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Jette - Von Ostpreußen über das Sauerland nach Ostwestfalen
1. Auflage, erschienen 10-2020
Umschlaggestaltung: Romeon Verlag
Text: Ina Paradine
Layout: Romeon Verlag
ISBN (E-Book): 978-3-96229-859-3
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INA PARADINE
Jette
Von Ostpreußen über das Sauerland nach Ostwestfalen
Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können. (Jean Paul)
Teil I
Flucht aus Ostpreußen, 1944
Wie Jette als Dreijährige gegen Ende des 2. Weltkrieges die weite Flucht von Ostpreußen nach Werdohl im Sauerland durchgestanden hat, daran kann sie sich überhaupt nicht erinnern. Nach den Erzählungen ihrer Mutter, ihrer Tante Anneliese, die Schwester ihres Papas und deren Mutter, also Jettes Großmutter, muss es unvorstellbar schrecklich gewesen sein. Im Juli 1944 gingen drei Frauen mit drei Kindern auf die Flucht: Sie, gerade 3 Jahre alt; Marisa, 15 Monate alt; Heinz-Jürgen, deren Cousin, 4 Wochen alt.
Flüchtlingstrecks, die aus dem Osten kamen, zogen schon tagelang durch den östlichsten Landkreis Deutschlands, der Kleinstadt Ebenrode. Noch am 29. Juli 1944, einem Samstag, zehn Tage nach dem 26. Geburtstag von Jettes Mutter, war es allen Einwohnern streng verboten, die Stadt zu verlassen. Doch schon am Sonntagvormittag hieß es plötzlich, dass Personen mit einem Berechtigungsschein fahren könnten, wohin sie wollten. Zu der „berechtigten“ Gruppe gehörten auch die sechs: Frau Jülich mit zwei kleinen Mädchen, Tante Anneliese mit dem vier Wochen alten Säugling Heinz-Jürgen und deren Mutter, Oma Jülich als Begleitperson. Der letzte Zug Richtung Berlin verließ am Abend die Stadt. Es blieben sechs Stunden, um die Flucht zu organisieren. In aller Eile packten die drei das Nötigste für die Reise: Butterbrote, gekochte Eier, Milchflaschen, Windeln, Babykleidung, ein zweites Sommerkleidchen, Unterwäsche zum Wechseln. Natürlich benötigten die Erwachsenen auch noch Kleidung und Unterwäsche für sich. Die Mütter packten die Koffer, als wenn sie in die Ferien fahren würden. Sollten sie vielleicht auch noch etwas von dem Familiensilber im Koffer mitnehmen? Nein, der würde zu schwer! Wo blieb das Silber, wenn „der Russe“ einmarschierte? Sollten die Kinder Spielsachen mitnehmen? Der Teddy wurde Jette einfach in den Arm gedrückt, damit Marisa und sie etwas hatten, das ihnen von zu Hause her bekannt war, zu dem sie auf der Reise sprechen könnten. Niemand wusste, wie lange sie unterwegs sein würden. Von wem sollten sie sich verabschieden?
Außerdem mussten die beiden jungen Mütter sich bei der Behörde noch persönlich um die Berechtigungsscheine kümmern. Also setzten sie sich aufs Fahrrad und fuhren zum Amt. Die Schwestern Jette und Marisa wurden in der Obhut der Oma und der jungen Cousine Gisela gelassen. Diese konnte sich einfach nicht vorstellen, dass die Familie auf diese Weise auseinandergerissen würde. Cousine Gisela war für Jettes Mutti wie eine Schwester. Weil Gisela früh Waise geworden war, wuchsen die beiden zusammen auf. Was würde nun aus ihr werden? Sollte sie allein bei Onkel und Tante bleiben? Sie weinte und weinte.
Weil stillende Mütter Anrecht auf eine Begleitperson hatten, durfte Tante Anneliese ihre Mutter, Jettes und Marisas Großmutter väterlicherseits, mitnehmen. Auch für sie brachten die beiden Mütter den Berechtigungsschein mit.
Auf dem Bahnhof spielten sich entsetzliche Szenen ab. Natürlich wollten unzählig viele Menschen mit dem letzten Zug in die Sicherheit fahren. Aber die verantwortlichen Diensthabenden überwachten solche Aktionen streng und erbarmungslos, sodass diejenigen ohne Berechtigungsschein keine Chance hatten. Sie wurden von der SS zurückgehalten, sogar wieder aus dem Zug geholt. Dabei waren die Gefechte der näher rückenden Russen mit der Wehrmacht schon hörbar. Es klang wie weit entferntes Donnergrollen.
Die Eltern von Jettes Mutter und die 16-jährige Cousine von Frau Jülich durften also nicht mit dem letzten Zug aus Ebenrode fahren. Sie bekamen keine Genehmigung, und Jettes Mutti durfte auch keine Begleitperson als Betreuung mitnehmen. Ihre beiden Töchter waren nämlich „zu alt“. Jettes Omi Trescher und Gisela ordneten sich Wochen später mit dem Pferdefuhrwerk, bepackt mit eigenen Habseligkeiten und auch einigen der Eltern, in die unendlich langen Trecks ein, die aus östlicher Richtung durch die Kleinstadt gen Westen zogen. Der Opa Trescher war für die letzte Lokomotive verantwortlich und musste sie nach Königsberg fahren, damit sie nicht in die Hände der nachrückenden russischen Soldaten fiel. Er war später allein von Königsberg nach Werdohl geflohen. Gisela und Omi hatten sich mit Verwandten zusammengeschlossen.
Die Reise, die zu normalen Zeiten mit der Bahn 10 Stunden betrug, dauerte für Frau Jülich, ihre Töchter, Tante Anneliese mit Säugling Hans-Jürgen und Oma Jülich mehrere Tage, da ständig Züge ausfielen, Bahnlinien bombardiert wurden und auf den Bahnhöfen, besonders in Berlin, Chaos herrschte. Außerdem mussten Tante Anneliese und Jettes Mutti an Hydranten frisches Wasser holen. Der Rest der Butterbrote, die sie mitgenommen hatten, wurde genau aufgeteilt. Sie durften alle nur dann etwas essen, wenn sie wirklich Hunger hatten!
Welch unglaubliche Willenskraft, welch außerordentliches Durchhaltevermögen, welch einzigartiges Organisationstalent diese beiden 24- und 26-jährigen jungen Frauen bewiesen, muss jeder aus der heutigen Perspektive nur bewundern, ganz abgesehen von der seelischen Belastung, vielleicht die Heimat, ihre Ehemänner, die Verwandten nie wiederzusehen, alles verloren zu geben, was sie als junge Familien gerade im Begriff waren aufzubauen. Oder steckte in ihnen lediglich die Angst vor dem nahenden Russen?
Jette war mit dem ehemaligen Schultornister ihrer Mutter bepackt. Er war mit Unterwäsche für ihr Schwesterchen und sich angefüllt, und sie trug ganz stolz ihre neuen roten Leder-Lack-Schuhe. Aber die musste sie unter den Augen ihrer Mutti für die Reise wieder ausziehen und dafür ihre braun-beige-karierten, bis zum Knöchel reichenden Filzpantoffeln mit dunkelbraunen Metallschnallen anziehen. Sie weinte und jammerte: „Ich hab’ mich doch ‚ssön‘ gemacht für die Reise! Ich kann doch nicht auf ‚Pfuffen‘ reisen!“ Sie nannte sie so, weil sie Pantoffeln nicht aussprechen konnte. „Mein liebes Jettchen!“, sagte ihre Mutti nun, „es ist doch so, so heiß! Und Du hast Dir neulich schon einmal ein paar Blasen an Deine Füßchen gelaufen. Weißt Du noch, wie weh das tat? In den weichen Pfuffen kann Dir das nicht passieren. Wir werden nämlich noch ganz lange unterwegs sein. Hör auf Mutti! Die weiß es am besten!“
Immerhin war Jette die einzige Kleine, die schon laufen konnte. Wie weit wäre sie wohl mit an den Füßen brennenden Lackschühchen gekommen? So war offensichtlich von ihrer Mutti alles genauestens durchdacht und zum Überleben wichtige Entscheidungen getroffen worden. Bis auf den Teddy, den sie im Arm halten und mit sich herumtragen durfte, gab es nichts an Spielzeug. Mit der anderen Hand musste sie sich an dem rotweiß karierten Rock ihrer Mutter festhalten. Ihr wurde eingebläut, dass sie ihn nie und nimmer loslassen durfte. Da sie ein sehr folgsames Kind war, war auf diese Weise gewährleistet, dass sie nicht verloren ging und nie von ihrer Mutter getrennt wurde. Frau Jülich trug Schwesterchen Marisa auf dem Arm. Sie konnte noch nicht lange genug laufen.
„Einander verlieren, das muss schlimmer sein als zusammen sterben“, hatte Jettes Mutti später Freunden und Verwandten gesagt! Dieser rot-weiß-karierte Rock war in Jettes Gedächtnis haften geblieben: Als sie in der Grundschule im Religionsunterricht vier Jahre später die Geschichte von Joseph und seinen Brüdern erzählt bekam, stand genau der Rock vor ihren Augen. Sie eilte nach der Schule nach Hause, lief ganz aufgeregt zum Kleiderschrank der Mutter, nahm ihn heraus und verbreitete überall, dass der Rock, den die Brüder Josephs dem Vater Jakob überbrachten, bestimmt so aussah!
In Berlin auf dem Bahnhof in dem Menschengewimmel wollte ein junger Soldat Jettes Mutter beim Umsteigen behilflich sein. Er hat Jette auf den Arm genommen und trug sie ihrer Mutti nach. Als die das jedoch bemerkte, schrie sie um Hilfe, ohrfeigte ihn und beschimpfte ihn als Kindesdieb.
Misstrauen gegenüber allen Fremden mischte sich offensichtlich mit der Sorge um die Sicherheit ihrer Kinder.
Überfüllte und zum Teil völlig ausgefallene Züge, die Hitze, Übernachtungen in Luftschutzbunkern machten die Reise zur Qual, doch waren die drei Erwachsenen dankbar, dass sie ein Ziel im Westen hatten, das ihnen sicher schien. Eine mehrtägige Flucht mit der Bahn ohne jegliche Habseligkeiten bedeutete den Müttern jedenfalls mehr als eine monatelange Flucht mit Pferdefuhrwerken, die ihr wertvolles Hab und Gut mit sich führten.
Warum flüchtet die Familie nach Werdohl, einer Kleinstadt im Sauerland?
Nun, Tante Annelieses Schwiegereltern lebten dort. Ihr Mann hatte ihr bei seinem letzten Feldurlaub in Ostpreußen geraten, wenn es „hart auf hart“ käme, solle sie dorthin flüchten. Und da die Jülichs keine direkten Verwandten im Westen hatten, die westlichsten lebten in Berlin, entschloss sich Jettes Mutti an dem entscheidenden Sonntag, sich zusammen mit Schwägerin und Schwiegermutter auf die Flucht ins Sauerland zu begeben.
Dem Tagebuch der Tante nach wurde die Entscheidung für ihre Ausreise in Wirklichkeit von Frau Jülichs Eltern getroffen, da sie selber an dem Sonntag ins nahegelegene Dorf Göritten gefahren war, um aus dem ehelichen Haus einige wichtige Sachen zu holen. Das Haus war beschlagnahmt worden, um dort Führungskräfte der Wehrmacht wohnen zu lassen. Papa Jülich kämpfte an der Front in Italien. Mutti Jülich war deswegen mit den Kleinen von Göritten zu ihren Eltern nach Ebenrode gezogen. Als sie an dem Sonntagmittag nach Hause kam, wurde ihr mehr oder weniger von ihren Eltern befohlen, Ostpreußen am Abend mit ihren Töchtern und Tante Anneliese und „Oma Jülich“ zu verlassen.
Welche Abschiedsszenen hatten sich da im Hause Trescher abgespielt? Wie hat man sich für die Zukunft verabredet? Was sollte mitgenommen werden? Was war wichtig? Wie konnte Jettes Papa, Herr Jülich, benachrichtigt werden?
In Werdohl verlief das Leben zu der Zeit im August 1944 eigentlich noch ganz „normal“. Man hatte zwar davon gehört, dass die Rote Armee die Ostgrenze Ostpreußens zu überschreiten drohte und die Alliierten in Nordfrankreich die deutsche Front zurückdrängten. Das Attentat auf Hitler war, wie sie alle heute wissen, verschleiert worden. Das deutsche Volk war über die wahren Beweggründe der Widerstandskämpfer, die als Verbrecher und Verräter beschimpft wurden, getäuscht worden. Die Menschen in Werdohl glaubten noch an Hitler, glaubten an einen Sieg. Sie waren doch so weit von der Ostgrenze entfernt!
Ankunft in Werdohl im Sommer 1944
Endlich am sicheren Ziel angekommen, ließ sich die Gruppe in einer Ecke des Wartesaals nieder: Die Großmutter mit einem Säugling im Arm, die Mutter mit einem Kleinkind auf dem Schoß, die dreijährige Jette in Pantoffeln mit einem Teddy unterm Arm, zwei abgesetzte Kleinkoffer, eine junge Frau, die sich von der Gruppe mit den Worten verabschiedete: „Ich bin in etwa einer Stunde wieder da und hole Euch ab.“
Während sich Tante Anneliese zu Fuß auf den Weg zum Haus ihrer Schwiegereltern machte, das ungefähr eine halbe Stunde vom Bahnhof entfernt lag, bestaunten die Leute sie, ja fast gafften sie sie an. Jettes Mutti fragte nach frischem Wasser, das sie auch bekamen. Ansonsten hatten vereinzelte Leute im Wartesaal, außer Soldaten und anderen erwachsenen Reisenden, noch nie solch eine Gruppe gesehen. Als Jettes Mutter verlauten ließ, dass sie aus Ostpreußen kämen und vor dem nahenden Russen geflüchtet wären, wollte man es ihr nicht glauben: „Liebe Frau! Das ist völliger Unfug! Wir werden den Krieg gewinnen! Hören Sie mit dem ‚dämlichen‘ Gerede auf!“ – „Dem Führer ist zu trauen; er weiß, was er tut. Sie müssen nur geduldig sein, durchhalten! Er wird uns schon zum Siege führen! Alle widersprüchlichen Berichte sind Unsinn.“
„Geben Sie sich um Gottes willen nicht als Flüchtlinge aus! Es gibt keine deutschen Flüchtlinge, merken Sie sich das! Heil Hitler!“ Das war die Einstellung der Werdohler im August 1944.
So gelangten sie zum Bausenberg 21, in das Haus der Schwiegereltern von Jettes Patentante, das ein 2 ½ - Familienhaus und zweigeschossig in den Bausenberg hineingebaut war. Jede Wohnung hatte eine Küche, ein Schlafzimmer, eine gute Stube und ein Badezimmer mit Toilette. Im Dachgeschoss gab es noch drei Zimmerchen und eine Toilette. In der ersten Etage wohnte der älteste Sohn der Familie Schröder zu fünf Personen: Tante Friedchen und Onkel Willi, der zu der Zeit an der Front kämpfte, mit ihren Kindern Dieter, Christa und Detlef. In der zweiten Etage wohnte Opa Schröder mit seiner Frau und der verheirateten Tochter Edith, deren Mann auch irgendwo Soldat war. Niemand wusste, wo er sich aufhielt oder kämpfte. Zu diesen Personen gesellten sich nun plötzlich weitere 6 Personen, denen ein Plätzchen im Haus gegeben wurde. Sie machten alle Platz für die Verwandten aus dem fernen Ostpreußen. Wo sollten all diese Personen nur schlafen? Die drei Jülichs waren ja nur „Anhängsel“, aber die Familie Schröder zeigte sich sehr gastfreundschaftlich und hilfsbereit. Tante Friedchen gab den dreien ihr Wohnzimmer, in das ein großes Bett, ein Tisch mit vier Stühlen und später eine elektrische Kochplatte gestellt wurden. Dass dieses Zimmer die Bleibe für die nächsten vier Jahre werden sollte, ahnte sicherlich niemand zu der Zeit! Alle hofften und glaubten, dass bald den Neuankömmlingen eine sichere Bleibe irgendwo in der Stadt vom Amt angeboten würde.
Tante Anneliese lief mit Jettes Mutti jeden Tag zu Fuß zum Rathaus in Werdohl, um ein Quartier zugewiesen zu bekommen, doch die Antwort lautete: „Gehen Sie bitte dahin, wo es mehr Platz gibt als in unserem kleinen Werdohl!“
Man hatte mit Flüchtlingen einfach noch keine Erfahrung. Und – wo sollten sie denn schon hin? Die beiden Mütter waren ziemlich ratlos. Sie gaben nicht nach, sondern zogen weitere vierzehn Tage jeden Morgen zum Amt, um doch nur wieder vertröstet zu werden. Sie bekamen allerdings jede einen Korb mit Küchengeräten zugeteilt: 2 Blecheimer, 2 Kochlöffel, 1 Backform, eine Kochplatte.
Nach drei Wochen stand plötzlich Vater Jülich vor der Tür. Nun, ein großes Bett, das für drei reichte, sollte es wohl auch für die vier tun! Papa Jülich stand an der italienischen Front, hatte Sonderurlaub bekommen, war von Italien nach Ostpreußen „gefahren“, hatte dort weder seine Frau noch seine Töchter angetroffen, aber von Nachbarn gehört, dass sie nach Werdohl „geflüchtet“ wären. Dann fuhr er von Ostpreußen nach Werdohl. Wie viele Tage er wohl unterwegs gewesen sein mag?! Ob Soldaten in Uniform zu jener Zeit schneller befördert wurden?
Welche Freude bei Jettes Eltern, die sich gegenseitig „Tschiepschen“ nannten, sich endlich wieder einmal in den Arm nehmen zu können! Welche Freude bei dem Vater, die beiden Töchter zu herzen! Er hatte außerdem vor einigen Monaten seinen ersten Neffen bekommen und konnte ihn nun zum ersten Mal bestaunen!
Auch Herr Jülich erreichte beim Amt nichts. Doch erhielt die Familie Jülich schließlich die Genehmigung mit dem Einverständnis der Familien Schröder, dass sie dort „Am Bausenberg 21“ bis auf Weiteres wohnen durfte. Schnell wurde die Taufe des kleinen Heinz-Jürgen geplant und gefeiert, da der Patenonkel, Jettes Vater, anwesend war. Der Vater des kleinen Heinz-Jürgen kämpfte zu der Zeit irgendwo an der Ostfront.
Mit der Feldpost hatte Jettes Tante ihren Mann von der Geburt des Sohnes unterrichtet, hatte allerdings keinerlei Nachricht von ihm erhalten. Es musste für sie sicherlich sehr enttäuschend gewesen sein, dass alle Ehemänner im Haus auf „Feldurlaub“ kamen, nur ihr eigener Ehemann nichts von sich hören ließ. Immer wieder die Eintragungen in ihr Tagebuch: „Ob der liebe Vati wohl schon von unserem Jungen weiß?“
Nach Jettes Papa tauchte dann plötzlich auch der Ehemann von Tante Friedchen auf; kurze Zeit darauf auch der Ehemann von Edith. Doch Onkel Willy reiste nach 6 Tagen wieder ab. Onkel Carl, der Mann von Tante Edith, trug gar keine Uniform und war schon nach wenigen Stunden wieder verschwunden. Alle gingen sehr geheimnisvoll mit ihm um. Er sagte ihnen allen nicht einmal guten Tag. Was sprachen die jungen Ehepaare miteinander? Machten sie Pläne für die Zukunft? Konnten sie das schreckliche Ende voraussehen? Erzählten die drei Soldaten nie, wie es an den Fronten aussah, oder saßen diese drei sicher in irgendwelchen Amtsstuben? Wie viel wussten sie über die wirkliche Kriegssituation? Wollten sie ihren jungen Frauen die Wirklichkeit verheimlichen?
Wollten die drei Soldaten niemanden mit ihren Berichten beunruhigen? Glaubten sie daran, den Krieg zu gewinnen? Das waren Fragen, die heute nicht mehr beantwortet werden können. Die Aufzeichnungen der Tante reichen nur bis Ende des Monats September 1944, und über Berichterstattungen oder Gespräche im Hause Schröder, die den Verlauf des Krieges betrafen, war leider nichts zu lesen.
Das Haus „Am Bausenberg 21“ war also bis unters Dach voll mit Kindern, jungen Müttern, Großmüttern, Tanten und einem einzigen Mann, Opa Schröder, dem Besitzer des Hauses. Es gab zu der Zeit noch alles zu essen. Zur Taufe von Heinz-Jürgen z. B. bereiteten die Frauen alle ein Festessen vor, und anschließend tischten sie Torten und Kaffee auf.
Gegen Ende des Monats September wurde es in dem sauerländischen Städtchen langsam kälter, und alle jungen Frauen gingen in den nahen Wald, um Brennholz für den Winter zu sammeln. Jette ging auch manchmal mit und suchte kleinere Ästchen für den Korb. Dieser Wald lag dem Haus des Bürgermeisters Filthaus gegenüber, der später noch eine wichtige Rolle in Jülichs Leben „am Bausenberg“ spielen sollte.
Bis hierher hatte Jette sich auf die Eintragungen im Tagebuch ihrer Tante gestützt. Es war ein Segen, dass sie es ihr geschenkt hatte. Allerdings hatte ihr Tantchen alles in Sütterlin geschrieben, die Schrift, die etwa bis 1945 die Amtsschrift in Deutschland war. Nicht jeder versteht heutzutage, Sütterlin zu lesen, geschweige denn zu schreiben. Jette hatte sich darin später geübt, damit sie Tante Annelieses Tagebuch auch wirklich gut lesen und verstehen konnte.
Jettes Gedächtnis setzt ein
Etwa zu der Zeit, September 1944, setzte plötzlich ihr Gedächtnis mit einem Erlebnis ein, das sicherlich der Schwere und des Schocks wegen haften geblieben war:
Jettes Mutti, Hilla, besaß ein Radio, einen Volksempfänger, mit dem sie nicht nur vaterländische Nachrichten und Marschmusik hörte, sondern auch versuchte, Nachrichten der BBC abzuhören, was zu der Zeit in Deutschland verboten war. Hilla hielt sich, wie Jette es später auch noch beschreiben wird, an keinerlei Vorschriften. Da der Empfang in dem sauerländischen Städtchen der umliegenden Berge wegen sehr schlecht war, suchte sie nach der richtigen Frequenz, bis sie etwas hörte. Das leichte Quietschen und Piepen drang an Jettes Ohr. Dann sprach der englische Nachrichtendienst. Sie verstand nichts. Aber nach dem „Psssst!“ von ihrer Mutti saß sie auch ganz still und beobachtete sie, wie sie mit intensiv ernster Miene und einem Ohr nah am Lautsprecher zuhörte. Ob sie Englisch verstand, wusste sie nicht. Ohne Zweifel fühlte sie sich in dem Haus sicher und hatte keine Angst, Verbotenes zu tun.
Doch plötzlich stand der Opa Schröder im Zimmer. Er schrie mit rotem Gesicht: „Wenn Du noch einmal diesen Sender abhörst, Hilla, dann erschieße ich Dich!“ Mit diesen Worten richtete er seine Pistole auf Jettes Mutter: „Und ich meine das im Ernst!“ Nach dem geschrienen Hitlergruß und den laut zusammengeschlagenen Hacken knallte er die Tür zu und verschwand. Jette weinte und weinte. Ihre Mutti nahm sie auf den Arm, setzte sich auf den Stuhl neben der Tür und begann, sie zu beschwichtigen, zu streicheln. Dabei wiegte sie sie in ihren Armen. Nichts konnte sie trösten!
Von dem Zeitpunkt an hatte sie unendliche Angst um ihre Mutter und auch davor, diesem schrecklichen kleinen Mann mit Schnurrbart, schwarzen Stiefeln und Pistole irgendwo im Haus zu begegnen. Das Bild von dem herumfuchtelnden und Pistole schwingenden Opa Schröder in der Situation in ihrer damaligen kleinen Welt hat sie nicht vergessen, und es immer noch vor ihrem inneren Auge!
Selbst wenn Jette heute im Fernsehen Hitler sieht, sieht sie gleichzeitig Opa Schröder. Es hätten Brüder sein können! Die Identifikation mit dem Idol Hitler ließ viele Männer zu der Zeit Frisur und Schnurrbart nachahmen.
Es dauerte lange, bis sie das gemeinsame Zimmer verließ. Nach oben, wo der schreckliche Mann wohnte, ging Jette nie wieder, so dass sie sich an die Oma Schröder so gut wie gar nicht erinnert.
Wie hat Jettes Mutter diese plötzliche Drohung auf ihr Leben verarbeitet? Sie hat sich in keiner Weise einschüchtern lassen; denn sie hörte weiterhin den britischen Sender ab! Das machte sie allerdings nun in der Nacht! Jette gab vor zu schlafen, doch ständig spitzte sie ihre Ohren, um zu hören, ob jemand die Treppe herunterkäme oder sich jemand der Zimmertür näherte.
Direkt unter dem Fenster des Zimmers, das einen wunderschönen Ausblick auf das Lennetal mit seinem sich dahin schlängelnden Fluss und dessen Damm, auf die Sportplätze, die Bahnlinie und den gegenüberliegenden Königsberg bot, rankten Weinreben, die viele kleine Trauben trugen. Sie gehörten ihnen natürlich nicht, aber zu der Zeit wusste Jette auch noch nicht, dass sie essbar waren. Sie konnte sich aber gut daran erinnern, wie ihre Mutti eines Tages in der Dämmerung das Fenster leise öffnete, sich weit hinauslehnte und etwas Grünes mit der Schere abschnitt. Sie wusch die kleinen grünen Kugeln und steckte ihrer Tochter eine davon in den Mund. Sie mochte sie nicht. Sie waren zu sauer! Aber ihre Mutti aß ein paar davon, den Rest warf sie weg.
In den nächsten Tagen erntete Opa Schröder selber die Trauben. Hatten sie ein Glück gehabt, dass sie wenigstens einige vorher probiert hatten! Sie wussten ganz genau, dass sie einfach zu sauer waren. Offensichtlich wollte er mit Jettes Mutter nach dem Zwischenfall Frieden schließen und brachte ihr und den Kleinen eine große Traube zur Versöhnung. Jette verkroch sich unterm Tisch, als er das Zimmer betrat. Sie hatte Angst um ihre Mutti, doch er trug weder Stiefel noch eine Pistole. Die Mutti nahm jedoch die Traube nicht an. Er verließ sprachlos den Raum. –
Sie für ihren Teil blieb so lange unter dem Tisch sitzen, bis der Opa Schröder oben die Tür ins Schloss fallen ließ. Sie war dreieinhalb Jahre alt.
Bis heute weiß Jette nicht, ob es der Stolz ihrer Mutter war, der sie zur Ablehnung des Geschenks veranlasst hatte, oder die Gewissheit, dass die Trauben ohnehin nicht schmeckten! Sie wollte diese Zeichen der Entschuldigung einfach nicht annehmen!