Czytaj książkę: «Ein Herz zu viel», strona 4

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5.

Montag, 24. August

„Reiter vom Kargmaier-Hof Reischach,“ sagte die Frau am Telefon betont hochdeutsch. „In unserer Privatkapelle liegt eine Dose mit gruseligem Inhalt. Kommen Sie schnell!“

„Fassen Sie nichts an, wir sind unterwegs,“ sagte Leo und legte auf. „Es gibt Arbeit Leute. Schon wieder ein Behälter mit seltsamem Inhalt,“ stöhnte er und griff trotz der andauernden Hitze nach seiner Lederjacke.

„In welcher Kirche?“

„Privatkapelle in Reischach.“

Die anderen folgten ihm betroffen. Sie hatten die letzten Tage ergebnislos damit verbracht, die Leichen zu den drei Herzen zu finden. Und jetzt bekamen sie noch eins dazu. Das Ganze war also noch nicht zu Ende. Hans hatte keine Lust mehr, für ihn war das kein richtiger Fall. Ein ordentlicher Mord war kein Problem, aber das? Werners anfängliches Interesse war verschwunden. Nur Viktoria sagte nichts und schien in Gedanken ihrer Arbeit nachzugehen. Sie hatte heute ein vertrauliches Gespräch mit Krohmer geführt, das sie beschäftigte und ablenkte. Das, was ihr Krohmer mitteilte, würde ihr ganzes Leben auf den Kopf stellen.

Nach zwanzig Minuten war die hübsche, kleine Privatkapelle des Kargmaier-Hofes von Fuchs weiträumig abgesperrt worden. Er erlaubte den Kollegen nur einen Blick auf die Schatulle und deren Inhalt. Sie sahen sofort, dass es sich auch hier um ein relativ frisches Herz handelte. Und die Schatulle sah der aus der Altöttinger Gnadenkapelle sehr ähnlich.

Das alte Ehepaar Reiter war von dem Fund völlig geschockt. Sie saßen nebeneinander stumm auf der Bank vor dem alten, gepflegten Bauernhaus und schienen die Hitze nicht zu merken. Hans und Leo setzten sich zu ihnen.

„Die Kapelle ist schon über zweihundert Jahre alt und die Tür steht schon immer für alle offen,“ begann Frau Reiter zu erzählen. „Meine Vorfahren haben das damals verfügt und es ist in den vielen Jahren nie etwas passiert. Bei uns steht eine Feier an, unser erster Urenkel wird getauft. Und zu dieser Taufe wollte ich die Kirche schmücken. Dann habe ich diese silberne Dose gefunden. Sie können sich nicht vorstellen, wie ich mich erschrocken habe. In meinem Alter steckt man das nicht mehr so leicht weg, ich bin schon 81 Jahre alt. Wobei handelt es sich bei dem blutigen Ding? Mein Mann ist sich sicher, dass es sich um ein menschliches Herz handelt. Das kann doch nicht sein!“

„So wie es aussieht, liegt ihr Mann wahrscheinlich richtig mit seiner Vermutung.“

„Ein menschliches Herz in unserer Kapelle? Warum? Wer macht so etwas?“

„Das werden wir herausfinden. Sie liegen mit Ihrem schönen Hof sehr abgelegen und haben eine relativ gute Aussicht über das ganze Tal. Kam Ihnen etwas merkwürdig vor? Haben Sie etwas gesehen?“

„Da war eine Frau, die sah aus wie eine Nonne,“ sagte Herr Reiter mit tiefer Stimme.

„Was redest du denn da? Du hast bei uns eine Nonne gesehen? Das glaube ich nicht!“

„Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich gestern eine Nonne dort unten gesehen habe. Sie fuhr auf einem Fahrrad. Sie muss von unserem Hof gekommen sein, das geht nicht anders.“

„Ach was du gesehen haben willst! Warum soll sich eine Nonne hierher verirren? Erzähl doch nicht so einen Unsinn. Weißt du eigentlich, was du mit deinem Gerede anrichtest? Jetzt sieht es so aus, als hätte eine Nonne die silberne Dose bei uns deponiert. Das ist doch völlig absurd!“

„Du hast wie immer Recht, Ulla. Vielleicht habe ich mich geirrt!“

„Moment, nicht so schnell,“ hielt Leo Herrn Reiter auf, der ins Haus gehen wollte. Er war beleidigt, weil seine Frau ihm wie so oft nicht glaubte. „Können Sie die Nonne näher beschreiben?“

„Sie hatte ein helles Kleid an. Und einen rosa Schleier.“

„Was sagst du denn da? Es gibt doch keine rosa Schleier bei den Nonnen! Glauben Sie meinem Mann nicht, der irrt sich oft. Er hört schlecht und auch seine Augen lassen mehr und mehr nach.“

Jetzt war der alte Reiter richtig sauer. Er senkte den Kopf, murmelte vor sich hin und ging davon. Seine Frau folgte ihm.

„Sollen wir die Aussage des Alten ernst nehmen?“

„Ich bin mir nicht ganz sicher. Nonnen mit solcher Tracht gibt es meiner Meinung nach tatsächlich nicht, aber trotzdem werde ich in die Richtung recherchieren. Was mich stutzig macht ist die Tatsache, dass nicht nur die beiden Jungs eine Nonne gesehen haben wollen, sondern auch der alte Reiter. Seine Aussage würde zumindest unsere Seifen-Liste enorm einschränken.“

Fuchs trabte mit seinem neuen Fund davon und fuhr damit abermals direkt nach München. Diesmal hielt sich Viktoria mit einer Bemerkung zurück. Sie blickte vor sich hin, war mit ihren Gedanken ganz weit weg und schien kaum zu bemerken, was um sie herum geschah. Sie ging die ganze Zeit stumm ihrer Arbeit nach und hielt sich eher zurück. Was war nur los mit ihr?

Krohmer hatte von dem neuen Fund Wind bekommen und wartete bereits auf seine Beamten. Er war bestürzt darüber, dass tatsächlich ein weiteres Herz gefunden wurde. Er hatte ebenfalls darauf gehofft, dass keine neuen Herzen auftauchten. Dieser Fund war etwas ganz Besonderes. Er wollte jede noch so kleine Information über den neuen Fund erfahren, denn er war mit dem Sohn des Ehepaars Reiter befreundet. Florian Reiter hatte Krohmer umgehend informiert, als ihn seine Mutter angerufen und über den Fund in der Familienkapelle informiert hatte.

„Und Sie glauben, diese angebliche Nonne, die der alte Reiter gesehen haben will, könnte etwas damit zu tun haben?“

„Wir werden sehen.“

Hans recherchierte umgehend die verschiedenen Trachten der Ordensgemeinschaften. Es gab tatsächlich keine rosafarbenen Schleier zur hellen Tracht. Hatte der alte Reiter sich doch geirrt? Hans und Leo nahmen die Information sehr ernst, die anderen taten das als Irrtum ab.

Am späten Nachmittag kam Fuchs mit dem Ergebnis aus München zurück. Es war so, wie bei den anderen beiden Fällen auch. Die DNA war nicht registriert und auf der Schatulle konnten keine Fingerabdrücke oder sonstige Spuren, die einen Täter überführen könnten, sichergestellt werden.

„Und auch hier ist sich der Pathologe sicher, dass das Herz einer älteren, männlichen Person zugeordnet werden kann, dessen Tod erst kürzlich eingetreten sein muss. Er schätzt ca. 10-14 Stunden vor Auffinden des Herzens, wir sprechen also vom 23. August. Die Schatulle ist die dem Fund in der Altöttinger Gnadenkapelle auffallend ähnlich. Die Fachleute sind sich sicher: Alle vier Schatullen liegen im Alter sehr nah beieinander und stammen vom selben Hersteller.“

„Dann machen Sie sich an die Arbeit und finden Sie endlich diesen Spinner! Ich habe jetzt genug davon, dass in meinem Zuständigkeitsbereich Herzen auftauchen, die in Kirchen und Kapellen abgelegt werden.“ Krohmer mochte solche Fälle absolut nicht. Hier gab es nichts Greifbares und nicht den kleinsten Hinweis. Für ihn war diese Seifenspur nicht wichtig, sie könnte wer weiß woher stammen. Und was war mit dieser vermeintlichen Nonne? Nur eine Frau mit hellem Kleid und rosafarbenem Kopftuch, die zufällig am Kargmaier-Hof vorbeifuhr? Nein, das war nicht möglich. Krohmer kannte den Hof von wenigen Besuchen und war sich sicher, dass da keine Straße vorbeiführte. Hatte sich der alte Reiter geirrt? Krohmer war sich nicht sicher, er kannte den Mann nicht näher. Er würde ihn als mürrisch und wortkarg beschreiben. Außerdem redete immer nur seine Frau, wenn er auf dem Hof war. Er musste unbedingt nochmals im Beisein seines Freundes Florian mit dessen Eltern in aller Ruhe sprechen, und zwar so schnell wie möglich.

Da Leo und Hans davon überzeugt waren, dass sich der alte Reiter nicht geirrt hatte, gingen sie die Kundenlisten der Seifenfabrik Ludwig durch und berücksichtigten nun nur Nonnenklöster und Einrichtungen, die von Nonnen unterhalten, verwaltet oder betreut wurden.

„Und da waren es nur noch sechs,“ triumphierte Hans. „Ein Kloster in München, eins in Regensburg und eins in Landshut. Dann hätten wir noch ein Seniorenheim in Kaufbeuren, eins in der Nähe des Bodensees und ein Palliativhaus in Berchtesgaden.“

Obwohl Viktoria und Hans nicht an die Nonne glaubten, unterstützten sie ihre Kollegen bei den Ermittlungen. In welche Richtung hätten sie sonst ermitteln sollen? Alle Einrichtungen bestätigten, in der Vergangenheit mit der Seifenfabrik Ludwig geschäftlich in Kontakt gestanden zu haben. Einige waren sich sicher, dass noch Restbestände der Kernseifen vorhanden seien, da man sich damals beim Konkurs noch mit einem größeren Vorrat eingedeckt hatte. Alle priesen die gute Qualität der Seifen an.

„So etwas Gutes bekommt man heute nicht mehr,“ sagte eine Schwester, die mit dem Wareneinkauf des Klosters in Landshut betraut war. „Heute werden chemische Zusatzstoffe beigemischt, die die Haut austrocknen und reizen.“

Die Polizisten besorgten sich von den Einrichtungen und den zuständigen Standesämtern eine Liste von Verstorbenen, die in die fraglichen Herzfunde hineinpassten. Sie interessierten sich vor allem für Verstorbene vom 17., 18. und 23. August dieses Jahres.

„Kaufbeuren, der Bodensee und Regensburg fallen raus,“ rief Leo und strich die entsprechenden Häuser aus der Liste.

„Ebenso Berchtesgaden. Hier starben zwei Menschen, aber das Alter und das Geschlecht stimmen nicht mit unseren Herzen überein,“ sagte Viktoria, die von den endlos langen Wartezeiten und Gesprächen genervt war.

„Dann bleiben nur noch die beiden Klöster in München und Landshut. Die zu überprüfen ist ein Klacks.“

Viktoria und Werner übernahmen das Kloster in Landshut, Leo und Hans machten sich auf den Weg nach München. Die Polizisten hatten sich vorsorglich angemeldet.

„Was ist denn nun?“, sagte Viktoria ungeduldig und drückte mehrfach die laute Klingel. Für ihre Begriffe standen sie schon viel zu lange vor der Tür des Klosters in Landshut.

„Dort hinten kommt doch schon eine Schwester. Jetzt reg dich mal ab, wir stehen noch keine drei Minuten hier. Was ist eigentlich los mit dir? Schlecht geschlafen? Zoff mit Leo?“ Werner hatte schon auf dem Kargmaier-Hof und jetzt auch während der Fahrt nach Landshut gemerkt, dass seine Kollegin mies drauf war. Sie sprach nur wenig und wenn, dann schimpfte sie. Viktoria ging nicht auf die Fragen ein, sondern wartete auf die Ordensschwester, die endlich bei ihnen angekommen war und die Tür öffnete.

„Das wird aber auch Zeit,“ maulte Viktoria die 36-jährige Frau an. „Kripo Mühldorf, wir sind angemeldet und möchten die Chefin des Klosters sprechen.“

Der flapsige Ton erschreckte die Ordensschwester keineswegs. Sie lächelte und bat die beiden herein.

„Ich bin Schwester Zeta und heiße Sie bei uns herzlich willkommen,“ sagte sie freundlich. „Treten Sie bitte ein und folgen Sie mir, ich zeige Ihnen den Weg. Nicht, dass Sie sich in unserem Labyrinth noch verlaufen.“ Sie lachte laut, schloss die Tür und ging schnellen Schrittes voran. Werner mochte Schwester Zeta sofort. Genauso stellte er sich eine Ordensschwester vor. Sie gingen durch die lichtdurchfluteten Gänge des alten Gebäudes, die mit viel Liebe zum Detail geschmückt waren. Überall standen frische Blumen und verströmten nicht nur einen verführerischen Duft, sondern schafften mit den frischen Farben und Formen ein zusätzliches, freundliches Bild. Viktoria interessierte sich nicht dafür. Für sie war der Aufenthalt in diesen Gemäuern eine Qual, sie fühlte sich eingesperrt und unwohl. Sie suchte nach Wegweisern, die den Fluchtweg anzeigten, fand aber keine. Waren die nicht auch für Klöster inzwischen Pflicht? Sie wusste es nicht, nahm sich aber vor, sich dahingehend zu informieren. Werner hingegen mochte alte Gebäude, die für ihn Überbleibsel alter Zeiten waren. Er bemerkte die religiöse Kunst aus vergangenen Epochen, die er sich sehr gerne in Ruhe angesehen hätte. Viktoria hatte auch dafür kein Interesse.

„Darf ich fragen, welche Aufgaben Sie in dem Kloster übernehmen?“ Da Viktoria zu keinem Gespräch bereit war, hielt sich Werner an die freundliche Schwester Zeta.

„Ich bin vor allem für die Ausbildung der Novizinnen und deren Betreuung zuständig. Unser Kloster ist bekannt für eine umfangreiche, fundierte Ausbildung.“

„Gibt es für das Klosterleben heutzutage noch genug Nachwuchs?“

„Im Gesamten betrachtet gibt es leider immer weniger, die sich für ein Leben im Kloster entscheiden. Die Zahlen sind seit vielen Jahren stark rückläufig. Ich kann das verstehen, das Klosterleben verlangt uns viel ab. Trotzdem können wir uns in Landshut nicht beklagen.“ Leider waren sie an ihrem Ziel angekommen und mussten das Gespräch unterbrechen. Werner hätte gerne mehr über die Arbeit im Kloster erfahren. Die junge Schwester Zeta klopfte an die alte, schlichte Holztür, öffnete sie und bat die beiden Polizisten herein.

„Untermaier, Kripo Mühldorf. Das ist mein Kollege Grössert. Sind Sie die Chefin des Klosters?“

„Das ist richtig. Ich bin die Oberin und werde Schwester Maria genannt. Ich heiße Sie herzlich willkommen. Setzen Sie sich bitte. Ich bin sehr neugierig, was die Kriminalpolizei von uns möchte.“

„Wir ermitteln in drei Fällen von Herzbestattungen.“

„Und da kommen Sie auf uns?“, rief die Oberin und bekreuzigte sich. „Wir sind ein friedlicher Orden und haben uns dem Dienst an der Menschheit verschrieben. Ich kann Ihnen versichern, dass Herzbestattungen bei uns noch nie vorkamen. Wie kommen Sie darauf, dass wir etwas damit zu tun haben könnten?“

„Laufende Ermittlungen,“ sagte Viktoria unfreundlich. „Wir haben erfahren, dass bei Ihnen am 17. August eine Frau verstorben ist. Ihr Name ist Josefa Bindermaier.“

„Ja, das war ihr weltlicher Name. Bei uns lebte sie unter dem Namen Schwester Scholastika. Sie war viele Jahre bei uns, wir vermissen sie sehr. Was ist an dem Tod der lieben Scholastika interessant für die Kriminalpolizei?“ Die Oberin sprach sehr leise und ruhig.

„Wo wurde sie bestattet?“

„Auf unserem eigenen Friedhof hier in unserem Kloster. Unsere Mitschwestern werden schon seit ewigen Zeiten bei uns bestattet. Es sei denn, die Verstorbene hat sich zu Lebzeiten anders entschieden. Warum fragen Sie?“

„Nach unseren Informationen hatte Josefa Bindermaier keine leiblichen Verwandten?“

„Leider nein, wir waren ihre Familie. Schwester Scholastika war ein Waisenkind, das mit dem Flüchtlingsstrom aus Ostpreußen kam. Noch lange nach dem Krieg hat unser Orden in Landshut ein Waisenhaus betreut, in dem Schwester Scholastika aufwuchs. Sie war in unserem Kloster Novizin und hat nach ihrem Gelübde bis zu ihrem Tod hier gelebt und gearbeitet.“

Viktoria konnte sich nicht vorstellen, wie man sich sein Leben lang nur an ein und demselben Ort aufhalten konnte. Waren diese Ordensschwestern nicht neugierig auf das Leben außerhalb des Klosters? Was ist mit Urlaub, Kino, Shoppingtouren? Es würde ihr immer unbegreiflich bleiben, wie man sich für ein Leben im Kloster entscheiden konnte. Aber deshalb waren sie nicht hier. Diese arrogante Oberin hatte bestätigt, dass die Verstorbene keine Familienangehörige hatte, nur das war interessant und nötigte sie zu dem unvermeidlichen Schritt.

„Da wir in diesem Fall auf keine Vergleichs-DNA zurückgreifen können, werden wir nicht umhin kommen, die Leiche exhumieren zu lassen.“

„Ich bitte Sie in Gottes Namen: Tun Sie das nicht! Sie vermuten, dass die Herzfunde mit dem Tod Scholastikas zu tun haben? Ihr Leichnam war unversehrt, ich habe sie selbst gesehen. Sie müssen meinem Wort Glauben schenken.“

„Wir müssen gar nichts. Ich habe einen richterlichen Beschluss mitgebracht, der uns zur Exhumierung der Leiche von Josefa Bindermaier bevollmächtigt.“ Viktoria legte ihr den Beschluss vor. „Wo ist der Friedhof?“

Die Mutter Oberin starrte auf den Beschluss und konnte nicht glauben, was eben passierte. Die Kriminalpolizei bestand über ihren Kopf hinweg darauf, den Leichnam der altgedienten Ordensschwester zu exhumieren. Das hatte es in der ganzen Geschichte des Ordens noch nie gegeben. Vor allem war sie es gewohnt, dass allein ihr Wort hier galt, und nicht das der Kriminalpolizei.

„Das ist eine Sünde, das dürfen Sie nicht tun. Sie dürfen Schwester Scholastika nicht in ihrer Ruhe stören. Das geht nicht,“ stammelte sie und starrte Viktoria an. Aber die blieb unerbittlich.

„Darauf können wir keine Rücksicht nehmen. Wir haben einen richterlichen Beschluss, dem Sie Folge leisten müssen. Es gibt nun mal Gesetze, an die sich auch kirchliche Einrichtungen halten müssen.“

„Ich schwöre Ihnen, dass Schwester Scholastikas Leichnam unversehrt bestattet wurde.“

„Das sagten Sie schon. Ich kann Sie irgendwie verstehen, aber Sie müssen auch uns verstehen. Wir machen auch nur unsere Arbeit.“

Werner hatte die ganze Zeit über erschrocken zugehört. Warum ging Viktoria mit der äußerst freundlichen Frau so unerbittlich und hart um? Er räusperte sich mehrfach, aber sie schien das nicht zu hören. Die Oberin trank mit zitternden Händen einen Schluck Tee und atmete mehrmals tief durch.

„Wenn es unbedingt sein muss, dann warten Sie bitte bis heute Nachmittag. Wir haben heute Besuch und eine Polizeiaktion in dem Umfang, wie Sie ihn vorhaben, würde nicht nur unseren Besuch erschrecken, sondern unserem Haus sehr schaden.“

„Auch darauf können wir keine Rücksicht nehmen, das tut mir sehr leid. Wo ist denn nun der Friedhof?“

Die Oberin reagierte nicht. Sie war geschockt von dem Vorhaben und der harten Art der Kriminalbeamtin.

„Bemühen Sie sich nicht, wir finden den Friedhof auch ohne Ihre Hilfe.“

Viktoria hatte eine Freude daran, ihren Willen gegen die Gesetze der Kirche durchzusetzen. Sie vermutete, dass diese Frau immer ihren Willen bekam, sie kannte solche Typen sehr gut. Aber diesmal nicht. Diesmal war sie am längeren Hebel.

„Was ist denn los mit dir? Warum gehst du mit der Frau so hart um? Was ist dabei, wenn wir bis heute Nachmittag warten?“

„Ich weiß nicht, was du meinst. Wir machen unsere Arbeit. Und ich werde auf keinen Fall dann arbeiten, wenn es der Frau passt. Wir exhumieren umgehend, das Recht ist auf unserer Seite.“

„Das weiß ich auch. Trotzdem könnte man etwas diplomatischer vorgehen.“ Werner gab klein bei. Mit Viktoria war nicht zu reden, sie war unerbittlich. Er sah ihr an, dass sie Freude daran hatte, die Oberin in ihre Schranken zu weisen. Werner war nicht wohl bei der Sache. Er war katholisch und hatte einen Heidenrespekt vor allen kirchlichen Einrichtungen.

Viktoria stand an der Klostermauer, an der die Ordensschwestern begraben werden. Die Kreuze der meist längst verstorbenen Schwestern waren schlicht, der Friedhof ohne jeglichen Schmuck. Sie ging die einzelnen Steinkreuze ab und versuchte, die Namen darauf zu entziffern. Je älter die Gräber und deren Kreuze waren, desto unleserlicher waren die sowieso schon schwierigen Namen. Sie hatte nie verstanden, warum man nicht seinen eigenen Namen behielt, wenn man ins Kloster ging. Schließlich hatte man Eltern, die einem nicht ohne Grund einen Namen gaben. Wollte man sich damit auch von seinem alten Leben verabschieden?

Werner wartete vor den Klostermauern auf Friedrich Fuchs und seine Kollegen der Spurensicherung. Er hatte die städtische Friedhofsverwaltung und die örtliche Polizei informiert, damit es zumindest von der Seite keine Beschwerden hagelte. Er spürte, dass die Oberin keine Ruhe geben und sich bis zur höchsten Stelle beschweren würde. Das gefiel ihm nicht, das gefiel ihm überhaupt nicht. Vor allem gefiel ihm die Art und Weise von Viktoria nicht, wie sie mit der Oberin umgegangen war.

Die hiesige Polizei war mit zwei Beamten vor Ort. Zwei Mitarbeiter der städtischen Friedhofsverwaltung mitsamt Minibagger und Werkzeugen standen bereit. Endlich tauchte auch Fuchs auf und es konnte losgehen. Auf dem kleinen Klosterfriedhof standen über zehn Personen in großem Abstand zum fraglichen Grab, um den Minibagger bei der Arbeit nicht zu behindern. Das Grab der kürzlich verstorbenen Ordensschwester war noch frisch und die Erde ließ sich leicht lockern. Der Minibagger war an sich leise, trotzdem verursachte er umringt von den alten Mauern einen Höllenlärm. Es war totenstill, als der schlichte Holzsarg herausgehoben wurde. Viktoria sah, dass die wenigen Ordensschwestern des Klosters zusammen mit einigen weltlich gekleideten Personen an den Fenstern des Seitenflügels standen und alles beobachteten. Die Oberin stand wie versteinert an ihrer Seite.

„Öffnen,“ sagte Viktoria, als der Holzsarg notdürftig gesäubert vor ihr stand.

Einer der Friedhofsarbeiter brauchte nicht lange, bis der Deckel geöffnet war. Mit Unterstützung seines Kollegen hoben sie den Deckel zur Seite. Der Blick auf den Leichnam einer alten Frau im Nonnengewand war nun für alle frei. Einige waren neugierig, die meisten jedoch wendeten den Blick ab, sie wollten die Leiche nicht sehen.

„Sie wissen ja, nach was wir suchen,“ sagte Viktoria zu Fuchs und trat einen Schritt zur Seite.

Natürlich wusste Fuchs Bescheid; er brauchte keine Anweisungen. Aus seinem Koffer nahm er eine Schere und machte in die Kleidung der Leiche im Bereich des Herzens waagrecht einen sauberen Schnitt. Viktoria ärgerte sich über die langsame Vorgehensweise von Fuchs, denn sie wusste, dass er jede Sekunde genoss, in der die ganze Aufmerksamkeit auf ihm und seiner Arbeit lag. Sie stöhnte merklich auf. Trotzdem ließ sich Fuchs nicht aus der Ruhe bringen. Nach einem senkrechten Schnitt, den er ebenfalls theatralisch langsam ausführte, war es endlich so weit. Die Herzgegend konnte nun freigelegt werden. Was die Kriminalpolizei hier wollte, war den umstehenden Personen völlig schleierhaft. Nach was suchten sie? Die Neugier griff um sich und beinahe alle Personen traten näher. Die Köpfe reckten sich so weit wie möglich über den Sarg, was die Sicht der Ordensschwestern an den Fenstern versperrte. Fuchs legte die Herzgegend der Verstorbenen frei. Die Stelle war vollkommen unversehrt!

Viktoria war enttäuscht. Sie war davon überzeugt gewesen, dass sie hier auf der richtigen Spur war. Alle waren erleichtert, als der Deckel des Sarges wieder geschlossen wurde und er in der dunklen Erde verschwand. Viktoria sah auf das Fenster, an dem sie vorhin die Mutter Oberin gesehen hatte. Ihre Blicke trafen sich und Viktoria lief ein kalter Schauer über den Rücken. War sie zu weit gegangen? Sie fühlte sich schuldig und ihr tat es nun leid, dass sie so unfreundlich und unerbittlich war. Niemals mehr würde sie diese kalten Augen und den darin enthaltenen Vorwurf vergessen.

Von all dem ahnten Leo und Hans nichts, als sie an der Stiftsabtei vor den Toren Münchens ankamen. Sie wurden von einer älteren Nonne bereits erwartet und in den Verwaltungstrakt geführt, der sich links von ihnen befand. Leo war überrascht, wie groß dieses Kloster war. Wo er auch hinblickte, sah er überall geschäftiges Treiben. Ordensschwestern in unterschiedlichen Trachten, sowie jede Menge weltlich gekleidete Menschen liefen umher und unterhielten sich. Dieses helle, freundliche Kloster war ganz anders als das Kapuzinerkloster in Altötting, das dunkel, düster und muffig war.

„Das ist Schwester Margarethe. Sie wird Ihnen weiterhelfen,“ sagte die alte Nonne und verschwand.

„Kommen Sie herein meine Herren. Nehmen Sie Platz. Darf ich Ihnen etwas anbieten? Kaffee oder Tee?“, sagte Schwester Margarethe freundlich. Die 38-jährige Frau strahlte die beiden Polizisten mit ihren hellblauen Augen an. Als die beiden ablehnten, schenkte sie ihnen Wasser ein. „Ich gebe zu, dass ich ziemlich aufgeregt bin, dass ich mit der echten Kriminalpolizei zu tun habe. Ich bin ein Fan von Kriminalromanen und verschlinge alles, was mir in die Finger kommt. Was kann ich für Sie tun? Wie kann ich der Kriminalpolizei helfen?“

„Wir haben es bei einem aktuellen Fall mit illegalen Herzbestattungen zu tun. Sie sind mit Herzbestattungen vertraut?“

„Selbstverständlich kenne ich Herzbestattungen, ich durfte sogar selbst schon an einer teilnehmen. Das war 2011 im ungarischen Pannonhalma. Ach war das schön! Sehr würdevoll und sehr ergreifend. Unser Haus wurde von dem dortigen Kloster eingeladen, daran teilzunehmen. Unsere Mutter Oberin mag solche Veranstaltungen nicht und hat mir ihren Platz überlassen. Ich hingegen liebe solche Veranstaltungen und fuhr zusammen mit fünf Mitschwestern nach Ungarn.“

„Sie haben wirklich an einer echten Herzbestattung teilgenommen?“ Hans war beeindruckt, denn dies war nur sehr wenigen Auserwählten gestattet.

„Da staunen Sie, gell? Wir wurden von dem dortigen Kloster, das freundschaftlich mit unserem verbunden ist, dazu eingeladen. Die Ehre der Herzbestattungen war in Deutschland ausschließlich der Königsfamilie der Wittelsbacher und darüber hinaus nur sehr hochgestellten Personen erlaubt. In Österreich sind es die Habsburger, deren Herzen separat bestattet wurden. Allerdings waren die in den letzten Jahren nicht gerade häufig. Schließlich haben wir offiziell keine Monarchie mehr, obwohl viele sich eine solche zurückwünschen. Wie sonst erklärt sich das Interesse an ausländischen Königshäusern und an den Nachkommen alter Adelsgeschlechter in Deutschland und in allen Ländern, in denen die Monarchie auch offiziell abgeschafft wurde? Auch ich bin davon nicht verschont und verschlinge diverse Klatschzeitschriften, was unsere Mutter Oberin nicht gerne sieht. Aber was soll ich machen? Königshäuser beeindrucken mich nun mal und ich möchte auf dem Laufenden bleiben, was bei denen passiert. Es sind nun mal hochgestellte Persönlichkeiten, die immer noch sehr großen Eindruck hinterlassen. Erzählen Sie mir nicht, dass Ihnen das noch nicht aufgefallen ist. Noch heute werden diese Nachkommen hofiert und bevorzugt behandelt, da brauchen wir uns nichts vormachen.“ Schwester Margarethe sprach ohne Punkt und Komma. „Wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht, gab es in den letzten 20 Jahren nur drei solcher Bestattungen. Warten Sie einen Moment, das möchte ich jetzt ganz genau wissen.“ Sie stand auf und ging zu ihrem Schreibtisch. Sie tippte in ihren Laptop. „Ich lag vollkommen richtig, mein Gedächtnis ist phänomenal! 1989 war es Zita von Bourbon-Parma, deren Herz wurde in der Loretokapelle im Kloster Muri beigesetzt. 2010 Regina von Sachsen-Meiningen, deren Herz in der Gruft der Veste Heldburg liegt. Und schließlich 2011 Otto von Habsburg. Sein Herz wurde, wie ich bereits erwähnt habe, in der ungarischen Benediktinerabtei Pannonhalma bestattet, an der ich persönlich anwesend war. Die Leiber der eben genannten Verstorbenen ruhen in der Kapuzinergruft in Wien. Die letzte in Deutschland bekannte Herzbestattung fand 1921 statt. Dabei handelt es sich um das Herz Ludwig III von Bayern, dessen Herz in der Gnadenkapelle in Altötting bestattet wurde. Neben den Herzen seiner Vorfahren, deren Herzen auch in der Gnadenkapelle Altötting bestattet wurden. Kennen Sie die Herzschalen in der Gnadenkapelle? Haben Sie sie schon gesehen? Wunderschön verzierte Gefäße. Die Familie der Wittelsbacher hat dafür keine Kosten und Mühen gescheut, was uns allen heute zugutekommt. Ich war mehrfach in der Altöttinger Gnadenkapelle und der Anblick der Herzschalen versetzt mich immer wieder in Bewunderung und Ehrfurcht.“ Schwester Margarethe setzte sich wieder zu den Polizisten. Hans war begeistert von der frischen, fröhlichen und beschwingten Art der Ordensschwester, die ihn und Leo erwartungsvoll ansah.

„Sie fragen sich bestimmt, was unser Fall mit Ihrem Kloster zu tun hat,“ sagte Hans, der nach den ausführlichen Schilderungen wieder auf den eigentlichen Grund ihres Besuches zu sprechen kam. „Bei Ihnen gab es am 17. August einen Todesfall?“

„Leider ja. Unsere Schwester Genoveva hat uns verlassen. Kurz nach ihrem 74. Geburtstag ist sie auf einer Bank in unserem Kräutergarten einfach eingeschlafen. Ein herrlicher Tod, den sie sich nach ihrem fleißigen Leben redlich verdient hat. Aber warum interessiert sich die Kriminalpolizei für ihren Tod?“

„Haben Sie den Leichnam der verstorbenen Schwester Genoveva gesehen? Uns interessiert vor allem die Herzpartie.“

„Sie denken, dass ihr das Herz entnommen wurde?“ Sie bekreuzigte sich mehrfach und musste diese Nachricht kurz verdauen. „Einen Moment bitte,“ sagte sie dann. Sie stand auf, blickt sich um und zog einen Aktenordner aus dem Regal. Anstelle von Unterlagen waren darin eine Flasche Schnaps und vier Gläser verborgen. Sie schenkte ungefragt ein, trank einen Schluck und verzog angewidert das Gesicht. „Dieser Schnaps ist kein Vergnügen sondern reine Medizin. Bei solchen Nachrichten hilft nur ein kräftiger Schluck.“ Sie schenkte nach und trank auch dieses Glas auf einen Zug. „Jetzt nochmal von vorn: Sie vermuten, dass eine der illegalen Herzbestattungen, mit denen Sie es zu tun haben, mit unserer Schwester Genoveva in Verbindung steht?“

„Das wäre möglich. Haben Sie den Leichnam gesehen?“

„Ihr Gesicht ja, aber den Körper natürlich nicht. Warum auch? Nachdem sich die Mutter Oberin in aller Ruhe von Schwester Genoveva verabschiedet hatte, gab sie den Leichnam frei. Dann habe ich mich von ihr verabschiedet und gab Anweisung, dass zwei Mitschwestern den Leichnam herrichten. Fragen wir die beiden, dann haben Sie Ihre Antwort auf Ihre Frage. Nicht, dass Sie noch auf die wahnwitzige Idee kommen, den Leichnam der armen Schwester Genoveva auszugraben und selbst einen Blick darauf zu werfen.“ Sie sah die beiden Polizisten an und erschrak. „Sie spielen doch nicht wirklich mit dem Gedanken?“

„Leider ja. Wir haben einen entsprechenden Beschluss mitgebracht. Aber bevor wir dahingehend aktiv werden, fragen wir doch einfach die beiden Schwestern, von denen Sie gesprochen haben.“

Schwester Margarethe ging voraus. Sie lief mit hoher Geschwindigkeit durch die Gänge und grüßte alle lautstark, die ihnen entgegenkamen oder ihren Weg kreuzten. In der Klosterkapelle fanden sie Schwester Theresia, die gerade dabei war, Blumengebinde zu arrangieren. Sie war erschrocken, als sie den Gesichtsausdruck ihrer Mitschwester bemerkte.

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