Czytaj książkę: «Beckett bei Karl Valentin»
INGO FESSMANN
Beckett bei Karl Valentin
Von unglaublichen Begegnungen
Ingo Fessmann,
Jahrgang 1941, war viele Jahre lang in leitender Stellung in der Berliner Kulturverwaltung tätig und arbeitet heute als Rechtsanwalt. Die Nähe zu Kunst und Kultur ist ihm hierbei beruflich wie privat geblieben. Seit 1999 ist er geschäfts führender Direktor des Literarischen Colloquiums in Berlin.
Inhalt
Cover
Titel
Zum Autor
Vorwort
»Really crazy« – Samuel Beckett und Karl Valentin
Faszination des Fliegens – Franz Kafka und Gabriele D’ Annunzio
Adel verpflichtet – Virginia Woolf und Winston Churchill
Man lernt nur von Künstlern – Vincent van Gogh und Max Liebermann
Engel oder Hexe? – Elisabeth Bergner und Wilhelm Lehmbruck
Bilder in Bewegung – Dante und Giotto
Das Geheimnis der Liebe – Simone de Beauvoir und Brigitte Bardot
Kapriolen des Wahns – Nietzsche und Cosima Wagner
Gemeinsam gegen Napoleon – Caspar David Friedrich und Heinrich von Kleist
Schwärmerei, auch Kritik? – Bettina von Arnim und Goethe
Friendship itself – Bertolt Brecht und Charles Laughton
Die Entdeckung der Empfindsamkeit – Goethe und Mozart
Impressum
Fußnoten
Vorwort
SAMUEL Beckett und Karl Valentin, Vincent van Gogh und Max Liebermann, Franz Kafka und Gabriele D’Annunzio, Virginia Woolf und Winston Churchill – die in diesem Band geschilderten Verbindungen erscheinen zumindest auf den ersten Blick überraschend. Es sind Beziehungen ganz eigener Art, von denen manche kaum bekannt geworden sind und mehr oder weniger unwahrscheinlich anmuten. Ich selbst bin immer wieder erstaunt gewesen, welche Konstellationen während meiner Recherche zutage getreten sind, welche Fakten und Erkenntnisse, mit denen zuvor nicht zu rechnen war.
Ein geradezu frappantes Beispiel dafür ist der vergebliche Versuch Vincent van Goghs, Max Liebermann zu treffen. Dass van Gogh einmal an Liebermann geschrieben hat, um einen Besuch bei ihm zu vereinbaren, dürfte schon ungewöhnlich genug sein, mag aber noch zu den Dingen gehören, die zumindest Experten nicht verwundern. Doch dass er sich kurz darauf, ohne eine Antwort abzuwarten, in die Eisenbahn setzte, um zu Liebermann zu fahren, den er noch in dessen Ferienort vermutete, und dass er in dem kleinen holländischen Dorf Zweelo genau jenen Garten aufsuchte und jenen Apfelbaum zeichnete, den er kurz zuvor im Katalog zu einer Pariser Ausstellung auf einem der bedeutendsten Gemälde Liebermanns gesehen hatte, erscheint gleich in doppelter Hinsicht »unglaublich«.
Die nachstehend abgedruckten zwölf Texte sind deshalb auch alle von der Idee geleitet, an Hand einzelner Personen und vor allem an Hand der Beziehungen, in denen sie zueinander gestanden haben, ein Stück (Kultur-)Geschichte einzufangen. Immer geht es dabei um Menschen, die zum Kanon unserer historisch oder künstlerisch herausragenden Personen zählen. Und immer soll an Hand der hier verhandelten Beispiele möglichst mehr aufgezeigt werden als nur ein weiterer Aspekt im jeweiligen geistig-künstlerischen Profil der Akteure.
Um die Texte stärker miteinander zu verknüpfen, war zunächst daran gedacht, sie chronologisch zu ordnen. Das nähme ihnen jedoch viel von dem Neuen und Überraschenden, das in der betreffenden Personen-Konstellation liegt. Im übrigen wäre dann konsequenterweise mit dem frühesten Duo, mit Giotto/Dante, zu beginnen (um das Jahr 1300 herum), was indes nicht so recht passte, zumal die von mir zu Dante und Giotto entwickelten Thesen manchem Leser vielleicht als zu gewagt erscheinen werden. So verbindet diese Texte vielmehr das Außergewöhnliche, das diesen Begegnungen eignet.
Hinsichtlich des Anspruchs auf »Wissenschaftlichkeit« und »Quellenlage« muss ich den Leser um Nachsicht bitten. Ersteren kann ich schon deshalb nicht einlösen, weil ich weder Historiker noch Kunstgeschichtler bin. Die hier genannten, in der betreffenden Fachliteratur entdeckten Fakten sind jedoch nach Kräften von mir geprüft bzw. hinterfragt worden. Und was schließlich die Quellen angeht, habe ich im Rahmen des mir Möglichen die jeweilige These zu belegen versucht, wobei ich mit meinen Bemühungen meist, wenn auch nicht immer, erfolgreich war.
So hat sich zum Beispiel der Brief van Goghs an Liebermann nicht auffinden lassen, weil offenbar außer den (zahlreichen) Schreiben an seinen Bruder Theo keine anderen Briefe van Goghs mehr erhalten sind.1 In einem an Theo gerichteten Schreiben vom 2. November 1883 hat van Gogh jedoch selber von einem solchen Brief an Liebermann berichtet und vor allem auch ausführlich über seinen Besuch in Zweelo; er erwähnt darin Liebermann sogar zweimal.2
Berlin, im November 2013
Ingo Fessmann
»Really crazy« – Samuel Beckett und Karl Valentin
IM Winterhalbjahr 1936/37 unternahm Samuel Beckett eine größere Deutschland-Reise, die ihn außer nach Hamburg und Berlin auch nach Dresden und München führte. Da er sich für Malerei interessierte – und hier wiederum für die deutschen Expressionisten, insbesondere für die soeben von den Nationalsozialisten mit dem Bannstrahl des Ausstellungsverbots belegten Künstler –, war er bei seinem München-Aufenthalt darauf aus, Bilder von einigen der bereits »Verfemten« zu sehen. Kurz zuvor, in Dresden, war ihm das noch gelungen, der dortige Museumsdirektor hatte ihn noch einen Blick ins Depot werfen lassen. In München warf jedoch offenbar die Ausstellung »Entartete Kunst« schon ihre Schatten voraus, so dass ihm das dort nicht mehr geglückt ist. Immerhin schaffte er es, beim Verleger Piper und bei einem weiteren Sammler einige dieser Bilder zu sehen.
Theater und Literatur, für die man bei Beckett reges Interesse vermuten würde, standen damals hingegen kaum auf seinem Reise-Programm. Und dies, obwohl er relativ gut Deutsch sprach und sich bekanntlich später, in den 1950er Jahren, als er im Berliner Schiller-Theater einige seiner Stücke inszenierte, sogar an Übersetzungen gewagt hat. Um so ungewöhnlicher, dass er in München ausgerechnet eine Aufführung Karl Valentins im »Kabarett Benz« besuchte. Der Schauspieler Josef Eichheim, mit dem Beckett in Berlin, in derselben Pension wohnend, bekannt geworden war, nahm ihn eines Abends in die Schwabinger Bühne mit, nachdem Eichheim einige Monate zuvor Karl Valentin in Berlin bei einem Gastspiel erlebt hatte und hiervon begeistert war.
An diesem Abend nun stand Valentins berühmter Schwank »Der reparierte Scheinwerfer« auf dem Programm, mit ihm und mit Liesl Karlstadt als Darstellern. Und auch wenn sich Beckett mit dem bayerischen Dialekt und den ja oft mehr gegrummelten als gesprochenen Worten vermutlich schwergetan haben wird, hat er doch mit der Aufführung etwas anzufangen vermocht, hat sie ihn offenbar zutiefst beeindruckt. Ja, er war davon so fasziniert, dass er Karl Valentin persönlich kennenlernen wollte. Und in der Tat hat Eichheim dies ein paar Tage später vermitteln können. Die Begegnung fand – kein Aprilscherz! – am 1. April 1937 statt, wobei Beckett und Eichheim den Komiker in dessen mit »Grusel- und Lachkeller« titulierten Räumen am Münchener Färbergraben besuchten, einer Art Privatmuseum voller Valentinscher Kuriositäten. Der Hausherr soll die beiden, höchst typisch für ihn, mit einem pelzbesetzten »Winterzahnstocher« begrüßt haben (ein Gerät, das es übrigens noch immer im Münchener Valentin-Musäum zu sehen und als Replik zu kaufen gibt).
Wie und worüber sich die beiden verständigt haben? Hier der kauzige und nach innen gekehrte, ebenso spröde wie trockene Ire, dort der gleichfalls kauzige und im Prinzip ähnlich in sich gekehrte Bajuware, der bei allem Charme und aller Offenheit doch alles andere als daran gewöhnt war, mit ausländischen Besuchern umzugehen oder sich gar weltläufig zu geben; beide zudem depressive Naturen und daher im privaten Gespräch eher scheu und zurückhaltend. Doch manchmal genügt ja ein Gespür für das Besondere, Ungewöhnliche im jeweils anderen, um auch ohne sprachliches Verständnis miteinander kommunizieren zu können. Und in diesem Fall besaßen beide Protagonisten eine gehörige Portion davon. Karl Valentin wird dem Gast sicherlich seine in Vitrinen und auf Sockeln ausgestellten »Fundstücke« vorgeführt haben, so zum Beispiel den »Kamm der Loreley«, das »Nest voller ungelegter Eier«, die »Geschmolzene Eisskulptur« oder das »Glas mit Berliner Luft«, das Beckett höchstwahrscheinlich amüsant fand. Die Komik, die dieser Vorführung innewohnte, hat sich ihm gewiss umgehend vermittelt.
Nur schwer vorstellbar scheint allerdings, dass Beckett auch im eigentlichen Sinne begriffen hat, was diesen so eng mit der deutschen Sprache verbundenen, ihre Sprichworte und Mythen umkreisenden Valentinschen »Erfindungen« konzeptuell zugrunde lag. Die Begegnung der beiden ist daher von einer Art Geheimnis umgeben: zwei Künstler, die sich kaum miteinander verständigen konnten, doch jeweils erfasst und erkannt haben, worin das Eigenwillige ihrer Person und ihrer (Sprach-)Kunst bestand.
»Really crazy«, so lautet Becketts Tagebuch-Vermerk über diese Begegnung, wobei sich die Beckett-Experten einig darin sind, dass das kein Ausdruck von Distanz oder gar Abwertung ist, sondern vielmehr einer der Bewunderung. »Really crazy« beschrieb offenbar das Empfinden von höchst Merkwürdigem, Befremdlichem, aber auch, dass Beckett den bayerischen so mit Witz und Hintersinn ausgestatteten Komiker als ebenso verquer-skurril wie umwerfend komisch wahrgenommen haben muss.
Dass er damals Deutschland bereiste, mag auf den ersten Blick verwundern, hat dies doch mit Blick auf seine Herkunft und sein Studium des Französischen nicht unbedingt nahegelegen. Was also waren die Gründe für diese Entscheidung? Er sei innerlich ausgebrannt gewesen, so die Beckett-Literatur. Weil er mit seinen ersten schriftstellerischen Versuchen mehr oder weniger gescheitert war, habe Beckett Anregung, neue Impulse gesucht. Das Ganze sei ein spontaner Aufbruch »einfach so« gewesen, zumal er schon zuvor mehrfach in Deutschland geweilt hatte, um in Kassel eine Cousine zu besuchen. Also eine Reise der Liebe wegen, nicht etwa aus Bildungsambitionen heraus.
Bekanntlich gab es in den 1920er und 1930er Jahren des vorigen Jahrhunderts eine ganze Reihe englischer Schriftsteller, die Deutschland bereist und hier zum Teil sogar für längere Zeit gelebt haben – so zum Beispiel Christopher Isherwood, Stephen Spender oder W. H. Auden. Deutschland-Reisen waren in England damals fast wieder so in Mode wie im 19. Jahrhundert, als es ja ebenfalls vornehmlich Engländer gewesen waren, die Deutschland als Reiseziel »entdeckt« und dabei den Rhein geradezu zum Inbegriff der romantischen Landschaft gemacht hatten. Becketts Neugierde und Interesse galten demgegenüber vornehmlich den Städten und hierbei wiederum in erster Linie solchen, die das Neue, Moderne verkörperten. Er hat sich denn auch am längsten und intensivsten in Hamburg und Berlin aufgehalten. Berlins großstädtische Dynamik zog ihn an, ebenso wie wohl auch die liberale Lebenshaltung seiner Bewohner, die 1936/1937 dort offensichtlich noch zu spüren war.
Ein wenig befremdlich erscheint allerdings, dass er sich hierbei, sieht man von seinem Interesse für die verfemten expressionistischen Maler ab (das freilich ungewöhnlich genug war), augenscheinlich kaum für die Veränderungen interessiert hat, die sich infolge des Nazi-Regimes bereits in Politik, Gesellschaft, aber auch im Straßenbild eingestellt hatten. Dergleichen registriert er allenfalls am Rande. Und dies, obwohl er sich politisch eher »links« verortete und später in Frankreich, während der deutschen Besatzung, sogar in der Résistance aktiv war. Nimmt man sein Interesse am deutschen Expressionismus, so stellte dieser Aufenthalt genau besehen weniger eine »Bildungsreise, sondern eine Bilderreise« dar (Wolfgang Kemp).
Die Begegnung mit Karl Valentin war jedoch anderer Art. Dabei spricht, wie gesagt, vieles dafür, dass Beckett vor allem von dessen besonderem Umgang mit Sprache gefesselt war. Karl Valentins Sprachkraft und die von ihm betriebene Sprachakrobatik faszinierten ihn – sein Spiel mit Doppeldeutigkeiten, seine ebenso überraschenden wie naheliegenden Wort-Assoziationen, seine fortwährenden Wortverdrehungen, sein »Wortezerklauben«, wie Alfred Kerr es nannte.
Der Münchener Komiker ist oft mit Charlie Chaplin verglichen worden: dort der kleine x-beinige Mann mit Zylinderhut und Stöckchen, hier die fast 1,90 m große, spindeldürre Krummgestalt mit den allzugroßen Schuhen, den verdrehten Beinen und mit einer Art Lottermütze auf dem Kopf, beide zudem jeweils ausgestattet mit einem schalkhaften, spitzbübischen Gesichtsausdruck. Die eigentliche Faszination Valentinscher Komik dürfte indes mehr im Verbalen begründet liegen, in den Wort Slapsticks, mit denen er die Banalität des Alltags und das Sichverheddern des einzelnen in den Wirrnissen der modernen Zivilisation aufzuzeigen und als grotesk bloßzulegen suchte. Auch bei ihm ging es um die Welt des »kleinen Mannes«, dessen Gewohnheiten und Ängste. Doch Valentins Medium war in erster Linie die Sprache, getreu dem Motto: »Hoffentlich wird es nicht so schlimm, wie’s schon ist.«
Beckett scheint denn auch an Valentin speziell dies beeindruckt zu haben, das Doppelbödige und Vertrackte, die destruktiven und anarchischen Elemente, die in dessen Texten verborgen sind. Und dies jeweils auf die Spitze getrieben in einfachen, kurzen Geschichten, in denen es fast immer um alltägliche Katastrophen geht, um das kleine wie große Scheitern. Nicht zu reden davon, dass viele der Valentinschen Szenen eine Art dialektische, ans Absurde grenzende Hintergründigkeit besitzen.
Wenn Beckett auch manches von dem, was da auf der Bühne verhandelt wurde, wahrscheinlich mehr erahnt denn wirklich verstanden haben wird, geht man gewiss nicht zu weit in der Annahme, dass die Bekanntschaft mit Karl Valentin für ihn, für sein eigenes Schaffen durchaus initiierende Wirkung hatte. Denn das, was ihm da an Absurdem, Groteskem begegnete, liegt ja auch seinem eigenen Werk zugrunde. Wobei solche Annahme um so plausibler erscheint, als Beckett sich schon zuvor intensiv mit James Joyce und seiner Theorie der sprachlichen Verkürzung und der Doppeldeutigkeiten befasst hatte.
Liest man vor diesem Hintergrund seine großen Stücke »Glückliche Tage«, »Warten auf Godot« oder »Endspiel«, drängen sich jedenfalls unmittelbare Parallelen zu Karl Valentins Texten auf. Selbst in szenischer Hinsicht meint man da immer wieder Figuren Valentinscher Prägung zu erkennen, man denke etwa an Clov oder auch an Wladimir und Estragon. Dass Beckett in seinem Werk auf diese Einflüsse Bezug nimmt, ist denn auch unter Literaturwissenschaftlern so gut wie unbestritten.
Nicht zu übersehen sind andererseits die Unterschiede zwischen beider künstlerischem Vorgehen. So erweisen sich Karl Valentins Stücke trotz aller Sprachakrobatik und mimischer Kraft letztlich doch als »kleine Geschichten«, Schwänke, Sketche, während Beckett weit angelegte, »große Stücke« geschrieben hat, deren Figuren über das Alltägliche und Enge unseres Lebens hinausgreifen und dabei tiefen philosophischen Gehalt haben. Seine Protagonisten haben kein Vertrauen mehr in die Sinnhaftigkeit menschlichen Lebens, ihre Freiheit hat sich auf Null reduziert, mit ihrem Handeln oder in ihrer Handlungsunfähigkeit wird jeweils das Ende unserer Zeit behauptet. Bekanntlich war Beckett Anhänger der Philosophie des Existentialismus, seine Texte zeugen davon.
Und noch etwas trennt die beiden: Karl Valentin hatte Humor, während Becketts Stücke geradezu humorfrei scheinen. Vielleicht, dass sich in ihnen englischer bzw. irischer Humor verbirgt, der unsereinem verschlossen bleibt, und durchaus denkbar auch, dass sich in ihnen »philosophische Clowns-Spiele« (James Knowlson) verbergen.1 Doch über Becketts Figuren lässt sich nicht unbedingt lachen, so verzerrt-komisch sie zuweilen auch sind. Allenfalls, dass einem angesichts ihres jeweiligen Handelns oder Nichthandelns das Lachen im Halse steckenbleibt. Bei Karl Valentin dagegen gehört das Lachen stets dazu, ist Lachen, Lachenkönnen immer ganz selbstverständliches und unmittelbar zugehöriges Sprachelement. Seine Stücke sind in weitestem Sinne »Kabarett«. Und in ihnen spiegelt sich gerade auch die befreiende Wirkung, die Lachen zu erzeugen vermag.
Ob Beckett an dem Aufführungsabend oder bei jener privaten Begegnung im April über Karl Valentins Texte und Gesten nicht nur geschmunzelt, sondern auch gelacht hat, entzieht sich unserer Kenntnis. Unumstritten ist jedoch, dass er offenbar für dessen Humor empfänglich gewesen ist. »Really crazy« – kürzer und treffender lässt sich jedenfalls Karl Valentins bis heute reichende Ausstrahlung kaum beschreiben.
Faszination des Fliegens – Franz Kafka und Gabriele D’Annunzio
WÄHREND vermutlich jeder Abiturient in Deutschland wie in Italien weiß, wer Franz Kafka ist, löst die Frage nach Gabriele D’Annunzio hierzulande für gewöhnlich Ratlosigkeit aus. Bei unseren südlichen Nachbarn hingegen gilt D’Annunzio nicht nur als bedeutender Fin-de-siècle-Autor, sondern sogar als eine Art Nationalheld – dies weniger seiner Schriften wegen als vielmehr mit Blick auf die Taten, die er im Ersten Weltkrieg vollbracht hat. Vielen Deutschen ist der Name allenfalls aus dem Italienurlaub vertraut, wo sie, vielleicht auf der Suche nach einem Parkplatz, auf ihn gestoßen sind, gibt es doch in den meisten italienischen Kommunen, ganz gleich, ob groß oder klein, eine »Viale Gabriele D’Annunzio« – und sei dies auch nur des klangvollen Namens wegen.
Was Franz Kafka und D’Annunzio miteinander verbindet? Beide haben an einem Septembertag des Jahres 1909 an der damals berühmten Flugschau von Brescia teilgenommen, dem »Circuito Aero«: Kafka als Zuschauer, von Riva am Gardasee aus angereist, wo er im von Hartungschen Sanatorium die Ferien verbrachte, in dem kurz zuvor bzw. danach Heinrich und Thomas Mann zur Kur weilten, ebenso wie Sigmund Freud, wie kürzlich in einer zur Geschichte dieses Hotels verfassten Studie in Erinnerung gerufen wurde.1 D’Annunzio gehörte sogar zu den eigentlichen Protagonisten jener Veranstaltung: Halb Abenteurer, halb Dichter, war er nicht weniger von dem neuen Fortbewegungsmittel namens aeroplano fasziniert als der Prager Versicherungsangestellte, der in seinem Büro täglich mit den neuesten technischen Entwicklungen und deren Unfallgefahren zu tun hatte. Protagonist war D’Annunzio deshalb, weil er mit den Betreibern der Flugschau befreundet gewesen ist und mit zu ihren Organisatoren gehörte. Anders als Kafka hat er denn auch bei dem Großereignis nicht nur zuschauen und darüber schreiben wollen, sondern es ging ihm mindestens genauso darum, mitzufliegen, sich selber in das Luft-Abenteuer zu stürzen – der Geschwindigkeitsrekord lag damals bei sage und schreibe 76 km/h! –, was ihm übrigens auch gelang, wurde er doch gegen Ende der Schau von einem der Starpiloten, Glenn Curtis, mitgenommen und durfte so, für wenige Minuten wenigstens, »Höhenluft« atmen. Kafka war zu dem Zeitpunkt schon wieder abgereist. Zusammen mit Max Brod und dessen Bruder Otto hatte er den Zug zurück nach Desenzano bzw. Riva nehmen müssen.
Kafka und D’Annunzio sind einander also nur im übertragenen Sinne begegnet. Doch abgesehen von der gemeinsamen Teilnahme an der Flugschau und dem durchaus bemerkenswerten Faktum, dass Kafka D’Annunzio in seinem Text gleich zweifach erwähnt, wurden beide von diesem Ereignis zum Schreiben angeregt: der Italiener, indem er es zu seinem Roman »Forse che si, forse che no« verarbeitete, auf Deutsch 1911 immerhin vom renommierten S. Fischer Verlag unter dem Titel »Vielleicht, vielleicht auch nicht« verlegt; Kafka, indem er das Erlebte zum Gegenstand eines Aufsatzes mit dem Titel »Die Aeroplane in Brescia« gemacht hat, erschienen am 29. September 1909 in der deutschsprachigen Prager Tageszeitung »Bohemia«, seine zweite Publikation überhaupt und im übrigen wohl auch die erste Beschreibung von Flugzeugen in der deutschen Literatur. D’Annunzio findet darin, wie gesagt, sogar zweimal Erwähnung. Zunächst als Person, die jedermann kennt, dessen Berühmtheit sich quasi von selbst versteht, sodann im Kontext mit all den Notabeln und Prominenten, die sich unter den Zuschauern und vor allem im Festkomitee ausmachen lassen – die örtlichen Honoratioren, die Principessa Laetitia Savoia Bonaparte, die Principessa Borghese und nicht zuletzt Giacomo Puccini, der laut Kafka »von der Tribüne über das Geländer schaut mit einer Nase, die man eine Trinkernase nennen könnte«. Eine Anmerkung, die vermuten lässt, dass der Schreiber in bezug auf die anwesende Prominenz durchaus Bescheid wusste.
Wer herausfinden will, was es mit Gabriele D’Annunzio auf sich hat und was ihn bis heute in Italien so berühmt sein lässt, halte im Lexikon oder im Google-Suchdienst weniger nach dem Schriftsteller Ausschau – da kennzeichnet ihn ein heute kaum mehr erträgliches schwelgerisches Pathos –, sondern nach dessen in der Tat aufregender und sehr italienischen Vita, und mache sich insbesondere einmal das Vergnügen, Gardone am Gardasee zu besuchen, genauer gesagt das dort in einem weitläufigen Parkgelände gelegene, mit einem Mausoleum und vor allem mit zahlreichen Kriegstrophäen versehene Anwesen namens »Il Vittoriale degli Italiani«, wie die ebenso faszinierende wie prunkvollkitschige Residenz heißt, die sich D’Annunzio noch zu Lebzeiten dort auf einem Hügel gebaut hat.
Schon das Haus selbst ist eine opulente Mischung aus privatem Wohnhaus, hochstilisierter Künstler-Werkstatt und Ort der Selbstdarstellung, Selbstinszenierung (ähnlich den Künstler-Häusern Lenbachs, Stucks und Makarts gegen Ende des 19. Jahrhunderts). Das mit Heroenbüsten, Trophäen und mythologisch aufgeladenem Krimskrams angefüllte D’Annunzio-Museum liegt dabei inmitten einer auf Effekt hin inszenierten Garten- und Brunnenanlage, ergänzt um eine Freiluftarena sowie das pompöse Mausoleum für den Hausherrn mitsamt 13 seiner Mit-Heroen. Krönung des Ganzen ist ein pittoreskes, auf einem Hügel plaziertes, in Beton gegossenes Kriegsschiff aus dem Ersten Weltkrieg. Zusammengenommen bildet das Ensemble ein höchst pathetisches Sammelsurium, das D’Annunzio dem italienischen Volk und nicht zuletzt sich selbst als nationales Siegesmal widmete. Seit Mussolini steht es im Rang einer nationalen Gedenkstätte und ist heute noch eines der touristischen Highlights dieser Region, wenn nicht sogar Norditaliens überhaupt. Zwar findet sich hier auch der schriftstellerische Nachlass ausgestellt, die Sammlung von D’Annunzios Büchern, Aufsätzen und politischen Schriften. Weit stärker indes beeindrucken die damals wohl hochmodernen Kriegsgeräte aus der Zeit des Ersten Weltkriegs: besagtes in den Boden eingelassenes Kriegsschiff, zwei aus der selben Zeit stammende Flugzeuge, mehrere Rennautomobile, Motorräder. Alles Objekte, die einzig und allein dazu gedacht sind, dem Ruhm des einstigen Hausherrn Ausdruck zu verleihen sowie die vielfältigen Rollen vorzuführen, in denen er Geschichte schrieb.
So erfährt man etwa, dass D’Annunzio neben Gedichten und Romanen auch Theaterstücke verfasst hat – natürlich Tragödien! –, sogar das Libretto für eine Oper; dass er ein halbes Jahrzehnt lang der Liebhaber und Lebensgefährte Eleonora Duses war, einer anderen Ikone der italienischen Volksseele; dass er früh schon den Faschismus propagierte und hierbei zunächst Rivale Mussolinis war, später dann von diesem protegiert und gefördert wurde (daher »Il Vittoriale« als nationale Gedenkstätte); dass er sich heftig für all die neuen Erfindungen und Entwicklungen im Fahrzeug- und Flugzeugbau interessierte und begeisterte. Und man erfährt vor allem, was D’Annunzio neben seiner Schriftstellerei und seinem Dandy-Wesen für die Italiener in ganz besonderer Weise verehrungswürdig macht: dass er nämlich im und nach dem Ersten Weltkrieg mit gleich drei Aktionen sein Volk in kriegerisch-nationalistische Verzückung zu versetzen wusste:
Im Jahr 1917 feuerte er mit einem Ein-Mann-U-Boot vor dem damals österreichischen Triest drei Torpedos auf gegnerische Schiffe ab (wobei freilich zwei davon in Fischernetzen hängenblieben und der dritte sein Ziel verfehlte). Ende des Krieges, im August 1918, unternahm er dann mit Hilfe eines höchst geübten Piloten (die Strecke betrug immerhin fast 1.100 km) einen Propagandaflug in Richtung Österreich, auf dem es ihm nicht nur gelang, bis Wien vorzudringen, sondern dort – wenn auch keine Bomben – auch immerhin 11.000 Flugblätter in deutscher und italienischer Sprache abzuwerfen. (Flugblätter allerdings mit einem für die Österreicher kaum verständlichen pathetischen Text und vor allem endend mit dem Ausruf »Viva l’Italia!«, was aller Wahrscheinlichkeit nach die potentiellen Adressaten nur wenig beeindruckt haben dürfte, um so mehr jedoch seine Landsleute zu Hause.) Im September 1919 schließlich, also ein Jahr nach Kriegsende und damit das Waffenstillstandsabkommen unterlaufend, führte D’Annunzio eine Gruppe Freischärler ins österreichische Fiume und hielt die Adria-Stadt mit seinem Trupp, der in eigens von ihm dafür entworfenen Uniformen auftrat, für mehrere Monate besetzt – ein Coup, der Mussolini später als Vorbild für seinen berühmten »Marsch auf Rom« diente und D’Annunzio 1924 den vom italienischen König verliehenen (erblichen) Adelstitel eines »Principe di Montenevoso« einbrachte.
Kurzum, man trifft im »Il Vittoriale« auf Zeugnisse von Heldischem – etwas, das uns Deutschen aufgrund unserer eigenen Geschichte höchst suspekt erscheint, wobei für die Italiener offenbar nicht ausschließlich die Tat zählt, sondern vor allem die Pose, der Effekt. Ob das Ganze auch wirklich etwas bewirkt hat, ist demgegenüber weniger wichtig. (Ein glückliches Volk!, möchte man da aus hiesiger Sicht anfügen.)
Was dies alles mit Franz Kafka zu tun hat? Schon Max Brod, der enge Freund und Nachlassverwalter, hat der gängigen Sicht auf Kafka als den Prototyp eines von Daseinsfremdheit, von Schuldgefühlen und vor allem von Angst bestimmten Autors widersprochen und Kafka statt dessen als einen durchaus dem Leben zugewandten Menschen beschrieben. Brod widersprach insbesondere der Auffassung, wonach Kafkas Denken und Handeln aus einer höchst säkularen, existentialistischen Weltsicht heraus entstanden sei, die tödliche Erkrankung daher möglicherweise von ihm sogar unbewusst-bewusst »herbeigesehnt« worden sei. Für Brod waren solche Deutungen nichts anderes als von außen aufgestülpte Theorien. Kafkas Werk liege vielmehr in erster Linie dessen religiöses Schuld- und Sendungsbewusstsein als Jude zugrunde, so sein Credo. Zumal in Prag habe der Deutsch schreibende Autor stärker noch als anderswo erfahren müssen, dass das Judesein und die damit verbundene Außenseiterstellung, egal wie sehr man um Anpassung bemüht sein mochte, sich unter keinen Umständen überwinden lasse. Wobei Max Brod, zeitlebens Zionist und schon von daher solcher Sichtweise zuneigend, an diesem Credo bis zuletzt festgehalten hat, ungeachtet der geradezu erdrückenden Gegenbeweise, auf die die Kafka-Forschung der 1950er und 1960er Jahre hingewiesen hat, solches Bild vom Autor und von der Person Franz Kafka vielfach korrigierend und ergänzend.
Brod mochte daraufhin allenfalls einräumen, dass sich in Kafkas Werk durchaus auch anderes widerspiegele, von einer nihilistischen Weltsicht oder gar von Todessehnsucht jedoch könne bei ihm keine Rede sein, Kafka sei lediglich einer damals weitverbreiteten Krankheit, der Schwindsucht, zum Opfer gefallen. (Der Verfasser hatte im Jahr 1966 als Student in München das Glück, Max Brod anlässlich der Buchvorstellung seiner Reuchlin-Monographie zu begegnen, wobei er ihn auf Kafka anzusprechen suchte. Brod wiederholte dort seine These, dass Kafka demgegenüber eine dem Leben zugewandte Person gewesen sei. Und diese seine Antwort war ungemein überzeugend, da Brod selbst große Energie und Lebensfreude ausstrahlte.)
Und in der Tat lässt sich vielleicht auch in diesem Fall der Wahrheit näherkommen, indem man davon ausgeht, dass in jedem Menschen neben dem Typischen gleichzeitig auch Untypisches angelegt ist, sich Charakterzüge finden, die im Widerspruch zu dem sonst so dominierenden Bild stehen. So scheint sich Kafka zwar in der Tat phasenweise stark mit religiösen Fragen beschäftigt zu haben, dies aber keineswegs durchgängig und in einem Maße, dass es sein Denken und Schreiben insgesamt beherrscht hätte. Ansatzweise ist wohl auch zu unterscheiden zwischen dem Tag-Menschen und dem Nacht-Menschen Kafka, wobei letzterer sowohl für dessen elementare Angst vor jeglicher Nähe oder gar Zugehörigkeit steht als auch für die beständige Suche hiernach.
Für Max Brods These vom »positiven Kafka« spricht jedenfalls, dass dieser, ungeachtet seiner gewiss schwachen physischen Konstitution, häufiger gemeinsam mit dem Freund rudern und schwimmen ging, dass er sogar geritten und Motorrad gefahren ist, was zu jener Zeit ja nicht eben selbstverständlich war, ganz zu schweigen davon, dass Kafka in puncto Sexualität offensichtlich ein ausgesprochen aktiver und in seinem Begehren durchaus selbstbewusster Mann war. Zudem gilt es, zwischen dem Franz Kafka vor und nach der Erkrankung zu differenzieren, wobei wir es bei der Flugschau in Brescia mit dem noch jungen Kafka zu tun haben, der in Riva vor allem des Schwimmens wegen Ferien machte.
In den vergangenen Jahren sind im übrigen im Rahmen der Kafka-Forschung zahlreiche neue, bislang unentdeckte Züge dieses Jahrhundertautors zutage getreten. So zum Beispiel, dass es in seiner Tätigkeit bei der Prager Arbeiter-Unfall-Versicherung dominant um industrietechnische Fragen und Probleme gegangen ist, Kafka also weit mehr als üblich mit technischen Dingen befasst war und nicht lediglich mit deren juristischer Behandlung. Oder dass er sich in der Beziehung zu Felice Bauer ausgesprochen intensiv mit den den Inbegriff technischer Neuheiten verkörpernden Stimmaufzeichnungsgeräten der Berliner Firma, bei der Felice beschäftigt war, befasst hat.2 Nicht zu reden davon, dass Kafka ein starkes Interesse fürs Kino hegte, wobei es ihm wohl weniger um dessen Inhalte ging als vielmehr um die technischen Aspekte des neuen Mediums.3
Darmowy fragment się skończył.