Frühlingstochter

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Frühlingstochter
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FRÜHLINGSTOCHTER

Impressum

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

Epilog

Isolde Kakoschky

Isolde Kakoschky

FRÜHLINGSTOCHTER

Roman

Impressum

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://www.d-nb.de abrufbar. ´

Print-ISBN: 978-3-96752-047-7

E-Book-ISBN: 978-3-96752-547-2

Copyright (2019) XOXO Verlag

Umschlaggestaltung: Grit Richter

Coverbild: ISKA

Buchsatz: Alfons Th. Seeboth

Hergestellt in Bremen, Germany (EU)

XOXO Verlag

ein IMPRINT der EISERMANN MEDIA GMBH

Gröpelinger Heerstr. 149

28237 Bremen

1. Kapitel

Nachdenklich legte Manuela Wahrberg das Blatt Papier zurück auf den Tisch und versuchte, sich wieder den Nachrichten im Fernsehen zu widmen. Sie konnte nicht mehr sagen, wie oft sie in den letzten Monaten dieses Bild angesehen und den daneben stehenden Artikel gelesen hatte. Es war ein Ausdruck der OnlineAusgabe der regionalen Tageszeitung. Die ehemals saubere, glatte Seite war inzwischen abgegriffen und knittrig. So oft schon hatte sie das Foto zur Hand genommen und wieder weggelegt. Sie hatte es gefaltet und wieder glatt gestrichen, mehr als einmal weit hinten in den Schrank verstaut. Und doch, jedes Mal, wenn in den Regionalberichten im Fernsehen vom Mansfelder Land die Rede war, hatte sie es wieder herausgeholt, so wie jetzt.

Vor einem halben Jahr hatten sie sich getroffen, ihre ehemaligen Mitschüler. Auch bei ihr war eine Einladung angekommen. Es dürfte nicht schwer gewesen sein, sie zu finden. Ihr Name stand vor Jahren unter Mutters Todesanzeige in der Zeitung und im Telefonbuch fand man ihre Adresse. Ganz abgesehen davon war sie bei Stayfriends registriert und seit einiger Zeit bei Facebook angemeldet. Es tummelten sich nicht besonders viele Freunde auf ihrem Profil, aber sie hatte einige Seiten abonniert, die sie interessierten, und freute sich auch über Nachrichten von Bekannten.

Doch auf den Brief ihrer Mitschülerin hatte sie nicht reagiert. Manuela stand vom Sessel auf und ging zum Fenster. Von der zwölften Etage des Hochhauses konnte sie weit übers Land sehen. Dort, ganz hinten, ließen sich die kegelförmigen Halden des Mansfelder Kupferschiefer-Bergbaus erahnen. Würde sie sich ins Auto setzten, wäre sie in weniger als einer Stunde in ihrer Heimatstadt angekommen. So oft waren Manuela und ihr Mann mit ihrem Sohn auf dem Weg in den Harz ganz nahe dort vorbei gefahren. Dennoch hatte sie seit Jahren keinen Fuß mehr in die Straßen ihrer Heimat gesetzt. Das letzte Mal war zur Beerdigung ihrer Mutter gewesen. Ihr erwies sie die letzte Ehre, obwohl es sie zwang, ihren Vater zu treffen. Er hingegen hatte sie keines Blickes gewürdigt. Als er ein paar Jahre später starb, da weinte sie ihm keine Träne nach. Sie hatte gemeinsam mit ihrer älteren Schwester Maria das Erbe ausgeschlagen und alles, was noch da war, an ihre Tante, die Schwester ihres Vaters übergeben, die sich auch um die Formalitäten und die Beisetzung gekümmert hatte. Nein, ihre Eltern fehlten ihr nicht.

Trotzdem vermisste sie etwas. Früher, als die Zeitung noch zehn Pfenning kostete, da hatte sie neben der Ausgabe aus Halle auch die ihrer Heimatstadt abonniert. Jetzt kam ihr die moderne Technik entgegen. So konnte sie die elektronische Ausgabe als E-paper lesen und war immer über die Neuigkeiten informiert.

Im Nachhinein ärgerte sich Manuela, nicht zum Jahrgangstreffen gefahren zu sein. Es wusste ja sowieso keiner etwas von ihrer Vergangenheit und sie hätte nichts erzählen müssen, was sie nicht wollte. Aber für Reue war es jetzt zu spät.

Ein paar Tage nach dem Treffen hatte sie den Artikel gelesen und ausgedruckt. Stundenlang hatte sie das Foto angesehen, auf dem ihre Mitschüler fröhlich in die Kamera blickten. Und sie glaubte sogar, die eine oder andere ihrer Mitschülerinnen zu erkennen. Seitdem fragte sie sich immer wieder, ob sie nicht doch einmal wieder nach Hettstedt fahren sollte, durch die vertrauten Straßen laufen und vielleicht sogar Bekannte treffen. In dem Zeitungsartikel stand geschrieben, dass noch viele in der Nähe wohnen würden.

Auf dem Tisch machte sich ihr Smartphone bemerkbar. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie das Gespräch annahm.

»Hallo Kai«, begrüßte sie ihren Sohn. »Wie geht es dir, mein Junge? Und was macht mein Sternchen?«

»Gut geht es uns«, verkündete Kai. »Aber unsere Stella hat wieder keine Lust, ins Bett zu gehen, bevor sie noch nicht der Oma ›Gute Nacht‹ gesagt hat.«

Manuela schmunzelte. So kannte sie ihre Enkelin. Immer musste sie ihren Kopf durchsetzen. Und ihr Sohn verwöhnte seine kleine Tochter nach Strich und Faden. Schon tönte das glockenhelle Stimmchen von Stella aus

dem Handy. »Oma, ich habe neue Sandalen an, die sind pink und mit Glitzer! Kann ich die im Bett anlassen?« Manuela lachte. »Nein, mein Schatz, im Bett ziehst du sie besser aus, aber am Sonntag, wenn wir in den Zoo gehen, dann kannst du sie mir zeigen.«

»Ist gut«, gab sich Stella einsichtig. Ein schmatzendes Geräusch drang durch den Lausprecher. »Küsschen, Omi! Gute Nacht!«

»Gute Nacht, mein Liebling! Schlaf gut!«

Nachdem sich Manuela von ihrem Sohn verabschiedet und einen Gruß an Nina, seine Lebensgefährtin, hinterlassen hatte, legte sie das Smartphone zur Seite. Eine warme Welle durchflutete ihren Körper. Oh, wie sehr sie ihren Kai liebte! Als er geboren wurde und die Hebamme ihr sagte, dass es ein Junge sei, da hatte sie ihn sofort annehmen können. Es war gut, dass es ein Junge geworden war. Sie waren immer ein Herz und eine Seele gewesen. Ihr Mann Andreas hatte so oft außen vor gestanden, weil er dieser engen Beziehung nichts entgegensetzen konnte. Vielleicht war es auch ein Grund gewesen, warum ihre Ehe schließlich scheiterte. Sie hatten sich nicht betrogen, sich nicht Schimpf und Schande an den Kopf geworfen, aber sie hatten auch nichts mehr gemeinsam. Möglicherweise wäre es besser gewesen, wenn Manuela ihrem Mann alles anvertraut hätte, vielleicht hätte er sie dann verstehen können und ihre übertriebene Liebe zu ihrem Sohn nicht dermaßen zum Streitthema gemacht. Doch immer hatte ihr der Mut ge-

fehlt. So kam zum Schluss die Trennung allen nur folgerichtig vor. Gekämpft hatte sie um ihre Ehe nur so lange, um ihrem Sohn das Elternhaus zu erhalten. Kai hatte damals kurz vor dem Schulabschluss gestanden. Er studierte nach dem Abitur in Leipzig und blieb auch nach dem Abschluss dort, um nicht zu weit von seiner Mutter weg zu müssen. Nicht, weil er wirklich ein Mamasöhnchen gewesen wäre, eher aus Sorge um Manuela. Aber die hatte ihren Beruf und ihr Leben im Griff. Selbst ihr Sohn wusste nicht, welches Geheimnis sie seit Jahrzehnten mit sich herum trug.

 

Als ihr Kai kurz nach dem Studienabschluss offenbarte, dass er Vater werden würde, da hatte sie eigentlich mit einer Hochzeit gerechnet. Die jungen Leute dachten allerdings darüber ganz anders als sie. Inzwischen war Stella schon fast fünf, und Heiraten war immer noch kein Thema. Zumindest lebte die kleine Familie zusammen in einer geräumigen Altbauwohnung im Süden von Leipzig, die in den Jahren nach der Wende aufwendig saniert worden war.

Früher, da hatte das ganz anders ausgesehen. Sie hatten heiraten müssen, um eine gemeinsame Wohnung zu erhalten, um überhaupt eine Wohnung zu bekommen. Glück hatten sie gehabt, hier in der Neustadt im Westen von Halle eine so schöne Neubauwohnung zu ergattern. Da war es sehr hilfreich gewesen, dass Manuela und ihr Mann in dem großen Chemiebetrieb vor den Toren der Stadt gearbeitet hatten. Sie hatten schon

ein Kinderzimmer besessen, noch ehe Kai zur Welt kam. Fast undenkbar damals. Ja, damals war sie mit ihrem Leben zur Ruhe gekommen. Sie war eine liebevolle Mutter, arbeitete aber auch gerne in ihrem Beruf im Chemiewerk. Ihr Junge war so brav, weinte nie, wenn sie ihn schon mit einem halben Jahr in die Krippe brachte. Auch das hatten Kai und Nina anders gesehen. Erst nach zwei Jahren war Stella zu einer Tagesmutter gekommen, und mit drei dann in den Kindergarten. Dass ihr erstes Enkelkind ein Mädchen werden würde, hatte sich schon in der Schwangerschaft herausgestellt. Das hatte ihr Zeit gegeben, sich darauf einzustellen. Ein Mädchen, dieser Gedanke riss alte Wunden wieder auf. Und wenn sie jetzt ihren Sohn erlebte, wie er mit seiner Tochter umging, mit ihr spielte, mit ihr lachte, sie verwöhnte, dann tat die Erinnerung an ihre eigene Kindheit und an den Mann, der ihr Vater war, doppelt weh. Manuela legte den Zeitungsartikel zurück in den Schrank. In der Küche bereitete sie sich ein paar Scheiben Brot zum Abendessen zu und landete mit dem Teller wieder vor dem Fernseher. Seit sie allein lebte, musste sie keine Rücksicht mehr nehmen. Ihr reichten einfache Gerichte, die sich schnell zubereiten ließen. Den leeren Teller stellte sie in die Spülmaschine, ehe sie sich bettfertig machte. Sie las noch ein paar Seiten und im Einschlafen geisterten noch einmal ihre Schulkameraden durch den Kopf. Vielleicht würde sie doch einmal über ihren Schatten springen?

2. Kapitel

Am Freitagnachmittag erledigte Manuela nach der Arbeit ein paar Einkäufe, ehe sie sich auf den Weg in die »Heide«, das hallesche Erholungsgebiet, zur Sauna begab. Im Winter besuchte sie den finnischen Schwitztempel regelmäßig, doch auch im Sommer zog es sie ab und zu in diese kleine Wellness-Oase, wenn das Wetter ein Baden im Freien nicht zuließ oder wenn sie erschöpft war, oder sie sich einfach nur ausruhen oder nachdenken wollte. So wie heute.

Obwohl es bisher eigentlich noch recht kühl für die Jahreszeit war, hatten nicht sehr viele Menschen das Bedürfnis nach Wärme. Jedenfalls war es eher leer. Sie hatte es sich mit zwei anderen Frauen bei 80 Grad gemütlich gemacht, die sich leise unterhielten. Das war zwar nicht gerade üblich, doch es störte sie nicht. Sie hing ihren eigenen Gedanken nach und musterte ihren nackten Körper. In den letzten Jahren, seit Beginn der Wechseljahre bildete sich ein kleines Bäuchlein und ihr Busen hatte nach der Stillzeit mit Kai deutlich an Straffheit verloren. Was sollte sie sich aber beklagen mit Mitte Fünfzig? Immerhin zeigten sich noch keine grauen Haare. Oder sie fielen nicht auf in ihrer undefinierbaren Farbe, die sie immer »Straßenköter-blond« nannte. Als junges Mädchen war sie nicht unansehnlich gewesen. Sie seufzte leise auf. Da waren sie wieder, diese erdrückenden Bilder der Erinnerung.

Am nächsten Morgen lief Manuela unentschlossen durch die Wohnung. Irgendwann musste sie es wagen! Schließlich zog sie sich eine leichte Jacke über Rock und Bluse und startete das Auto. Obwohl die meisten Frauen, auch ihres Alters, eher Jeans bevorzugten, trug Manuela meistens Röcke. Es war nur eine der Folgen der Erziehung in ihrer Kindheit und Jugend. Der Vater hatte nie zugelassen, dass seine Töchter Hosen trugen. Inzwischen konnte sie längst selbst entscheiden, doch diese Gewohnheit war geblieben. Zügig fuhr sie los. Gegrübelt hatte sie wahrhaftig lange genug. Jetzt wollte sie Taten folgen lassen. Am Rand der Dölauer Heide hielt sie sich Richtung Nordwesten und folgte der Straße bis zum Thälmannschacht. Sein Spitzkegel war die Bekannteste der Mansfelder Halden und weithin zu sehen. Hier bog sie nach rechts ab und erreichte schon bald die kleine Stadt im Tal der Wipper. Einstmals war es eine Kreisstadt gewesen, doch schon kurz nach der Wende hatte sie diesen Status verloren. Inzwischen mauserte sich das Städtchen aber zu einem hübschen, liebenswerten Ort. Obwohl sie wirklich nicht oft hier gewesen war, hatte sie alle Entwicklungen mitverfolgt. Vor mehr als zehn Jahren, noch bevor die Umgehungsstraße gebaut wurde, war sie mit ihrem Mann gelegentlich hier durchgefahren. Wenn man von Aschersleben in Richtung Eisleben wollte, ergab es sich zwangsläufig als kürzester Weg. Ihr Mann wusste nichts von dem, was sie seit Jahrzehnten so bedrückte. Andreas akzeptierte einfach, dass sie mit ihren Eltern keinen Kontakt mehr wollte. Wahrscheinlich hatte er nie bemerkt, wie unruhig Manuela dann immer neben ihm geworden war.

Genauso erging es ihr jetzt wieder. Das Haus, in dem sie ihre Kindheit verbracht hatte, konnte man von hier aus nicht sehen. Aber ein Schauder lief ihr über den Rücken und ihr Magen schien heftig rebellieren zu wollen, als sie die katholische Kirche wahrnahm. Längst war sie aus der Kirche ausgetreten, der Vergangenheit konnte sie dadurch jedoch nicht entfliehen. Nun ja, eigentlich konnte die Kirche nichts dafür; es war das, was ihr Vater aus der Religion gemacht hatte, was ihr die Kindheit und Jugend vergällte. Sie ließ das Fenster ein Stück herunter und atmete tief die Luft ein, die heute von Wärme erfüllt war, und deutlich zeigte, dass in ein paar Tagen der kalendarische Sommer begann.

An der Wipperbrücke verließ sie die Hauptstraße und bog in Richtung Markt ab. Doch zum Anhalten konnte sie sich einfach nicht durchringen. »Es muss ja nicht unbedingt heute sein«, sagte sie leise zu sich selbst. Sie wendete und folgte nun der Straße in Richtung Harz. Wenn sie schon einmal hier war, konnte sie auch einen Ausflug daraus machen. Aber dann fiel ihr Blick auf das Gelände zu ihrer Rechten und sie bog im letzten Moment zum Friedhof ab. Wenigstens das Grab ihrer

Mutter wollte sie besuchen. Auch hier war sie seit Jahren nicht gewesen. Sie parkte den Golf neben einer Gärtnerei und kaufte einen Blumenstrauß. Nachdem ihr Vater auch gestorben war, kamen Maria und sie überein, das Grab durch die Gärtnerei pflegen zu lassen. Ihre Schwester gehörte zu jenen, die im Sommer 1989 über Ungarn in die BRD ausreisten. Inzwischen lebte sie in einer kleinen Stadt im Weserbergland. Sie wäre gar nicht in der Lage gewesen, sich hier um ein Grab zu kümmern; und Manuela wollte es nicht.

Langsam schritt sie durch die mit hohen, alten Bäumen bestandenen Grabreihen. Ein paar Sonnenstrahlen bahnten sich den Weg durch das Blätterdach. Schön war es hier, wenn man das über einen Friedhof überhaupt sagen konnte. Dann stand sie vor dem Grab ihrer Mutter. »Familie Knoor« stand auf dem Stein. Doch darunter nur »Hedwig 1923 – 2003« Manuela wusste nicht, ob hier auch ihr Vater beigesetzt wurde, es war ihr eigentlich auch egal. Von ihrer Tante hatte sie nur erfahren, dass er eingeäschert wurde, und das bereitete ihr eine innere Genugtuung. Bei der Mutter hatte er gegen ihren Willen auf einer Erdbestattung bestanden. Und seine Töchter fürchteten ihn auch noch nach Jahrzehnten so sehr, dass Widerworte undenkbar schienen. Nun war er hoffentlich in dem Fegefeuer gelandet, das er ihnen immer vorausgesagt hatte.

Manuela stellte die Blumen in eine Vase, die sie hinter dem Stein fand. Minutenlang verharrte sie stumm vor dem Grab. Was hätte sie auch sagen sollen? Ihrer Mutter jetzt noch Vorwürfe zu machen, dazu war es längst zu spät. Tief in ihrem Innern wusste sie, dass die Mutter ihre beiden Mädchen sehr geliebt hatte. Und hätte sie gekonnt, sie hätte anders entschieden, damals vor 41 Jahren. Doch sie war zu schwach, sich zur Wehr zu setzen. Keiner konnte das besser verstehen als Manuela selbst.

Wortlos verließ sie den Friedhof und fuhr mit dem Auto zurück zur Hauptstraße. Einer plötzlichen Eingebung folgend bog sie aber kurz darauf links ab und durchquerte das Neubaugebiet, das in ihrer Jugend gerade im Entstehen war. Es schloss an die alte Siedlung an, die sich schon ein Jahrhundert früher um den Berg herum gebildet hatte. Hier hatte Karsten gewohnt. Manuela stellte den Golf auf einer geschotterten Fläche ab, wo mitten im Gestrüpp ein blaues Parkplatz-Schild eher deplatziert wirkte, und stieg aus. Mit dem fremden Kennzeichen am Fahrzeug wollte sie nicht die Anliegerstraße hinunter fahren. Lieber ging sie ein paar Schritte zu Fuß. Ob er noch immer hier wohnte? Doch diese Frage stellte sich ein paar Meter weiter nicht mehr. Wo einstmals Karstens Elternhaus gestanden hatte, gab die frisch beräumte Fläche den Blick auf den winzigen Hof und die Bäume in dem kleinen Garten frei. Betrübt lief sie zurück zum Auto. Von ihm hätte sie gerne gewusst, wo er jetzt lebte, ob es ihm gut ging. Auch da hatte sie wohl die Gelegenheit verpasst. Kris-

tina, die Nichte von Karsten, war einige Zeit in ihrer Klasse gewesen. Manuela hätte sie nach Karsten fragen können, wenn sie sich denn beim Jahrgangstreffen gesehen hätten.

Entschlossen drehte Manuela den Zündschlüssel um. Für heute war es genug. Sie würde jetzt weiter hinauf in den Harz fahren, sich dort ein nettes Restaurant suchen und nicht mehr an die Vergangenheit denken.

Eine Viertelstunde später erreichte sie die Bundesstraße wieder, die sie am Thälmannschacht verlassen hatte. Wie oft war sie mit ihrem Mann und Kai hier entlang gefahren! Zuerst war es der östliche Teil des Mittelgebirges, in dem sie wanderten und Pilze suchten. Nachdem die innerdeutsche Grenze gefallen war, tasteten sie sich auch in den westlichen Teil und den Oberharz vor. Als die Harzhochstraße wieder bis Seesen durchgängig befahrbar war, da fühlte sie sich im wiedervereinten Deutschland angekommen.

Im Tal sah sie Schloss Rammelburg liegen. Von Weitem wirkte es wie ein verwunschenes Märchenschloss, doch leider zerfiel dieses Kleinod im Wippertal immer mehr. Sie folgte der Straße weiter bergan und bog kurz vor Harzgerode nach links ab. Die Felder rechts und links wurden hier vom Wald abgelöst. Manuela öffnete ein Fenster und sog den Tannenduft tief in sich hinein. Sie liebte Berge und Wälder sehr und hatte immer die Schulkameraden beneidet, die mit ihren Eltern an den Wochenenden Ausflüge hier her unternahmen. Bei ihr

bestand der Sonntag aus Kirche und Beten. Vergnügen war im Leben ihres Vaters nicht vorgesehen, das erwartete, nein verlangte er auch von seiner Familie. Schon früh hatte sie erfahren und begreifen müssen, was es in den Augen ihres Vaters hieß, ein Katholik zu sein. Hier im Mansfelder Land, der Heimat des großen Reformators Martin Luther war man höchstens evangelisch, meistens aber gar nichts, und das von Staats wegen. Den Hänseleien in der Schule, weil sie als einzige kein Pioniertuch trug, fühlte sie sich hilflos ausgesetzt. Aber schlimmer waren die Gängelei und die Maßregelungen zuhause. Dem entkommen konnte man nur durch Flucht.

Manuela stoppte auf dem Parkplatz am Fuße des Großen Auerbergs. Mit Kai auf der Schulter waren ihr Mann und sie einst zum Josephskreuz gewandert. Das waren die schönen Erinnerungen, die sie sich in ihrem Inneren bewahrte. Kai hatte es an nichts gefehlt. Nicht an materiellen Dingen, alles was man kaufen konnte, hatten sie ihm geboten. Aber auch an Liebe und Zuwendung mangelte es dem Jungen nie. Andreas war ein toller Vater und kümmerte sich jetzt auch um seine Enkeltochter.

Im Gasthaus bestellte sich Manuela einen Wildgulasch. Sie war es gewöhnt, alleine zu essen und ließ es sich gut schmecken. Doch wie so oft schien die restliche Welt nur aus glücklichen Paaren und Familien zu bestehen. So stieg sie schon bald wieder ins Auto und fuhr weiter. Da sie sich beim Essen überlegt hatte, über Eisleben nach Halle fahren zu können, wollte sie vorher noch in Stolberg anhalten. Das malerische Städtchen unterhalb des majestätischen Schlosses war immer einen Besuch und einen Spaziergang wert.

 

Schmunzelnd blieb sie stehen, als sie eine kleine Menschenansammlung vor einem Restaurant bemerkte, wo ein Brautpaar mit der Säge gegen einen dicken Baumstamm kämpfte. Von der Hochzeitsgesellschaft, aber auch von den Passanten kamen mehr oder minder gut gemeinte Ratschläge, die das junge Paar mit Lachen quittierte. Und um den Sägebock herum sprangen drei Mädchen in weißen Rüschenkleidern, wohl die Blumenkinder.

Mit einem Ruck wandte sich Manuela von dem Bild ab. Nur einmal in ihrer Kindheit hatte sie sich als etwas Besonderes gefühlt. Sie hatte auch solch ein schönes, weißes Rüschenkleid getragen, am Tag ihrer Erstkommunion. Es war nicht wichtig, dass zwölf Jahre vorher schon Maria das Kleid angehabt hatte. Sie war die Hauptperson und an diesem Tag hatten die Augen ihres Vaters voller Stolz und Andacht auf ihr geruht. Nun war sie ein ordentliches Mitglied der Glaubensgemeinschaft. Vorher hatte Manuela ihre erste Beichte abgelegt, bei der sie gar nicht gewusst hatte, was sie überhaupt beichten sollte. Ihre Angst vor den Strafen des Vaters bei den kleinsten Verfehlungen war so groß, dass sie überhaupt nicht in der Lage war, eine Sünde zu begehen, jedenfalls nicht mit neun Jahren. Als sie Jahre später wirklich sündigte, da war die Strafe grausam, von ihrem Vater, und in ihren Augen auch von Gott.

So in Gedanken versunken hatte Manuela den Parkplatz wieder erreicht. Sie startete das Auto und begab sich auf die Heimfahrt. Nun ging es stetig bergab. Als die Buchenwälder den Blick freigaben, sah sie in der Ferne das Kyffhäuser-Gebirge, auf dessen Höhenrücken sich das Kyffhäuser-Denkmal direkt an der Grenze zwischen Sachsen-Anhalt und Thüringen erhob. Auch dorthin hatten sie die Fahrten mit Mann und Sohn geführt. Das musste sie sich eingestehen, in ihrer Ehe hatte sie viel mehr erlebt und gesehen, als in der gesamten Zeit davor. Und jetzt bestimmte ihre Enkeltochter die Ausflugsziele. Morgen sollte es in den Zoo gehen. Hoffentlich blieb das Wetter schön.