so viel dran sein konnte. Er war eigentlich ein ganz netter Mensch, fragte sie viel nach der Arbeit, nach der Organisation, nach den übrigen Kollegen, alles wollte er ganz genau wissen.

Sie hingegen wusste schon bald, dass er Kaffee mit Milch, ohne Zucker, trank, dass der Opel, der im Hof parkte, seiner war, dass er einen Sohn und eine Tochter hatte und dass er drei Orte weiter wohnte.

Sie erzählte ihm von Reiner, von Tim und Tom, und von ihrer bisherigen Arbeit und eines Tages stellten sie fest, dass sie in der gleichen Stadt geboren worden und sogar in dieselbe Schule gegangen waren, nur nicht zur selben Zeit. Und als Cosima vom Unfall ihrer Mutter erzählte, wusste Robert Weihtmann plötzlich, wer sie war. Vor Jahren hatte es für ziemliche Aufregung in der Stadt gesorgt, als Cosimas Mutter von einem LKW überrollt worden war.

»Ralf Weinperger ist ihr Vater?« Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. »Das war schon schlimm damals mit dem Unfall«, bekannte er ungewohnt mitfühlend.

»Hat Ralf Ihnen diesen ungewöhnlichen Namen verpasst?« wollte er nun wissen.

Cosima lachte. Sie wurde ab und zu darauf angesprochen.

»Ja, mein Vater liebt die Musik von Richard Wagner und hat mich deshalb so genannt wie Wagners Frau.«

Robert grinste: »Der alte Ralf!«

Cosimas Vater war bekannt wie der sprichwörtliche bunte Hund.

Und es freute sie, dass ihr neuer Chef auch ihren Vati kannte. Irgendwie hoffte sie, damit einen besseren Stand bei ihm zu haben.

Robert ließ Cosima erst einmal weiter ihre gewohnte Arbeit machen, sah aber immer öfter nach dem Rechten, registrierte, welche Veränderungen notwendig sein würden, um am freien Markt bestehen zu können. So vergingen die letzten Wochen im alten Jahr.

Dann war es offiziell, Robert Weihtmann war der neue Geschäftsführer. Gleich in der ersten Woche hieß es wieder Sachen packen. Gemeinsam bezogen sie ein anderes, kleineres Büro im hinteren Trakt einer der Lagerhallen. Hatte sie vorher gut den Hof einsehen und beobachten können, wann ihre Kollegen mit den LKWs eintrafen, so fühlte sie sich nun von der Außenwelt wie abgeschnitten. Statt zum Kaffeeautomaten zu gehen, kochte sie nun für sich und den Chef selbst den Kaffee. Statt, dass eine Putzfrau kam, putzte sie das Büro selber. Und ohne

Erlaubnis wagte sie es schon bald nicht mehr zu verlassen. Selbst die Kontakte zu ihren oft langjährigen Kollegen beschränkte er auf das Nötigste.

Sie kämpfte mit den Tränen, wenn er sie anfuhr:

»Wir brauchen hier kein Kaffeekränzchen, spuren müssen die, sonst nichts! Und wenn das nur geht, wenn ich in deren Augen ein Arschloch bin, dann müssen Sie das auch sein!«

In Cosimas Herzen kämpfte die Freundschaft mit ihren Kollegen gegen die Loyalität zu ihrem Chef, von dem sie sich insgeheim seine Anerkennung wünschte.

Sie hatte schon mehr als einen Chef in ihrem Berufsleben gehabt und sie war mit allen gut ausgekommen. Mit den meisten war sie nach kurzem zum vertrauten »Du« übergegangen und mit einigen verband sie noch immer ein kameradschaftliches Verhältnis. Nur dieser Robert Weihtmann wahrte eine ungewohnte Distanz.

Aber Robert konnte auch charmant sein. Anfang März war wie jedes Jahr der internationale Frauentag. In den letzten beiden Jahren hatte kaum jemand daran gedacht. Doch an dem Tag kam er mit einem riesigen Tortenpaket ins Büro und servierte ihr die Torte auch noch persönlich. Danach schickte er Cosima in die umliegenden Firmen, um auch diesen Frauen ein Stück Kuchen zu bringen. Voller Stolz übernahm sie diese Aufgabe. Ihr Chef hatte an diesen Tag gedacht! Er hatte eben auch noch gute Seiten, nur leider viel zu selten.

Manchmal sprach sie zu Hause mit ihrem Mann darüber. Reiner arbeitete in der Nachbarfirma, die den gleichen Firmenhof nutzte und bekam so einiges mit, was sich tat. Bei ihm hatte es auch drastische Veränderungen gegeben. War es noch vor ein paar Monaten eine große Firma mit hunderten Arbeitern gewesen, so war Reiner nun noch einer von fünf, die übrig waren. Das Ende schien schon vorgezeichnet. Manchmal überlegte Cosima, ob er dann zu ihr in die Firma kommen könnte, doch dann dachte sie daran, wie der Chef mit den Fahrern umsprang und wollte das ihrem Mann nicht zumuten. Es reichte, wenn sie sich die Nerven aufrieb.

Reiner merkte, wie sehr sich Cosima quälte, als im Frühjahr ihre Pollenallergie einsetzte. Doch weil sie alle Symptome der Allergie zuordnete, merkte sie nicht einmal, dass sich eine böse Erkältung anbahnte, bis sie eines Morgens mit Fieber aufwachte. Trotzdem ging sie zur Arbeit, auf ein wenig Verständnis hoffend. Doch ihr Chef schien nicht zu bemerken, dass sie am Ende ihrer Kräfte war, als sie nach Hause ging.

»Jetzt reicht es!« Reiner war ungehalten, als er später seine Frau so sah. »Zieh Dich an, wir fahren zur Ärztin!«

Eine Stunde später war sie für die nächsten Tage erst mal aus dem Verkehr gezogen.

Sie erholte sich nur langsam. Erst zwei Wochen später konnte sie wieder zur Arbeit gehen.

Cosima ahnte, dass es kein gutes Wiedersehen werden würde. Auf ihr vorsichtiges »Guten Morgen!« kam keine Antwort. Stattdessen knallte ihr Robert Weihtmann einen Stapel Akten auf den Schreibtisch.

»Wenn Sie gesagt hätten, dass es so lange dauert, hätte ich eine Vertretung aus der Verwaltung geholt!«

Ihre Erwiderung »… ich wusste doch auch nicht

…« hörte er schon nicht mehr, er hatte das Büro bereits verlassen.

Schweigend machte sie sich daran, die liegen gebliebene Arbeit zu erledigen. Und ein großer Druck lag auf ihr.

Am nächsten Morgen kam sie früher und wischte das seit zwei Wochen nicht mehr gesäuberte Büro. Zwischen ihr und dem Chef fielen nur die nötigsten Worte und Cosima wurde fast schon wieder krank, vor seelischer Qual. Sie wollte mit ihm zusammen arbeiten und das möglichst gut. Er musste sie ja nicht mögen, aber wenigstens respektieren.

Noch ein Tag verging schweigend, dann kam er ins Büro:

»Gibt es hier noch mal Kaffee oder muss ich in die Kneipe gehen?«

 

Cosima flog fast zum Wasserhahn. Sie hätte tanzen können vor Freude, er sprach wieder mit ihr! Als der Kaffee durch die Maschine lief, ging sie zur Toilette. Sie musste nicht, nein, sie setzte sich auf den Toilettendeckel und ließ ihren Tränen freien Lauf. Sie war so erleichtert. Irgendwie hatte sie sich schuldig gefühlt. Nun war wieder alles gut.

Sie wünschte sich so sehr sein Vertrauen. Und manchmal schenkte er es ihr auf seine ganz eigenwillige Weise. An einem Tag wollte er zu einem Geschäftspartner in die Kreisstadt fahren.

»Nehmen Sie Ihre Sachen und kommen Sie mit!« forderte er Cosima auf. Sie saß neben ihm im Auto und konnte sich nicht vorstellen, wofür er sie brauchte.

In der Kreisstadt traf er den Geschäftsfreund und ging zu dessen Auto.

Zu Cosima gewandt sagte er: »So, ich begleite den Herrn und Sie fahren jetzt mit meinem Wagen zurück in die Firma.«

In diesem Moment brach ihr der kalte Schweiß aus. Sie fuhr schon gerne Auto, war aber noch nicht so wirklich sicher mit den neuen Fahrzeugen. Im letzten Augenblick fiel ihr noch ein, zu fragen, wo denn der Rückwärtsgang wäre, dann war sie mit dem neuen Auto vom Chef und ihrer Angst alleine. Sie fuhr übervorsichtig, bremste trotzdem viel zu stark und erschrak heftig, als das ABS einsetzte. So lang war ihr diese Strecke noch nie vorgekommen. Endlich erreichte sie den Firmenhof und stellte das Auto wohlbehalten ab. Sie wagte nicht, daran zu denken, was gewesen wäre, wenn sie es nicht geschafft hätte.

Weil es in ihrer Firma auch einen kleinen Landhandel gab, musste Cosima an manchen Tagen sehr zeitig morgens zum Großmarkt fahren. Das bedeutete für ihre beiden Söhne, dass sie dann alleine aufstehen mussten. Tim und Tom waren inzwischen knapp 12 und 9 Jahre und eigentlich sehr selbständig. Eines Tages, als Cosima von einer solchen Fahrt zurück kam, traf sie fast der Schlag, was der Chef ihr berichtete.

Die beiden hatten verschlafen. Das bedeutete für Tim, dass der Schulbus zum Gymnasium weg war. Er hoffte, in der Firma Mutti oder Vati doch anzutreffen, damit ihn einer in die Schule bringen konnte. Tom hätte zwar gut zu Fuß in die Grundschule gehen können, wie jeden Tag, doch er tat im Zweifel immer das, was sein großer Bruder auch tat und trottete hinterher. Dort las sie Robert Weihtmann auf.

»Das waren vielleicht zwei Häufchen Unglück!« grinste er Cosima an. Fassungslos hörte sie weiter zu.

Jedenfalls packte Robert die beiden Jungs ins Auto und fuhr erst den Kleinen in die Grundschule und dann den Großen zum Gymnasium. Da kamen sie nun zwar eine Stunde zu spät, aber wohlbehalten an.

Cosima war sprachlos. »Vielen Dank!« brachte sie mit einem Kloß im Hals heraus. Und ihr Herz tat einen kleinen Sprung.

Zu Hause fand sie am Nachmittag zwei schuldbewusste Jungs vor.

»Na sagt mal, was war das denn heute früh?« nahm sie sich die beiden vor. Sie lächelte, denn böse konnte sie ihnen doch nicht sein.

Und da platzte der Kleine raus: »Na toll war das! Dein Chef ist aber nett! Der hat uns mit dem Jeep in die Schule gefahren!« Dass der »Jeep« ein betagter Lada‐Niva war, interessierte nicht, die Jungs waren begeistert.

Und Cosima dachte: Ja, er kann schon manchmal sehr nett sein, manchmal …

Doch viel zu oft war der Arbeitshimmel getrübt. Robert konnte wegen Kleinigkeiten an die Decke gehen und schrie sie dann an, dass sie oft genug danach heulend in einer Ecke saß und sich fragte, bin ich jetzt eigentlich Weibchen oder Männchen? Und noch schlimmer erging es ihren Kollegen.

Wenn da etwas schief ging, musste sie das Büro verlassen, wenn der betreffende Fahrer rein kam. Doch die Lautstärke wurde nur unwesentlich durch die Tür gedämpft und Cosima verkroch sich dann am liebsten ganz weit weg.

«Sind doch alles Dilettanten!« tobte er danach noch rum und Cosima fühlte sich von diesen Worten fast persönlich getroffen.

Die Angst vor ihrem Chef war allgegenwärtig. Nachts wachte sie aus Albträumen auf, die auch nach dem Erwachen noch völlig realistisch waren. Sie lief weg. Sie lief und lief und lief, sie wollte weg. Doch ihr Verfolger kam immer näher. Sie schrie vor Angst und erwachte mit klopfendem Herzen. Und immer war der Verfolger ihr Chef.

So gut auch die Zusammenarbeit meistens mit ihm war, so groß war doch der Druck, unter dem sich Cosima befand. Der Wunsch, ihm alles recht zu machen, lag wie ein schweres Gewicht auf ihr.

Mit der Getreideernte kam neue Arbeit auf Cosima zu. In den Lagerhallen, in denen bis vor kurzem noch Kartoffeln gelagert wurden, die hunderte Frauen sortierten und schälten, wurde nun Getreide angenommen, zwischenzeitlich gelagert und wieder verladen. Geschäftsfreunde von Robert Weihtmann hatten zwei neue große 40‐Tonnen‐Kipper angeschafft, die nun regelmäßig in der Firma Getreide abholten. Cosima war schon immer ein LKW‐Fan gewesen. Dadurch hatte sie sogar ihren Mann kennen gelernt. Und deshalb war sie auch so gerne mit ihren Kollegen zusammen. Und nun gab es nicht Besseres, als mit den fremden Fahrern zu sprechen und die großen Sattelzüge zu bewundern. Sie mochte die LKW‐Fahrer und war sehr rasch wieder beim kameradschaftlichen »Du« angekommen. Doch sie merkte schnell, dass das ihrem Chef ein Dorn im Auge war. Wenn er sie bei vertrauten Gesprächen erwischte, folgte die Strafe auf dem Fuß. Entweder verbot er ihr, das Büro zu verlassen oder er redete kaum noch mit ihr. Beides traf sie hart und er wusste es nur zu genau.

Wenn aber gute Stimmung war, dann bezog er sie in seine Gedanken und Entscheidungen ein. So wusste sie bald, dass es auch in ihrer Firma demnächst einen neuen Sattelzug geben würde. Die alten 10‐Tonnen‐LKW aus DDR‐Beständen wollte er nach und nach aus dem Verkehr ziehen. Und noch etwas wusste sie bald, dass er ihren Mann Reiner als einen Fahrer für den Sattelzug vorgesehen hatte. Da in absehbarer Zeit die beiden Firmen fusionieren würden, war das möglich geworden, ohne dass Reiner vorher die Firma wechselte. Reiner verstand sich eigentlich recht gut mit Robert Weihtmann und Cosima versuchte, ihn nicht zu beeinflussen, indem sie ihre Probleme für sich behielt. Nur, immer gelang das nicht.

An dem Tag, als der neue LKW geliefert wurde, fand sich alles was Beine hat, auf dem Hof ein. Zu gerne wäre auch Cosima dabei gewesen. Sie wusste nicht, was sie falsch gemacht hatte. Sie

fragte sich, wofür er sie bestrafte. Sie hoffte, er würde sie noch raus gehen lassen. Doch sie musste im Büro bleiben, dort, wo es keinen Blick zum Hof gab. Natürlich bemerkte Reiner das und fragte sie am Abend zu Hause. Doch statt sich ihren Ärger von der Seele zu reden, suchte sie nach einer Entschuldigung für Roberts Verhalten.

»Es musste doch jemand am Telefon sein«, sagte sie und wusste ganz genau, dass es eine dumme Ausrede war, schließlich gab es einen Anrufbeantworter, den sie jedes mal anschaltete, wenn sie das Büro verließ. Reiner schüttelte den Kopf. Ihm war das zu blöd, doch seine Frau musste wissen, was sie tat.

Längst war Reiner aufgefallen, dass Cosima Kaugummi kaufte, obwohl sie doch gar keinen Kaugummi mochte, Robert Weihtmann aber schon. »Musst Du Deinen Chef gnädig stimmen?« fragte er dann seine Frau. Ja, genau so ist es, dachte Cosima, wenn sie penibel darauf achtete, dass immer eine Packung Kaugummi in seinem Schreibtisch lag. Sie wollte ihrem Chef etwas Gutes tun, ihm zeigen, dass sie an einem guten Verhältnis interessiert war.

Während Cosima über den Abrechnungen der Rübenernte saß und kaum noch aus ihrem Büro heraus kam, wurde nur 10 Meter weiter ein neues Büro ausgebaut und sie bekam kaum etwas davon mit. Sie wusste nicht, dass das Jahr ihrer Einzelhaft« bald vorüber sein würde.

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