Czytaj książkę: «Moderne Klassiker der Gesellschaftstheorie», strona 9

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|68|Literatur

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Olson, Mancur (1995): The Devolution of the Nordic and Teutonic Economies, in: American Economic Review 85, Papers & Proceedings, S. 22–27.

Olson, Mancur (1996): Distinguished Lecture on Economics in Government. Big Bills Left on the Sidewalk: Why Some Nations are Rich, and Others Poor, in: Journal of Economic Perspectives 10, S. 3–24.

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Olson, Mancur (2003): Macht und Wohlstand. Kommunistischen und kapitalistischen Diktaturen entwachsen, übersetzt von Gerd Fleischmann, Tübingen.

Olson, Mancur und Satu Kähkönen (Hrsg.) (2000): A Not-So-Dismal Science. A Broader View of Economics and Societies, Oxford u.a.O.

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Pies, Ingo (1993): Normative Institutionenökonomik. Zur Rationalisierung des politischen Liberalismus, Tübingen.

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[Zum Inhalt]


|70|Gary Becker (1930–2014)

„Nicht die ‚sachlichen‘ Zusammenhänge der ‚Dinge‘, sondern die gedanklichen Zusammenhänge der Probleme liegen den Arbeitsgebieten der Wissenschaften zugrunde: wo mit neuer Methode einem neuen Problem nachgegangen wird und dadurch Wahrheiten entdeckt werden, welche neue bedeutsame Gesichtspunkte eröffnen, da entsteht eine neue ‚Wissenschaft‘.“ Max Weber (1922, 1988; S. 92, H.i.O.)

„[W]as die Ökonomi[k] als Disziplin von anderen Disziplinen in den Sozialwissenschaften hauptsächlich unterscheidet, ist nicht ihr Gegenstand, sondern ihr Ansatz.“ Gary S. Becker (1976, 1982; S. 3)

Gary S. Beckers ökonomischer Imperialismus[93]

Reduziert man den Begriff „ökonomischer Imperialismus“ nicht von vornherein auf das pejorative (Miss-)Verständnis, mit dem er von manchen geradezu als Schimpfwort verwendet wird, sondern fasst man ihn zunächst einmal auf als eine neutrale Bezeichnung für das Phänomen, dass der ökonomische Ansatz auch auf Probleme angewendet wird, die nicht zum traditionellen Problemkanon der Wirtschaftswissenschaften gehören, dann ist Gary Becker sicherlich der ökonomische Imperialist par excellence. Zur ökonomischen Theorie der Politik und zur ökonomischen Theorie des Rechts hat er frühe und wegweisende Beiträge geliefert, und es ist nicht übertrieben zu sagen, dass die ökonomische Theorie der Familie von ihm allererst ins Leben gerufen – bzw. in Anerkennung der klassischen Arbeiten von Malthus: ins Leben zurückgerufen – wurde. Auch die Karriere, die der Rational-Choice-Ansatz in der Soziologie – und, wenn auch zaghaft, sogar in der deutschsprachigen Soziologie – zu machen beginnt, wäre |71|ohne die Pionierarbeiten Gary Beckers schlechterdings nicht denkbar gewesen.[94]

Üblicherweise wird der ökonomische Imperialismus im allgemeinen und das wissenschaftliche Werk Gary Beckers im besonderen als Ausdehnung des Anwendungsbereichs ökonomischer Analyse aufgefasst, und diese Bereichsausdehnung wird dann regelmäßig als inter-disziplinäre Herausforderung wahrgenommen. Ein typisches Beispiel hierfür bietet die Begründung, mit der der Nobelpreis 1992 an Gary Becker verliehen wurde. In der Pressemitteilung der Königlich-Schwedischen Akademie der Wissenschaften heißt es: „Gary Becker’s research contribution consists primarily of having extended the domain of economic theory to aspects of human behavior which had previously been dealt with – if at all – by other social science disciplines such as sociology, demography and criminology.“[95]

Erst vor einem solchen Hintergrund wird verständlich, warum der ökonomische Imperialismus, dessen Protagonist Gary Becker ist, auf so viel Ablehnung und Widerstand getroffen ist – und immer noch trifft. Hinter der ökonomischen „Bereichs“-Ausdehnung wird die Tendenz vermutet, anderen Wissenschaftsdisziplinen könne bzw. solle „deren“ (sic) „Gebiet“ (sic) streitig gemacht werden. Und in der Tat: Wenn man die Wissenschaftslandschaft mit einer Schrebergartenkolonie gleichsetzt, in der die einzelnen Parzellen den jeweiligen Einzelwissenschaften zur exklusiven Bearbeitung zugewiesen werden, dann muss es notgedrungen schwerfallen, im ökonomischen Imperialismus etwas anderes zu sehen als eine – an sich illegitime – Grenzüberschreitung, d.h. Grenzverletzung. Insofern spielt die pejorative Verwendung des Begriffs „ökonomischer Imperialismus“ nicht nur mit der „Bereichs“-Metapher, sondern sie ist selbst Ausdruck eines Revierverhaltens, das auf eine (vermeintliche) Grenzverletzung reagiert, die man sich als Besatzung, d.h. als Einmischung in fremde Angelegenheiten, verbittet.

Wie sieht demgegenüber ein konstruktives Verständnis von ökonomischem Imperialismus aus? Im folgenden wird eine Lesart vorgestellt, die das Werk Gary Beckers primär als eine intra-disziplinäre Herausforderung rekonstruiert: Mit Gary Becker ändert sich zunächst einmal das Selbstverständnis von Ökonomik, und erst aufgrund dieses radikal veränderten Selbstverständnisses wird die Möglichkeit sichtbar, dass ein ökonomischer Imperialismus anderen Disziplinen nichts weggnimmt, sondern ihnen etwas zu bieten hat. Aber mehr noch: Bei der Veränderung des Selbstverständnisses von Ökonomik spielt der ökonomische Imperialismus eine wichtige Rolle. Er hat also – was oft übersehen wird – nicht nur eine Außenwirkung, sondern auch eine Binnenwirkung. Er betrifft nicht nur die „benachbarten“ Disziplinen, sondern er hat eine Bedeutung auch – und sogar vor allem – für die eigene, d.h. ökonomische, Disziplin. In Anspielung auf die Einleitungsmotti und als These formuliert: Eine sinnvolle Lösung für das |72|Problem der Inter-Disziplinarität lässt sich erst dann entwickeln, wenn man die intra-disziplinäre Transformation der traditionellen Wirtschaftswissenschaft zum ökonomischen Ansatz angemessen in Rechnung stellt.

1. Die Entwicklung des Forschungsprogramms zum ökonomischen Ansatz

Nicht nur die Begründung der Nobelpreisverleihung durch die Königlich-Schwedische Akademie der Wissenschaften, auch die beiden Laudationes geben einen Überblick über das Werk Gary Beckers. Alle drei Überblicke weisen die Gemeinsamkeit auf, dass sie primär chronologisch vorgehen und die einzelnen Anwendungs-„Bereiche“ vorstellen, auf denen Becker – oft wegweisend – gearbeitet hat. Hierzu zählen – in der Preisbegründung und in der Laudatio von Rosen (1993) – die Humankapitaltheorie, die Familienökonomik sowie die ökonomischen Theorien der Kriminalität und der Diskriminierung, während in der Laudatio von Sandmo (1993) noch zusätzlich Beckers Arbeiten zur Zeitallokation, zur sozialen Interaktion und zur Theorie der Politik genannt werden.

Demgegenüber ist die folgende Rekonstruktion des Becker-Ansatzes nicht in erster Linie thematisch, sondern systematisch orientiert. Dass sie zur Chronologie weitgehend parallel verläuft, ist ein Reflex des Umstands, dass Becker seine Arbeiten strikt an Problemen ausgerichtet hat, so dass es der Zusammenhang der Probleme ist – und die Theoriestrategie ihrer Bearbeitung –, von der die Entwicklung seines Forschungsprogramms ihre Kohärenz bezieht. Als These formuliert: Die Entwicklungslogik des Forschungsprogramms gelangt erst dann ins Blickfeld, wenn man nicht nach den Bereichen, sondern nach den Problemen fragt, auf die Becker seinen ökonomischen Ansatz anwendet – präziser: aus deren Bearbeitung Beckers ökonomischer Ansatz allererst hervorgeht und allmählich jene Gestalt gewinnt, in der er heute als primär intra-disziplinäre Herausforderung der traditionellen Ökonomik und als erst sekundär inter-disziplinäre Herausforderung der Sozialwissenschaften vorliegt.

(1) Mitte der 1950er Jahre sieht sich Becker mit einer wirtschaftswissenschaftlichen Preistheorie konfrontiert, die streng trennt zwischen Haushalten und Firmen und damit auf einer kategorialen Unterscheidung von Konsum und Produktion beruht.[96] In dieser Theorie sind alle Akteure eingebettet in Märkte. Innerhalb eines Sektors stehen sie in Wettbewerbsverhältnissen zueinander, zwischen Sektoren stehen sie in Tauschverhältnissen. Die Haushalte bedienen den Firmensektor mit Arbeit und Kapital, und die Firmen bedienen den Haushaltssektor mit Gütern und Dienstleistungen (Abbildung 1).

In diesem Modell leiten sich die Preise auf den Faktormärkten letzten Endes von den Preisen auf den Gütermärkten her. Insofern sorgen die Märkte für einen komplexen Nexus zwischen den volkswirtschaftlich verfügbaren Ressourcen einerseits und den individuellen Bedürfnissen andererseits. Oder noch einfacher |73|ausgedrückt: Die Produktion dient – einzig und allein – dem Konsum. Von daher kommt der Güternachfrage eine zentrale Stellung zu.

Abbildung 1:

Produktion und Konsum in der ökonomischen Standardtheorie

Diese Güternachfrage wird wie folgt modelliert. Unterstellt wird ein repräsentativer Haushalt, der eine über Marktgüter (xi) definierte Nutzenfunktion (U) maximiert.

für i = 1, …, n.

Dabei hat er als Nebenbedingung zu beachten, dass er die Güter, die er konsumieren möchte, zuvor am Markt erwerben muss, hierfür aber nicht mehr Geld ausgeben kann, als er in seiner Rolle als Anbieter von Faktorleistungen einnimmt. Für jede Mengeneinheit des Marktgutes xi ist ein Preis in Höhe von pi zu entrichten. Das verfügbare Einkommen beträgt B. Mithin lautet die Budgetrestriktion:


Maximiert ein Haushalt seine Nutzenfunktion unter Berücksichtigung dieser Nebenbedingung, so lässt sich sein Optimalverhalten im Gleichgewicht durch folgende „First-Order-Condition“ kennzeichnen:


Hierbei gibt die linke Seite der Optimalbedingung die Grenzrate der Substitution an. Sie sagt aus, auf wieviel Einheiten von Gut 2 der Haushalt zu verzichten bereit ist, um eine zusätzliche Einheit von Gut 1 zu kaufen. Die rechte Seite der Optimalbedingung hingegen gibt die Grenzrate der Transformation an. Sie sagt aus, auf wieviel Einheiten von Gut 2 er tatsächlich verzichten muss, wenn er am Markt eine zusätzliche Einheit von Gut 1 kaufen will. Insofern thematisieren beide Seiten der Gleichung einen Tradeoff zwischen den beiden Marktgütern x1 und x2: In bezug auf diesen Tradeoff spiegelt die linke Seite das subjektive Wollen, die rechte Seite das – marktvermittelte – objektive Können des Haushalts wider.

Graphisch ergibt sich das optimale Verhaltensgleichgewicht als Tangentialpunkt zwischen einer Indifferenzkurve (U) und einer Budgetgerade (B) (Abbildung 2a). Hierbei wird die Grenzrate der Substitution, d.h. das subjektiv gewünschte Tauschverhältnis, durch die Steigung der Indifferenzkurve repräsentiert, |74|die Grenzrate der Transformation hingegen, d.h. das objektiv gegebene Tauschverhältnis, durch die Steigung der Budgetgerade. Aus diesem Modell lassen sich zwei grundlegende Aussagen analytisch herleiten: erstens die Aussage, dass „normale“ Marktgüter einen positiven Einkommenseffekt aufweisen, d.h. dass sie beide vermehrt nachgefragt werden, wenn – bei Konstanz des relativen Preisverhältnisses – die Budgetrestriktion gelockert wird, und zweitens die Aussage, dass Marktgüter denknotwendig einen negativen Preiseffekt aufweisen, d.h. dass sie weniger nachgefragt werden, wenn – bei Konstanz des Realeinkommens – ihr relativer Preis steigt. In Abbildung 2b ist ein reiner Einkommenseffekt eingezeichnet, was durch die parallele Verschiebung der Budgetgerade nach außen zum Ausdruck kommt. In Abbildung 2c hingegen ist ein reiner Preiseffekt eingezeichnet. Hier erfolgt eine Drehung der Budgetgerade, deren Steigung – gemäß Gleichung (3) – durch das relative Preisverhältnis bestimmt wird. Die Folge ist, dass vom relativ verbilligten Gut x1 mehr, vom relativ verteuerten Gut x2 hingegen weniger nachgefragt wird.

Abbildung 2:

Gleichgewicht, positiver Einkommenseffekt und negativer Substitutionseffekt einer einkommenskompensierten Preisänderung

(2) Es ist dieses grundlegende Modell, das Becker mit seinem Forschungsprogramm elaboriert: Der ökonomische Imperialismus beruht auf der Radikalisierung der „wirtschafts“-wissenschaftlichen Preistheorie zum ökonomischen Ansatz. Diese Radikalisierung erfolgt in mehreren Stufen.

Die erste Stufe bildet seine Theorie der Diskriminierung.[97] Becker untersucht, mit welchen Konsequenzen zu rechnen ist, wenn in der Wirtschaft nicht nur Präferenzen für Güter und Dienstleistungen, sondern auch Präferenzen hinsichtlich der persönlichen Eigenschaften von Tauschpartnern eine Rolle spielen. Insbesondere geht er der Frage nach, von welchen Umständen es abhängt, ob Märkte einen bestehenden Hang zur Diskriminierung entkräften oder verstärken. Der empirische Befund, der aus diesen Untersuchungen hervorgeht, nämlich dass z.B. Frauen oder Schwarze regelmäßig schlechter bezahlt werden als Männer bzw. Weiße, führt Becker zu der Folgefrage, ob diese Lohndifferenzen notwendig |75|auf Diskriminierung zurückzuführen sind oder ob nicht auch andere Faktoren hierfür verantwortlich sein könnten. Diese Frage leitet die zweite Entwicklungsstufe ein: die Formulierung der Humankapitaltheorie.[98] Sie geht davon aus, dass Kapital nicht nur – in der Form von Sachkapital – in Firmen eingesetzt wird, sondern dass auch der Produktionsfaktor Arbeit Kapitaleigenschaften aufweist, die es als gerechtfertigt erscheinen lassen, von Humankapital und folglich von Bildungs- und Ausbildungsinvestitionen in Humankapital zu sprechen, denen vergleichbare Renditekalküle zugrundeliegen wie Investitionen in Sachkapital. Lohndifferenzen können demnach auf unterschiedlich hohe Investitionen in Humankapital zurückgeführt werden.[99]

Diese beiden ersten Entwicklungsstufen weisen eine Gemeinsamkeit auf. In beiden Fällen handelt es sich weitgehend um bloße Anwendungen eines bereits vorfindlichen analytischen Instrumentariums auf neue Probleme. Die erste Anwendung macht sich das etablierte Modell rationalen Individualverhaltens zunutze, indem sie lediglich die Nutzenfunktion leicht variiert und nun eine reichhaltigere Klasse von Präferenzen berücksichtigt. Die zweite Anwendung macht sich das Modell rationaler Produktion zunutze, indem sie das Konzept des Investitionskalküls von der Sphäre der Firma auf die Sphäre des Haushalts überträgt. Beide Anwendungen ‚spielen‘ also gewissermaßen mit den Kategorien der traditionellen Preistheorie, und beide Anwendungen sind hierin außerordentlich erfolgreich.

(3) Zunächst erfolglos hingegen ist die dritte Stufe in der Entwicklung des Forschungsprogramms: Becker (1960, 1982) versucht, das Haushaltsmodell auf generatives Verhalten anzuwenden. Hierzu unterstellt er eine Präferenz für Kinder. Die zugrundeliegende Idee ist, Aussagen darüber abzuleiten, wie sich Veränderungen des individuellen Möglichkeitenraums auf das optimale Haushaltsgleichgewicht auswirken müssten. Es geht Becker also darum, generatives Verhalten auf Preis- und Einkommenseffekte hin zu untersuchen. Dieser Versuch stößt jedoch auf eine unerwartete Schwierigkeit. Er führt nämlich zu folgender Anomalie: Während des 20. Jahrhunderts sind die Einkommen der US-Haushalte drastisch angestiegen. Da es keinen Grund zu der Vermutung gibt, dass Kinder inferiore Güter sind, müsste für sie daher – wie für andere „normale“ Güter auch – eigentlich ein positiver Einkommeneffekt erwartet werden. Demgegenüber lässt sich jedoch empirisch beobachten, dass die Kinderzahl nicht gestiegen, sondern drastisch gesunken ist. Becker ist also mit der Anomalie eines negativen Einkommenseffekts konfrontiert. Familieneinkommen und Familiengröße verhalten sich der Tendenz nach nicht proportional, sondern umgekehrt proportional zueinander.

Durch diese Anomalie sieht sich Becker vor folgende Entscheidung gestellt: Entweder muss er den Anspruch aufgeben, dass der ökonomische Ansatz zur Analyse generativen Verhaltens prinzipiell anwendbar ist, oder er muss den ökonomischen |76|Ansatz so umformulieren, dass die Anomalie erklärt wird. Die erste Alternative ist nicht sonderlich fruchtbar. Sie führt ad hoc eine Einschränkung des preistheoretischen Anwendungsbereichs ein, für die die Preistheorie selbst keine Hinweise liefert. Damit bricht sie einen theoretischen Lernprozess ab, aus dem möglicherweise etwas über die Grenzen der Preistheorie in Erfahrung gebracht werden könnte. Becker entscheidet sich also für die zweite Alternative, und hier muss er nun zwischen verschiedenen theoriestrategischen Optionen wählen.

Bereits in seinem Aufsatz aus dem Jahre 1960 skizziert Becker verschiedene Möglichkeiten, wie man mit der Anomalie umgehen könnte. Erstens könnte man eine positive Korrelation zwischen Einkommen und Verhütungswissen annehmen. Zweitens könnte man annehmen, Kinder seien nicht „normale“, sondern inferiore Güter. Und drittens könnte man die Annahme stabiler Präferenzen aufgeben und statt dessen unterstellen, dass die Präferenzen für Kinder systematisch mit dem Einkommen variieren. Eine andere, vierte, Möglichkeit, auf die Anomalie zu reagieren, beruht auf der Idee, zwischen Qualität und Quantität von Kindern zu unterscheiden. Dabei wird die Qualität eines Kindes durch die Kosten gemessen, die seine Eltern für Ernährung, Kleidung, Erziehung und Ausbildung in Kauf nehmen. In diesem speziellen Sinne werden teurere Kinder als Kinder höherer Qualität aufgefasst. Becker hält es für möglich, dass ein säkularer Anstieg dieser Kosten den in Wahrheit positiven Einkommenseffekt überdeckt haben könnte, und er weist darauf hin, dass als relevante Kosten nicht nur Geldausgaben, sondern auch „die für Kinder aufgewendete Zeit und Anstrengung zu veranschlagen sind“[100].

Sämtliche Vorschläge sind zum Zeitpunkt der Publikation ad hoc. Trotzdem differenziert Becker: An einem arbeitet er weiter, an den anderen nicht. In den folgenden Jahren bemüht er sich, sowohl die Unterscheidung zwischen der Qualität und Quantität von Kindern als auch das zunächst nur intuitive Kostenargument von ihrem Ad-hoc-Charakter zu befreien.

Es ist diese Anomalie eines scheinbar negativen Einkommenseffekts, d.h. gerade die Erfolglosigkeit einer bloßen Anwendung des vorfindlichen analytischen Instrumentariums, die Becker dazu führt, die Kategorien der Preistheorie noch radikaler umzustellen. Die Verarbeitung der Anomalie erfolgt schrittweise, in einem mehr als 10jährigen Prozess, so dass die einzelnen Verarbeitungsschritte die weiteren Entwicklungsstufen des Forschungsprogramms markieren, in dessen Verlauf der ökonomische Ansatz Gary Beckers allererst konstituiert wird. Anders gesagt: Erst durch die mit der Anomalie des negativen Einkommenseffekts auftretende Problemstellung wird aus den Forschungsarbeiten Gary Beckers ein Forschungsprogramm.

(4) Der erste Schritt zur Verarbeitung der Anomalie besteht in einer Selbstvergewisserung. Becker versucht, sich Klarheit darüber zu verschaffen, inwiefern es überhaupt statthaft sein kann, die Familiengröße als Ergebnis einer rationalen Entscheidung aufzufassen. Zu diesem Zweck geht er der sehr viel allgemeiner gestellten Frage nach, welcher methodische Stellenwert der Rationalitätsannahme im Rahmen der Preistheorie zukommt: Inwiefern ist die Rationalitätsannahme |77|konstitutiv zur Herleitung der Einkommens- und Preiseffekte, mit denen die Ökonomik menschliches Verhalten zu erklären versucht?

Zur Beantwortung dieser Frage entwirft Becker ein Modell irrationalen Verhaltens[101], das zu den gleichen Verhaltensmustern führt, die im allgemeinen aus Modellen rationalen Verhaltens abgeleitet werden – sofern nur der irrationale Akteur in seinen Handlungsmöglichkeiten durch Restriktionen beschränkt wird: Unterstellt man, dass ein Akteur die für ein rationales Verhalten typischen Tradeoff-Überlegungen nicht anstellt und sich statt dessen zwischen den relevanten Verhaltensalternativen völlig zufällig entscheidet, so lässt sich der Erwartungswert für ein solches Verhaltensmuster durch den Mittelpunkt der jeweiligen Budgetgerade repräsentieren (Abbildung 3a). Dass eine Verschiebung der Budgetgerade nach außen zu positiven Einkommenseffekten führt (Abbildung 3b), ist trivial. Nicht trivial hingegen ist, dass sich auch die negativen Substitutionseffekte einer einkommenskompensierten Preisänderung einstellen, die üblicherweise nur bei rationalem Verhalten erwartet werden (Abbildung 3c): Erhöht man, ausgehend vom ursprünglichen Gleichgewicht G0, den Preis des Gutes x2 und hält das Realeinkommen des irrationalen Akteurs konstant, so verläuft seine neue Budgetgerade durch G0. Als neuer Erwartungswert ergibt sich jedoch G1. Mit Bezug auf das Gesetz der großen Zahl ist somit bereits für den einzelnen Akteur, erst recht aber für das Aggregat einzelner Akteure zu erwarten, dass das verteuerte Gut x2 zugunsten des relativ verbilligten Gutes x1 substitutiert wird. Die individuelle und erst recht die marktlich aggregierte Nachfragekurve sind somit negativ geneigt.

Mit diesem Modell gelingt es Becker, die Standardergebnisse der traditionellen Preistheorie herzuleiten, ohne auf die Standardannahmen zurückgreifen zu müssen. Positive Einkommens- und negative Preiseffekte erweisen sich somit als eine Folge von Knappheit, nicht jedoch als Folge von Rationalität, da sie auch aus irrationalem Verhalten resultieren.

Diese Überlegungen führen zu einer neuartigen Rechtfertigung der Rationalitätsannahme, deren methodischer Status dadurch radikal geändert wird. Für Gary Becker ist Rationalität nicht länger eine quasi naturalistische Annahme über die Qualität der Bewusstseinsprozesse, die sich in den Köpfen von Akteuren abspielen. Statt dessen ist für ihn die Rationalitätsannahme ein Kunstgriff zur Komplexitätsreduktion: Die Annahme, Menschen verhielten sich so, als ob sie rational seien, ist ein analytisch leistungsfähiges Instrument, um im Wege einer mikrofundierten Makroanalyse von gesamtwirtschaftlichen Daten-Änderungen via Individual-Modell auf gesamtwirtschaftliche Raten-Änderungen zu schließen. Aus dieser Perspektive ist die Rationalitätsannahme nicht länger eine Rationalitätshypothese. Sie formuliert keine empirische Aussage, sondern sie ist ein theoretisches, d.h. prä-empirisches, Konstrukt, mit dessen Hilfe sich empirische Aussagen analytisch herleiten lassen. Das Ergebnis dieser kategorialen Umstellung lässt sich in der wissenschaftstheoretischen Terminologie von Imre Lakatos wie folgt ausdrücken: Mit Gary Becker wandert die Rationalitätsannahme von |78|der falsifizierbaren Peripherie, dem „Schutzgürtel“, in den nicht-falsifizierbaren – „kritikimmunen“ – Kern des ökonomischen Forschungsprogramms.[102]

Abbildung 3:

Gleichgewicht, positiver Einkommenseffekt und negativer Substitutionseffekt in Beckers Modell irrationalen Verhaltens

Beckers Konzept einer Als-Ob-Rationalität lässt etwaige Zweifel an der Zulässigkeit einer familienökonomischen Vorgehensweise obsolet werden. Ob dem generativen Verhalten bewusste, halb-bewusste oder unbewusste Entscheidungen zugrundeliegen, ob es emotional oder traditional bestimmt wird usw., kann offen bleiben. Der ökonomische Ansatz Gary Beckers unterstellt lediglich, dass der für die Analyse generativen Verhaltens repräsentative Haushalt sich so verhält, als ob er (s)eine Nutzenfunktion rational maximierte.[103] Die Annahme, dass familiale Entscheidungen rational getroffen werden, ist hier nicht mehr als ein analytisch bequemes Instrument, um Implikationen der Knappheitsannahme – genauer: um Implikationen der empirischen Knappheitshypothese – herzuleiten.

(5) Der zweite Schritt zur Verarbeitung der Anomalie besteht in einer weiteren kategorialen Umstellung. Während die traditionelle Preistheorie mit einer strikten Trennung zwischen Firma und Haushalt operiert, nimmt Becker hier eine theoretische Integration vor. Er überträgt das firmentheoretische Konzept der Produktionsfunktion auf die Haushaltstheorie. Die Einführung des Konzepts einer Haushaltsproduktionsfunktion hat sich nicht nur als äußerst fruchtbar erwiesen, mit ihr verbindet sich auch folgende Pointe:

Bis heute entzündet sich immer wieder Unmut an der Terminologie, die Becker verwendet. Dies gilt bereits für den Begriff „Humankapital“. Es gilt in noch stärkerem Maße für den – in der Tat missverständlichen – Qualitätsbegriff.[104] Den größten Unmut dürfte jedoch hervorgerufen haben, dass Beckers ursprüngliche |79|Fassung der Theorie generativen Verhaltens Kinder in Analogie zu langlebigen Konsumgütern analysiert: Sie kosten Geld und stiften Nutzen. Es sollte jedoch nicht übersehen werden, dass Becker selbst mit dieser Konzeptualisierung nicht ganz zufrieden war. Er macht daher schon in seinem Aufsatz aus dem Jahr 1960 auf wichtige Unterschiede aufmerksam: „Jede Familie muss ihre eigenen Kinder produzieren, da Kinder nicht am Markt gekauft und verkauft werden können.“[105]

Exakt dieser Gedanke markiert den Übergang zur Haushaltsproduktionsfunktion. In diesem Ansatz werden Kinder nicht länger wie Marktgüter analysiert. Vielmehr verhält es sich genau umgekehrt. Die Güter, die Nutzen stiften, werden analytisch wie Kinder behandelt: Zielgüter müssen vom Haushalt selbst produziert werden, bevor sie Nutzen stiften können. Hier liegt also nicht, wie vielfach befürchtet, eine ökonomistische Enthumanisierung des Fertilitätsverhaltens vor, sondern gerade umgekehrt eine generelle Humanisierung des Ökonomischen, und zwar dadurch, dass jegliches menschliche Verhalten nunmehr nach dem Muster des Fertilitätsverhaltens interpretiert wird.