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Flüchtlingsdrama
eines Drillings
von
Isa Louise Reichenbach
Imprint
Flüchtlingsdrama eines Drillings
Isa Louise Reichenbach
published by: epubli GmbH, Berlin
www.epubli.de Copyright: © 2016 Isa Louise Reichenbach ISBN 978-3-7375-8625-2 Lektorat: D. Müller und Meta Krug Konvertierung: Sabine Abels www.e-book-erstellung.de Umschlaggestaltung: Erik Kinting
Gewidmet meinem Begleiter Robert, der keine Mühe scheute, mich durch meine dunkelsten Tiefen zu begleiten. Dadurch konnte ich hier in meiner Heimat meine alten Wurzeln finden, die Erde auflockern und die Wurzeln tränken.
Ein Dank allen, die mir hindurch halfen.
Hommage an meine Familie.
Inhalt
Die Zeit, in die ich hineingeboren wurde
Wie meine Eltern sich kennenlernten
Kriegszeit, familiäre Belastungen und Schwangerschaft
Die Geburt der Zwillinge und das Trauma des Todes
Erneute Schwangerschaft und Kriegsende
Meine Geburt
Meine ersten drei Lebensjahre
Doktor Antze
Die Kriegsheimkehrer, das Zusammenleben und das Hochwasser
Unsere erste eigene Wohnung
Onkels Horsts Besuch mit Folgen
Tante Magda und Onkel Gerhard
Erziehung und Werte
Mein Bruder Kurt
Leben an der Flutmulde
Die neue Wohnung in Bad Oeynhausen-Lohe
Meine Schulzeit
Oma Meta
Familie, Alltag, Erschwernisse
Das Trauma des Krieges sitzt fest
Erinnerungen an schönere Zeiten
Seelische Belastungen
Familienfeste
Vorzeigekinder
Erster Kuraufenthalt
Pubertät
Erneuter Kuraufenthalt
Schattenseiten
Konfirmation und Ausbildung
Der Nebenjob
Ein einschneidender Verlust
Meine Jugend
Der Übergriff
Rückzug in mich selbst
Arbeitsalltag und die erste große Liebe
Maren
Sommerurlaub
Veränderung
Die Zeit, in die ich hineingeboren wurde
Lange ist es her, als ich in einem kleinen, verschlafenen Örtchen direkt nach Kriegsende geboren wurde.
Der Staub einiger eingestürzter Mauern lag noch in der Luft. Der kleine Kurort, in dem zuvor die Menschen durch die heilenden Quellen Linderung für ihre Leiden fanden, war zum Glück größtenteils erhalten geblieben. Nur weniges musste repariert werden, sodass das Leben wieder bald vorangehen konnte. Allerdings war die Geschäftigkeit, die vor dem Krieg geherrscht hatte, aufgrund der Umstände längst eine andere geworden: Es musste sogar Tauschhandel mit Lebensmitteln betrieben werden, um die nötigsten Nahrungsmittel auf dem Tisch servieren zu können. Es mangelte an allem, auch die dringend benötigten Gebrauchsgüter mussten irgendwie besorgt werden, um ein neues Leben beginnen zu können.
Um den Ortskern befand sich Stacheldraht. Rund gewickelt zog er sich wie eine gekräuselte Girlande durch die Straßen der Innenstadt. Niemand konnte durchkriechen oder darübersteigen. Nicht jeder sollte in die besetzte Zone einfach so hineingehen können. Dort hatten sich wohl überwiegend Engländer einquartiert. An den Eingängen durch den Stacheldraht befanden sich kleine Wachhäuschen, an denen Posten jeden kontrollierten, der rein- und rausging. Um in die besetzte Zone zu gelangen, benötigte man einen Ausweis. Die Menschen, die den Krieg verloren hatten, sollten außen vor bleiben. Ein Zeichen des verlorenen Krieges, Grenzen zu setzen.
Die Menschen nach den Kriegserlebnissen waren vorsichtig miteinander. Wenn sie sich trafen, sagte jeder einige nette Worte. So entstanden kleine Kontakte. Doch durch die vielen Heimatvertriebenen blieben sich die Menschen einander fremd. Die, die die Heimatlosen aufgenommen hatten, empfanden das oft als Einschränkung, denn solche Begegnungen sind nie einfach. Alle Menschen hatten mit dem Wiederaufbau zu tun und schufen sich neue Hausstände. Keiner hatte Zeit, die schlimmen Erlebnisse der Kriegszeiten zu verarbeiten. So wurde gearbeitet und geschwiegen.
In diese Zeit wurde ich hineingeboren: ein mageres und mickrig-kleines Mädchen mit geringem Gewicht – eben den Umständen angepasst. Die Zeit war darauf angelegt, sich von wenigem zu ernähren und zurückhaltend zu sein. Es gab nicht alle Lebensmittel und vieles nur auf Verbrauchsmarken.
Wie meine Eltern sich kennenlernten
Meine Mutter Claire stammte aus einer pommerschen Großstadt. Sie war klein und zierlich mit dunklen Haaren und schwarzen, lebendigen Augen. Die von den durchlebten Ereignissen verängstigte und unsichere junge Frau erwartete mich, das Kind, das in ihr heranwuchs, voller Freude und Erschrecken. Lähmende Gefühle waren durch die Verluste entstanden, aber auch Zwiespalt, denn nichts war mehr wie vorher.
Ihr Vater war bei der Deutschen Bundesbahn als Wagenmeister tätig und konnte die Familie gut versorgen. Er hatte mit seiner Frau schon ein kleines Haus am Rande der Großstadt Stettin. Im Kreise einer frohen Familie wuchs meine Mutter mit ihren beiden Schwestern – einer älteren und einer jüngeren und alle bildhübsch mit schwarzen Augen und Haaren – heran. Der Opa und die Mutter waren Schneidermeister. Sie hatten viele gute Kunden in Stettin und erfreuten sich großer Beliebtheit. Auch die Familie wurde stets mit stilvoller und moderner Kleidung versorgt. Es mangelte an nichts.
So konnten alle drei Mädchen unbesorgt zu jungen Frauen herangewachsen. Gern gingen sie in das bekannte Stadtcafé Ufa, in dem Tanzveranstaltungen stattfanden. Mutter und die älteste Schwester machten eine Ausbildung in Büros und die jüngste wurde Friseurin.
In Stettin lernte Claire ihren späteren Mann kennen: Edwin, der dort als Soldat stationiert war. Die Soldaten amüsierten sich in der Freizeit und besuchten die Lokale, in denen sie junge Frauen trafen. Der junge Edwin war schon in seiner schlesischen Heimat in Vereinen, bei denen Schauspielstücke vorgetragen wurden, tätig. Es wurde viel musiziert und gesungen und er spielte manchmal Schifferklavier. Außerdem imitierte er als Conférencier alte, bekannte Schauspieler. Die Leute mochten ihn und vergnügten sich gern dort.
Claire und Edwin verliebten sich und erlebten zueinander eine große Faszination und Lebendigkeit. Sie beschlossen zu heiraten.
Inmitten einer unruhigen Kriegszeit, in der die Menschlichkeit in einem Chaos versank, richteten die Brauteltern der Braut für Claire 1942 ein wundervolles Hochzeitsfest in der Heimatstadt Stettin aus.
Das hübsche Brautkleid und der Schleier mit einer langen Schleppe wurde vom Opa selbst geschneidert. Die Trauung fand in einer evangelischen Kirche statt und alle Familienangehörigen nahmen teil. Man war fröhlich und guter Dinge und hoffte, das Glück begleite die beiden Vermählten in allen Zeiten. Der Krieg war in den Momenten vergessen. Geschossen wurde woanders!
An diesem Tag begegneten sich beide Familien zum ersten Mal: die Familie der Braut aus der Stadt und die Familie des Bräutigams vom Lande. An Gegensätzen kaum zu überbieten.
Die eine stammte aus der ländlichen niederschlesischen Idylle mit kleinen Gebirgsketten sowie Bächen und Flüssen, in denen es Fische zum Angeln gab, die danach zu leckeren Gerichten verarbeitet wurden. Viel Obst hing an den Bäumen und genug Vieh stand in den Ställen. Das Leben spielte sich in der Natur ab. Die Kinder tollten am Bach neben dem Familienbesitz herum und in den stets schneereichen Wintern schnallten sie sich sogar selbst gebaute Skier unter die Füße und fuhren die Hänge hinab.
Demgegenüber war Claire, die Braut, ein Kind der Großstadt in damaliger Zeit. Claire mit ihren beiden Schwestern bewegten sich als Stadtkinder in ihrer Umgebung und kannten weniger natürliche Freiheit. Sonntags spazierten die Eltern mit ihren Töchtern auf der wundervoll angelegten, sogenannten Hakenterrasse. Ihr Name stammte vom Bauherrn Hermann Haken. Die gesamte Anlage ist aus Sandsteinblöcken gemauert. Rechts und links der Treppenaufgänge befinden sich die als Lampenträger stilisierten Leuchttürme und oben zwei große Pavillons als Flankenbegrenzung. Unten steht eine Plattform mit der Springbrunnengrotte darunter. Der Spaziergang wurde immer von gemütlichem Kaffeetrinken unterbrochen. Von den Lokalitäten konnten die im Hafen liegenden oder auslaufenden Schiffe betrachtet werden, was den Kindern Spaß machte.
Kriegszeit, familiäre Belastungen und Schwangerschaft
Die Kriegsereignisse nahmen die parteilos gebliebenen Jungvermählten in ihre Dienste. Er wurde Soldat und sie Stabshelferin. Die jeweiligen Tätigkeiten sorgten für häufige räumliche Trennungen. Edwin war zunächst in Niederschlesien stationiert und Claire als Stabshelferin in verschiedenen Orten nahe Stettin tätig. Es war 1942 und für die Bevölkerung sah es aus, als wäre alles gut. Die Familie in Stettin war noch im Ort und Edwins Mutter konnte ihr Gasthaus in Schlesien weiterhin betreiben.
Durch die Kriegsdienste konnte sich das junge Ehepaar jedoch immer nur kurzfristig treffen. 1943 wurde Claire schwanger. Sie war inzwischen nach Peenemünde versetzt worden – einem gemütlichen Städtchen an einer Ostseemündung im Oderhaff. Der Fluss Peene prägte diese traumhafte Naturlandschaft. So ahnte niemand der jungen Leute, was in der sogenannten Heeresversuchsanstalt Peenemünde eigentlich stattfand.
Sie waren einberufen worden und verrichteten irgendwelche Tätigkeiten: die Frauen Schreibarbeiten und – eingeteilt in Gruppen – vielfältige Zugehdienste für die Soldaten. Es gab große Küchen für alle, in denen auch einige arbeiteten. Die jungen Frauen wohnten in verschiedenen Häusern, getrennt von den Wohnblöcken der Soldaten. Die Stabshelferinnen waren zum Teil in Holzbaracken im Wald untergebracht. Ein anderer Teil wohnte in einem Hochhaus an der Ostseemündung. Die Freizeit wurde mit Sport oder fröhlichen Veranstaltungen ausgefüllt. Niemand bekam mit, was wirklich dort vor sich ging, denn nur Eingeweihten war bekannt, wo das Kriegsmaterial hergestellt und gelagert wurde. Auch die Einheimischen bekamen nicht mit, dass dort Versuche stattfanden oder Waffen eingelagert wurden. So dachte niemand daran, dass Bomben ausgerechnet in Peenemünde abgeworfen werden, obwohl Küstenorte als beliebte Kriegsziele galten. Das hier oft hergestellte Kriegsmaterial konnte schnell und einfach auf Frachtschiffe verladen und über den Seeweg zu den Orten gebracht werden, an denen man sie benötigte.
Passagierschiffe im Krieg hatten verschiedene Einsätze. So war beispielsweise die Wilhelm Gustloff ein großartiges Schiff mit vielen Annehmlichkeiten der damaligen Zeit. Das junge Ehepaar Claire und Edwin unternahm auf der Wilhelm Gustloff nach ihrer Hochzeit eine kleine Fahrt. Es gehörte zu ihren schönen Erinnerungen. Als die Gustloff durch einen Beschuss mit Tausenden Menschen an Bord versenkt wurde, trauerten die Eltern der Wilhelm Gustloff nach. Der Untergang war eine große Katastrophe.
Es war der 17. August 1943 und gegen Mittag, als plötzlich die Sirenen heulten. Gellend, kreischend, lauter und immer unerträglicher werdend, erfüllte ein unbeschreiblicher Lärm die sonst so stille Luft in dieser herrlichen Landschaft. Die Tiefflieger kamen wie Pfeile angeschnellt, um ihre an Bord geladenen Bomben abzuwerfen. Quälende Gedanken, dass es hoffentlich bald vorbei ist. Minuten wurden zu Stunden. Erbarmungslos heulte und knallte es. Alle rannten umher, um Unterschlupf zu finden.
Als das Hochhaus getroffen wurde, in dem viele junge Frauen wohnten, kamen zu dem Lärm des Fliegerangriffs noch die Schreie der Frauen dazu. Die mit Phosphor gefüllten Brandbomben ließen sich nicht löschen und daher warfen sich die schreienden Frauen ins Meer, um ihre feurigen Körper zu löschen. Sie kreischten und schrien, aber das Wasser half nichts. Sie fackelten wie lebendige Kerzen unter grausamen Schmerzen ab und verkohlten bei lebendigem Leibe.
Auch die junge, schwangere Claire rannte – so schnell sie konnte – mit den anderen Frauen ins Wirtschaftsgebäude, welches bisher verschont geblieben war. Sie kauerte sich mit den anderen Frauen aneinander, schlotternd versuchten sie, einander Halt zu geben. Claire war am meisten mitgenommen. Ihre Freundinnen mussten sie eine ganze Weile festhalten, bis sich ihr Körper beruhigt hatte. Das Geschehen lief ab wie in einem Zeitraffer der Unendlichkeit, so beschrieb sie es später. Wie alle feststellten, hatte der Angriff nur kurz gedauert, denn es war immer noch um die Mittagszeit.
Zurück ließ er den Himmel – neblig, grau und verhangen – einen Geruch – penetrant, scheußlich – und traumatisierte, angsterfüllte junge Menschen. Auch Claire konnte das niemals vergessen. Die durchlebten Gefühle begleiteten fortan ihr weiteres Dasein.
Die werdende Mutter war von dem Geschehen so erschüttert, dass sie nicht mehr in Peenemünde bleiben wollte. Aufgrund der Schwangerschaft konnte sie einen Versetzungsantrag in die Nähe ihres in Schlesien stationierten Ehemannes stellen, der umgehend genehmigt wurde. Kinder waren zu dieser Zeit sehr erwünscht.
Sie reiste sofort zu ihrer Schwiegermutter nach Bernstadt in Schlesien, die dort als gelernte Köchin die Gaststätte Schützenhaus betrieb. Das Schützenhaus war ein großes altes Gebäude mit dicken Mauern, hinter denen es mächtig kalt war. Die Septembertage waren schon ziemlich kühl geworden und die junge, schwangere Frau fror in dem Haus sehr. Mit ihrem Ehemann stand sie dank der gut funktionierende Feldpost in Verbindung. So wusste Claire auch, dass ihr Mann nicht sehr weit entfernt, im Ort Rogau-Rosenau, bei der Fliegereinheit stationiert war. Edwin bildete dort andere Soldaten aus.
Eine Weile die Kälte bei der Schwiegermutter hingenommen, entschloss sie sich, ihren Mann, den künftigen Vater, aufzusuchen, der sich sehr über ihr Kommen freute. Er suchte und fand sofort ein Zimmer in einem Hotel.
„Da bekam ich ein wunderschönes Zimmer“, erzählte sie später, „und alle waren sehr freundlich“.
Das war eine gute Ankunft in Zobten am Berge, wie der Ort hieß.
Die Zeit der Schwangerschaft ging voran und der Körper kam in Form. In dem Hotel konnte sie auf Dauer nicht bleiben und mit einem bald ankommenden Kind überhaupt nicht. Also machte sie sich auf die Suche nach einem Zimmer zur Untermiete. Schnell fand sie ein sehr schönes Quartier bei einer Frau Schmidt in der Bergstraße.
Das Anwesen von Frau Schmidt war so gebaut, dass die Vorderfront mit zwei Fenstern versehen war. Statt einer Türe ins Haus gab es einen kleinen Torbogen, durch den man in einen Innenhof kam, in dem wunderschöne Blumen und kleine Bäume angepflanzt waren. An den Wänden rankte wilder Wein mit seiner lebendig-dunkelroten Farbe. Für eine werdende Mutter eine Oase der Ruhe – mitten im Krieg, den es hier nicht gab.
Es kam ein sehr kalter Winter 1944. Doch in ihrem Zimmer war es warm und gemütlich. Der kleine Ofen verbrannte die Kohlen sehr gut und erzeugte eine wohlige Wärme.
Claire hatte zwar einen schlesischen Mann geheiratet, aber sie wusste von der Heimat ihres Mannes noch gar nichts.
Zobten am Berge war hübsch und von kleinen Hügeln umgeben. Größere Häuser wie in Stettin gab es dort nicht, auch keine Busse und Straßenbahnen. Edwin schilderte, dass die Menschen in Schlesien sich untereinander schon Glaubenskämpfe vor dem Krieg geliefert hatten. Die schlesischen Gebiete waren zumeist von katholischen Gläubigen besiedelt, den evangelischen Glauben, dem meine Mutter angehörte, kannte man kaum. Die evangelischen und die katholischen Leute durften nicht miteinander sprechen. Die beiden Pastoren beschimpften sich wegen der Glaubenszugehörigkeit. Sie forderten die Leute sogar mal auf, sich gegeneinander aufzulehnen. Das uferte aus und die Leute gingen mit Stöcken aufeinander los. Das Volk wurde vom Virus des Kleinkrieges infiziert und kämpfte einen sinnlosen Kampf. Alle waren sich irgendwie fremd und vermuteten hinter jedem anderen etwas Schlechtes. So war kein vernünftiges Miteinander möglich. Ein geheimnisumwittertes, gespanntes Verhältnis hatte sich unter den Menschen breitgemacht. Der Fleischer grüßte den Bäcker von nebenan nicht mehr, obwohl sie jahrelang befreundet waren – nun trennten sie die Parteibücher. Es tobte selbst in der Zeit des Zweiten Weltkrieges auch noch ein zwischenmenschlicher Kleinkrieg.
In diesem Klima des Miteinanders hatte die Mutter Meta versucht, das Gasthaus, das ihr als Witwe ihres verstorbenen Mannes gehörte, zu führen. Das war ein Speiselokal mit etlichen Stammgästen, denn sie liebte ihren Beruf als Köchin sehr.
Von diesen Geschehnissen wusste die werdende Mutter Claire gar nichts. Ihr Leben in der Großstadt war schon damals angenehmer.
Die Geburt der Zwillinge und das Trauma des Todes
Es war der 25. Februar 1944, als die Geburt bei der jungen Frau begann.
In dem kleinen Ort Zobten gab es nur ein kleines Krankenhaus, das die werdenden Eltern eilig aufsuchten. Allerdings war nur eine Hebamme im Krankenhaus und der Arzt selbst erkrankt. Dieses Krankenhaus war erzkatholisch und diese Menschen waren es gewöhnt, den evangelischen Glauben und seine Menschen abzulehnen oder zu bekämpfen. So geriet die junge Frau in dem katholischen Krankenhaus zwischen die Fronten menschlicher Zwietracht und Intoleranz. Die Nonnen sprachen kaum mit ihr und überließen sie mehr sich selbst.
Die Geburt verlief über viele Stunden. Es war in der Nacht gegen 3 Uhr, als das Mädchen das Licht der Welt erblickte. Mit seinen 6 Pfund sah es recht kräftig aus und krähte fröhlich in die neue Umgebung. Die Eltern gaben ihr den Namen Barbara und waren sehr glücklich und stolz. Die Mutter hatte jedoch weiterhin sehr starke Schmerzen. Man muss dazu sagen, dass es in Kriegszeiten damals keine medizinische Vorsorge gab und die Menschen mit den damit verbundenen Überraschungen fertig zu werden hatten. Als die Hebamme noch mal nachfühlte, lächelte sie und sagte:
„Ich traue meinen Augen kaum, da ist ja noch ein Köpfchen … Es kommt also ein zweites!“
Es war bereits in den Morgenstunden, als ein weiteres Mädchen in dieses Leben hineingepresst wurde! Die Eltern gaben ihr den Namen Sieglinde. So waren Barbara und Sieglinde auf der Welt – schöne und gesunde Mädchen. Die Eltern freuten sich und glaubten, ihr Glück sei vollkommen. Sie ahnten nicht, dass die beiden Mädchen den Hauch des Todes mitgebracht hatten ...
Die Zwillinge wurden in kleine Bettchen gelegt und konnten sich – genauso wie ihre Mutter – nach der anstrengenden Geburt erst mal ausschlafen.
Frau Badusche, Claires Nachbarin, erzählte im ganzen Ort, dass so schöne Zwillinge geboren wurden. So kamen die Leute ins Krankenhaus, um die Babys zu besichtigen und etwas Freude in diesen finsteren Kriegszeiten einzufangen. Die Kälte des Februars 1944 wurde von den Besuchern in den dicken Mänteln nicht gespürt! Es gab noch keine verschlossenen Glashäuser, in denen die Babys geschützt vor Wind und Wetter ihre ersten Tage erleben konnten, und auch die Heizung des Krankenhauses gab nicht viel her. So herrschte Durchzug und niemand beachtete das. Außerdem waren weder Fenster noch Türen dicht, sodass die Kälte im Krankenhaus den beiden sehr zu schaffen machte. Das Hin und Her der vielen Menschen an den Bettchen, die Kälte, die sie von draußen mitbrachten – all das machte die Mutter und die Kinder krank. Die Mutter, die die beste Versorgung an der Brust für ihre Kinder übernehmen wollte, konnte das nicht. Sie bekam eine Grippe und hohes Fieber. Man reichte ihr keine Medikamente, sondern überließ sie dem Krankheitsfortgang. Das Personal der Abteilung – verirrt in der Vorstellung, evangelische Familien seien wertloser als katholische – machte sich rar in der Pflege. Es gab nur das Nötigste, jedoch keine freundliche Zuwendung.
In diesen Zeiten wurde mit Wasser verdünnte Milch den Babys gereicht, deren Mütter nicht stillen konnten. Das gab natürlich Verdauungsstörungen. So vertrugen auch die beiden kleinen Mädchen, Barbara und Sieglinde, die künstliche Ernährung nicht so recht. Hinzukommend hatten sie sich erkältet, vielleicht auch bei der Mutter angesteckt.
Der junge Arzt, der ansonsten den Dienst im Krankenhaus versehen hatte, war selber erkrankt. Ein alter, längst pensionierter Arzt erklärte, dass er sich damit nicht auskennt. So signalisierte er, dass er damit nichts zu tun haben will. Aus diesem Grund entließ man nach wenigen Tagen die an Fieber erkrankte Mutter mit den kranken Zwillingen aus dem Krankenhaus.
Die kleine Wohnung war wenigstens gemütlich. Dennoch war auch hier kaum ausreichende Wärme zu erzielen, da der Winter 1944 seine Temperaturen um die 20 Grad Minus hergab. Die Öfen waren klein und nicht ausgerüstet, so viel Heizmaterial aufzunehmen. Nichtsdestotrotz hofften die jungen Eltern, dass sie den Kindern dort helfen konnten, gesund zu werden.
Glücklicherweise war trotz der schlimmen Kriegszeit noch die Telegrafie möglich. So konnte man Claires Mutter, die Oma der Zwillinge, eilig aus Stettin herbeirufen. Der Opa war bei der Bahn als Wagenmeister tätig, daher konnte die Reise von Stettin nach Zobten am Berge in Schlesien sofort arrangiert werden.
Die Oma war selbst Mutter von drei Töchtern. Doch das Leben in der Stadt war einfacher als in dem abgelegenen Dorf Zobten. Einen Arzt gab es ebenso wenig wie Medikamente für die an Fieber erkrankte Kindbettmutter. Diese schleppte sich elend und schlapp dahin und konnte vor Schwäche kaum das Bett verlassen. Die Oma kochte für ihre beiden süßen Enkelmädchen Tee und flößte ihnen diesen schlückchweise ein. Das sollte den Durchfall und das Erbrechen lindern, jedoch half er nicht, die Infektion einzudämmen. Die Kinder hatten gleichzeitig Hunger und Schmerzen und erbrachen sich. Sie schrien markerschütternd. Die Oma, die bis zu diesem Krieg schon ein schwieriges eigenes Leben gehabt und jahrelang ihre eigene, schwer erkrankte Mutter versorgt hatte, erlebte erschüttert ihre Ohnmacht, denn sie konnte ihrer Tochter und den leidenden Babys nicht helfen. Fassungslos stellten alle fest, dass keine Überlebensmöglichkeit besteht.
Der Vater, Edwin, wollte mit seinen kranken Babys gern in die größere Stadt Breslau fahren, um zu einem helfenden Arzt zu gehen, und fragte seinen Kompaniechef. Der lehnte jedoch mit dem Argument ab, dass es Fahnenflucht sei, wenn sich ein Soldat ein paar Kilometer von der Einheit entfernt. Und für Fahnenflucht gab es schwere Strafen bis hin zu Tod durch Erschießen. Vor dieser Strafe hatte Edwin wiederum Angst, weil er es bei Kameraden schon erlebt hatte – also gab es kein Entrinnen.
Oma Elsa war eine sehr gläubige evangelische Frau mit großer Liebe zu Gott, also taufte sie selbst die beiden todgeweihten Kinder auf ihre Namen Barbara und Sieglinde. Sie verzweifelte schier an den Umständen, hielt sich jedoch tapfer aufrecht, um das Nötige zu tun. Sie trug zusammen mit Edwin die sterbenden Kinder auf den Armen. Die Kindsmutter kämpfte um ihr eigenes Leben, sodass sie nichts tun konnte. Nicht nur die äußere Kälte ließ frieren, sondern auch die innere Kälte. Die Herzen erstarrten bei diesem Anblick von Leiden, Elend und Ohnmacht. Sie erlebten, wie zwei Kinder verhungerten. Es gab nichts Tröstendes, nichts, woran man Hoffnung festmachen konnte – Lähmung hatte sich unter diesen wenigen Menschen ausgebreitet.
Der Tod nahm zuerst das zweitgeborene Baby, Sieglinde. Sie lag im Arm des Vaters, als ihr Herz aufhörte zu schlagen.
Erschütterung in den Herzen. Stille und Fassungslosigkeit.
Ein kleiner weißer Sarg wurde bestellt, in den das Baby hineingelegt und zugedeckt wurde. Die Mutter der Kinder, immer noch vom Fieber geschüttelt, konnte gar nicht das Bett verlassen, um zur Beerdigung zu gehen. Der Pastor versuchte in seiner Trauerrede, die göttliche Vorsehung aufzuzeigen. Danach wurde der Sarg unter einem Baum in Zobten am Berge in die Erde versenkt.
Niemand konnte jedoch die Decke, die sich über die Erstarrten gelegt hatte, abnehmen. Es gab in jenen Kriegszeiten keine Gespräche, keine Nähe oder Zärtlichkeit, sondern nur Aufregung und Unruhe und den Kampf ums eigene Überleben, dem niemand entrinnen konnte.
Einige Tage später schloss auch das erstgeborene Mädchen, Barbara, für immer die Augen, um der Schwester zu folgen. Sie starb in Omas Armen und wurde auch in einen kleinen weißen Sarg gelegt. Als sie zu Grabe getragen wurde, schleppte sich die Mutter mit zum Friedhof. Sie wollte die Stelle sehen, an der ihre Kinder in die kalte Erde gelegt wurden. Zu ihrer eigenen Erkrankung kam die Erschütterung über das Erlebte. Das Geschehen war für sie unerträglich und es dauerte einige Zeit, bis ihr Körper die Kraft zur Gesundung fand und sie wieder in den Dienst treten konnte.