Czytaj książkę: «Das letzte Jahr», strona 2

Czcionka:

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Die Mandeln haben sie mir im vergangenen Jahr in Wien herausoperiert. In Wien ist nämlich alles besser, darum haben meine Eltern gemeint, auch die Ärzte, die Kindern die Mandeln herausoperieren, müßten dort besser sein. In Wien ist überhaupt alles größer, vornehmer und herrlicher als bei uns, und wenn es auch keinen Kaiser mehr gibt, der das alles so groß, so vornehm und so herrlich gemacht hat, etwas von der kaiserlichen Herrlichkeit ist trotzdem geblieben.

Mehrere unserer Verwandten sind deshalb als junge Leute nach Wien gezogen, sie wollten es zu etwas bringen, und manchen ist das auch gelungen. Einige haben sogar eigene Häuser oder Wohnungen mit Badezimmer und Zentralheizung und einer von ihnen hat sogar ein Auto und dazu einen Chauffeur, mit diesem Auto und mit dem Chauffeur ist er schon bei uns gewesen und hat uns besucht. Während er mit meinen Eltern im Wohnzimmer gesessen ist und sich unterhalten hat, ist der Chauffeur im Auto geblieben, und wenn ihn die Marschenka nicht herausgeholt und ihm in der Küche einen Kaffee gekocht hätte, wäre er bis zum Abend brav dort sitzengeblieben.

Das war anständig von der Marschenka, sagt meine Mutter, ihr selbst ist es vor Aufregung über den unerwarteten Besuch nicht aufgefallen, daß der arme Chauffeur im Auto geblieben ist, und sie hat deshalb nachher ein schlechtes Gewissen gehabt. In der Küche ist er dann sehr lustig gewesen und hat sich mit der Marschenka gut unterhalten.

Die Marschenka, sagt meine Mutter, ist ein guter Mensch und das ist wahr, sonst würde sie mir nicht ihre Taschenlampe borgen. Sie hilft meiner Mutter im Haushalt, weil uns die Josefka, die früher bei uns gewesen ist, wegen dem Glasermeister Platzek, den sie geheiratet hat, verlassen hat.

Auch meine ziemlich junge Tante Rosi ist nach Wien gezogen, ihre Kindheit hat sie noch in einem kleinen Haus am Rand unserer Stadt verbracht. Wenn sie in den Ferien zu ihren Eltern auf Besuch kommt, spricht sie nur noch wienerisch, unseren Dialekt hat sie komplett verlernt, Tschechisch kann sie überhaupt nicht mehr verstehen, jedenfalls tut sie so, als könnte sie es nicht. Sie trägt auch an gewöhnlichen Wochentagen Stöckelschuhe, mit denen sie, wenn es regnet, nicht über die Wasserlacken steigen kann, riecht nach Kölnischwasser und rümpft die Nase, weil wir im Klosett keine Wasserspülung haben.

In Wien ist so etwas selbstverständlich, sagt die Tante Rosi, ein Leben ohne Wasserspülung auf dem Klosett kann sie sich nicht mehr vorstellen. Sie hat zwar kein Badezimmer und keine Zentralheizung in ihrer Wiener Wohnung, aber auf dem Gang vor ihrer Wohnungstür hat sie eine Wasserleitung, sie muß das Trinkwasser nicht vom Brunnen holen. Trotzdem kommt sie, vor allem im Sommer, gern wieder her. Zur Kirschenzeit holt sie sich Kirschen, später dann Marillen und Pfirsiche, im Herbst die blauen Zwetschken oder ein Glas von dem Powidl, den ihre Mutter im großen Kessel der Waschküche kocht und der zur Füllung von Backwaren aus Germteig, zum Beispiel von Buchteln, aber auch für Powidltascherin unbedingt notwendig ist. Sie schwärmt von ihrem Wiener Trinkwasser und sagt, eigentlich müßte man unser Wasser abkochen, ehe man es trinkt, auch wenn es aus dem Brunnen am unteren Stadtplatz kommt. In unserem Wasser, sagt die Tante Rosi, sind sicher unheimlich viele Bazillen, von denen man krank werden kann. Das haben wir ihr ziemlich übel genommen.

Du bist ja von unserem Wasser auch nicht krank geworden, hat meine Mutter gesagt, und deine Mutter hat es ganz sicher nicht abgekocht. Die Tante Rosi hat aber gemeint, daß sie nur deshalb nicht krank geworden ist, weil ihr Körper sich schon an die Bazillen gewöhnt hat. Und Glück, hat sie gesagt, ist sicherlich auch dabei gewesen. Meine Mutter hat ihr darauf keine Antwort mehr gegeben, aber später hat sie die Geschichte meinem Vater erzählt und die Tante Rosi eine dumme Urschel genannt.

Wien ist die Hauptstadt von Österreich und für uns wird das auch so bleiben, sagt mein Vater, auch wenn Österreich jetzt »Ostmark« heißt. Es sind dort nämlich im März die deutschen Soldaten vom Hitler einmarschiert und der Hitler hat gleich darauf den Namen geändert.

Die Ostmark gehört jetzt zum Deutschen Reich, das frühere Deutsche Reich wird von den früheren Österreichern, die jetzt Ostmärker geworden sind, aber auch von vielen Leuten in unserer Gegend, das Altreich genannt. Im Altreich, sagen jetzt manche Leute, soll alles besser und schöner sein als bei uns, die Leute verdienen viel Geld und können sich alles kaufen, was sie sich wünschen, und das ist so, weil der Hitler alles verändert hat. Arbeitslose, wie sie in manchen Gegenden massenhaft vorkommen, gibt es dort nicht mehr. Bei uns sind sie ohnedies selten, weil die meisten Leute auf den Feldern arbeiten, sagt mein Vater, und weil auch die ärmsten Leute ein kleines Stück Feld haben, wo sie ihre Erdäpfel und ihr Gemüse anbauen können. Schlimm soll es vor allem dort sein, wo nicht viel wächst und wo viele Fabriken sind. Dort, sagt mein Vater, glauben sehr viele Leute alles, was man ihnen von diesem Hitler erzählt.

Über das alles ist geredet worden, wie die Leute im vergangenen Herbst wie in jedem Jahr zusammengekommen sind, um die Blätter von den gelben oder roten Kukuruzkolben abzureißen, oder später im Winter beim Federnschleißen. Da liegen die Gänsefedern in Haufen auf den Küchentischen und die Frauen ziehen von den Kielen den weichen Flaum ab, womit man die Kopfpolster und Tuchenten füllt. Dabei wird besonders spannend erzählt und besonders ausführlich berichtet, es wird auch, weil es draußen so kalt ist, viel Glühwein getrunken und die Stimmung ist gut. Beim Lachen muß man sich allerdings sehr beherrschen, und wir Kinder müssen ganz still dabei sitzen, weil sonst, durch die Luftbewegung, die Federn in der ganzen Küche herumfliegen.

Bei solchen Gelegenheiten werden auch interessante Geschichten erzählt, meistens Liebesgeschichten, von denen wir Kinder leider immer nur den Anfang zu hören bekommen, denn während sie erzählt werden, fällt regelmäßig jemandem ein, daß es schon spät ist und daß wir schlafen gehen müssen, und dann werden wir ins Bett geschickt.

Mich könnten sie ruhig zuhören lassen, weil die Marschenka mir schon sehr viele aufregende Liebesgeschichten erzählt hat, die sie aus ihren Romanen kennt. Die meisten haben ein glückliches Ende, aber manche gehen unglücklich aus und ich muß dann, ehe ich einschlafe, lang über sie nachdenken. Solche Geschichten, sagt die Marschenka, sind zwar erfunden, aber sie kommen genau so auch im wirklichen Leben vor.

Wenn man nichts liest, sagt die Marschenka, weiß man nichts von der Welt. Darin muß ich ihr wirklich rechtgeben, wenn ich den »Schatz im Silbersee« nicht gelesen hätte, wüßte ich nichts über Amerika und die Indianer.

Auch das Radfahren hat mir die Marschenka beigebracht. Geduldig ist sie neben mir hergetrabt und hat mein Fahrrad am Sattel festgehalten, bis ich imstande gewesen bin, selbst das Gleichgewicht zu halten, und ihr davongefahren bin. Beim erstenmal ist das nicht sehr gut ausgegangen, weil ich zwar schon gewußt habe, wie man das Gleichgewicht auf dem Fahrrad hält, aber nicht, wie man stehenbleibt und absteigt, wenn das plötzlich notwendig ist.

Damals sind mir auf der Straße mehrere Fußgänger entgegengekommen, die mich für eine bessere Radfahrerin gehalten haben, als ich zu diesem Zeitpunkt gewesen bin, deshalb sind sie mir auch nicht ausgewichen, weil sie gedacht haben, daß ich ihnen ausweichen oder stehenbleiben und vom Rad steigen würde. Ich habe aber in meinem Schreck auf den Rücktritt vergessen und mit der Handbremse zu scharf gebremst, bin der Länge nach auf die Straße gestürzt und habe mir beide Knie und auch beide Ellbogen blutig geschlagen. Meine Mutter hat mir Jodtinktur draufgegeben, es hat entsetzlich gebrannt, aber sie hat gemeint, ich soll mich nicht so aufspielen, das werden die besten Ellbogen und die besten Knie.

Bis du heiratest, ist das alles gut, hat meine Mutter gesagt. Weil ich sie nicht unnötig aufregen wollte, habe ich ihr nicht geantwortet, daß ich ja gar nicht heiraten will.

Ich bin später noch ein paarmal ganz schön hingeflogen, dann aber sind die Stürze seltener geworden und schließlich haben sie aufgehört. Jetzt kann ich nicht nur sehr schnell fahren und entgegenkommenden Leuten ausweichen, ich kann sogar freihändig fahren oder, wenn ich dazu Lust habe, besonders kräftig in die Pedale treten, damit Schwung holen und dann die ausgestreckten Beine rechts und links von der Lenkstange an den vorderen Kotflügel lehnen. Vielleicht kann ich meine Beine, wenn sie erst einmal länger geworden sind, sogar auf die Lenkstange legen und überhaupt mit der Zeit noch ein paar besondere Kunststücke lernen, etwa einen Kopfstand auf dem Sattel machen und dabei mit Bällen oder glitzernden Kugeln jonglieren oder Mundharmonika spielen und ähnliche Sachen. Damit könnte ich dann im Zirkus auftreten und dort das Geld verdienen, das ich zum Leben brauche. Diese Möglichkeit stelle ich mir jedenfalls vor.

Daß meine Wiener Tante Hannelore Zirkuskünstlerin geworden ist, habe ich übrigens nur durch Zufall erfahren, meine Eltern haben mir nichts davon erzählt. Über meinen Plan, mich vielleicht für denselben Beruf zu entscheiden, sage ich aber nichts zu meiner Mutter, weil sie von meiner Zukunft wahrscheinlich andere Vorstellungen hat, wenn sie auch bis jetzt noch nie gesagt hat, daß ich vielleicht Handarbeitslehrerin oder Sparkassenbeamtin werden soll.

Weil die Marschenka Heimweh nach Tarowitschky hat, sind wir, wie sie mir das Radfahren in den Grundbegriffen beigebracht hat, immer auf derselben Straße und immer in dieselbe Richtung gelaufen. Ich habe das Radfahren und nach mehreren Stürzen auch das Stehenbleiben und Absteigen, nebenbei aber auch viele tschechische Wörter und auch ganze Sätze auf der Landstraße nach Tarowitschky erlernt. Manche dieser Sätze haben mir meine Eltern aber, wenn ich sie beim Mittagessen gesagt habe, leider wieder verboten.

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Eine meiner zwei besten Freundinnen ist die Alenka. Wir sind viel zusammen und sie sitzt in der Schule neben mir.

Wenn die Marschenka und ich mit dem Fahrrad in Richtung Tarowitschky unterwegs sind, kommen wir immer an dem Haus vorbei, in dem die Alenka mit ihren Eltern und Geschwistern wohnt. Gleich nebenan ist das Deutsche Haus, in dem die Deutsch sprechenden Bewohner unserer Stadt ihre Feste feiern. Dort gibt es auch einen Gastbetrieb, wo sich die deutschen Familien an den Sonntagnachmittagen treffen. Die Damen haben sich dafür besonders schön gemacht, sind beim Friseur gewesen und haben sich die Lippen geschminkt, sie besprechen die neuesten Nachrichten und die Herren rauchen Zigarren und spielen das schwierige Kartenspiel Tarock.

Der Narodný dum, in dem sich die Tschechen treffen, liegt in einer anderen Straße. Ob dort auch Karten gespielt und Geschichten erzählt werden, weiß ich nicht.

Mein Vetter Albert wohnt in der Nähe des Deutschen Hauses. Sein Vater ist Hutmacher, das ist ein gutes Geschäft und er ist, weil er so schöne Männerhüte macht, ziemlich angesehen, denn für Männer gehört der Hut bei uns unbedingt zur kompletten Bekleidung. Vor gar nicht langer Zeit sind zu bestimmten feierlichen Gelegenheiten, vor allem natürlich in Wien, angeblich sogar noch Zylinder getragen worden.

Auch für Damen gehört es zum guten Ton, sich bei festlichen Anlässen mit Hüten zu schmücken, für jedes Fronleichnamsfest braucht man zum Beispiel unbedingt eine neue, modische Kopfbedeckung. Diese Hüte fertigen mehrere Modistinnen nach der jeweiligen neuesten Mode und nach den speziellen Wünschen ihrer Kundinnen an, oder sie formen einen schon einmal bei einem entsprechenden Anlaß getragenen Hut nach der neuesten Mode um.

Die Hüte für meine Mutter macht eine tschechische Modistin, die Frau Kabelka, die ein paar Gassen weiter ihre Werkstatt hat.

Im vergangenen Winter bin ich übrigens bei einem Elternabend im Deutschen Haus erfolgreich in einem Theaterstück aufgetreten. Ich habe einen Rauchfangkehrer gespielt, der eine Bäckerin trifft, und wie ich der Bäckerin mit dem Ofenruß, den ich vorher auf meine Hände gestrichen hatte, die weiße Schürze schwarz gemacht habe, haben alle Leute im Saal, vor allem meine Verwandten, sehr gelacht. Ich habe kurze Zeit daran gedacht, daß ich vielleicht Schauspielerin werden und zum Theater gehen könnte, dann aber ist mir die Idee mit dem Zirkus doch lustiger vorgekommen.

Weil Rauchfangkehrer früher angeblich Zylinder getragen haben, hat mir mein Großvater zu diesem Anlaß seinen geliehen und hat ihn mir vor Begeisterung über meinen Theatererfolg sogar schenken wollen. Es ist ein zusammenlegbarer Zylinder, er läßt sich zu einer Scheibe zusammenschieben und man kann ihn, wenn man ihn nicht auf dem Kopf tragen will, in die Tasche stecken. Einen Schapoklack, sagt er, nennt man das, das ist ein französisches Wort, denn die Franzosen haben diese praktische Kopfbedeckung erfunden. Weil mir der Schapoklack zu groß gewesen ist, hat man an der Innenseite einen zusammengerollten Papierstreifen eingelegt, damit ist es dann ganz gut gegangen.

Ich habe dieses Geschenk meines Großvaters nicht annehmen wollen, weil ich nicht weiß, was ich, wenn ich nicht gerade Theater spiele, damit anfangen soll. Darüber ist mein Großvater zornig geworden und hat den Zylinder über das Geländer der Brücke, über die wir gerade gegangen sind, in den Bach werfen wollen, da habe ich ihm den Schapoklack rasch aus der Hand genommen und mich herzlich dafür bedankt.

Mein Großvater kann auch bei anderen Gelegenheiten sehr zornig werden, gleich darauf aber ist er wieder ganz sanft und gut. Das hat er, sagt meine Großmutter, von seinem eigenen Großvater geerbt, von meinem eigenen Ururgroßvater also, der soll, heißt es, leicht in Zorn geraten sein, wenn ihn etwas geärgert hat. Er war Gastwirt in dem Dorf Niemtschitz, oder wie die Tschechen sagen Njemtschice, das liegt in der Nähe der mährischen Hauptstadt Brünn.

Vielleicht ist mein Ururgroßvater ein Tscheche gewesen, weil in Niemtschitz viele Tschechen wohnen, das aber wissen wir nicht und denken auch nicht darüber nach. Über die Ururgroßväter macht man sich bei uns wirklich keine besonderen Gedanken, es ist uns ziemlich egal, ob sie deutsch oder tschechisch gewesen sind. Warum soll das auch wichtig sein? Mein Onkel Franz und seine Frau, die Tante Frieda zum Beispiel, die schräg gegenüber wohnen, sind deutsch, obwohl in ihrem Familiennamen über das r am Schluß ein Hatschek gesetzt werden muß, wie das sonst nur im Tschechischen üblich ist. Vielleicht haben sie diesen Hatschek auch von einem Ururgroßvater geerbt, der dann irgendwann einmal zum Deutschen geworden ist.

Dafür interessiert sich niemand, und es geht ja auch niemanden etwas an. Manchmal, sagt mein Vater, hat sich ein Pfarrer bei der Eintragung eines neu geborenen Kindes einfach geirrt und den Namen des Täuflings falsch geschrieben, und weil man die mit Tinte geschriebenen Eintragungen in den Taufbüchern nicht ausradieren kann, ist es dann einfach bei der falschen Schreibweise geblieben.

Manchmal soll diese falsche Schreibweise allerdings auch absichtlich geschehen sein, damit es in unserer Gegend mehr Tschechen und weniger Deutsche gibt, das behaupten neuerdings manche Leute. Jedenfalls haben manche Deutsche auf diese Weise angeblich über einem Konsonanten in ihrem Namen einen Hatschek bekommen.

In letzter Zeit lassen allerdings manche Leute, die einen Hatschek in ihrem Namen haben, diesen beim Schreiben absichtlich weg. Mein Onkel Franz und die Tante Frieda haben den ihren jedoch bisher behalten, weil man nur so ihren Namen richtig aussprechen kann.

Namen bedeuten aber ohnedies beinahe gar nichts in unserer kleinen Stadt. Die Tschechen haben nicht selten deutsche Namen wie Müller oder Schmid und die Deutschen heißen Wessely, wie unser Herr Oberlehrer, Ostrtschil oder Nevadla oder Pelinka. Mir ist es gleichgültig, ob einer einen Hatschek in seinem Namen hat oder nicht, wenn ich nach Amerika gehe, muß ich mich ohnedies vollständig umstellen und die Indianersprache erlernen, vor allem die der Apachen, die mir besonders sympathisch sind, und dazu vielleicht auch die der Sioux, damit ich die ewigen Streitereien, die sie mit den Apachen haben, schlichten kann. Vielleicht haben die Indianer auch Hatscheks in ihren Namen oder vielleicht andere schwierige Zeichen, im »Schatz im Silbersee« habe ich nichts darüber gelesen.

In unserer Stadt kann jeder Deutsche etwas Tschechisch, jedenfalls so viel, daß er sich verständigen kann, und beinahe jeder Tscheche kann auch ganz gut Deutsch. Es kommt vor, daß ein Deutscher eine Tschechin heiratet oder umgekehrt, und selbstverständlich spielen die deutschen und die tschechischen Kinder zusammen, vor allem, wenn sie in derselben Gasse wohnen. Genauso ist es, wenn die Buben einer bestimmten Gasse mit den Buben einer anderen Gasse raufen, was erwähnt werden muß, weil es oft vorkommt. Die Gasse, in der ein Bub wohnt, ist viel wichtiger als die Sprache, da helfen alle zusammen, es ist dabei ganz egal, ob einer deutsch oder tschechisch ist.

Natürlich gibt es auch unter den Erwachsenen Streitereien, aber die haben auch meistens nichts mit der Sprache zu tun und so etwas kommt ja auch in anderen Gegenden vor, in denen nur eine einzige Sprache gesprochen wird.

In unserer Stadt ist es also anders als in den Dörfern, in denen nur Deutsche oder nur Tschechen wohnen, und ähnlich soll es zum Beispiel in Pohrlitz sein, das bei den Tschechen Pohorschelice heißt. Das sagt jedenfalls die Marschenka. In Pohorschelice, sagt sie, sind aber nicht wie bei uns mehr Deutsche als Tschechen, sondern mehr Tschechen als Deutsche. Sie weiß das, denn sie hat dort Verwandte.

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Schräg gegenüber in unserer Gasse ist das Lebensmittelgeschäft der kleinen Frau Hirsch, wo unsere Josefka, bis zum Zeitpunkt ihrer Verheiratung jedenfalls, neben anderen für die Küche notwendigen Sachen täglich auch fünf Deka frisch vom Bein geschnittenen Schinken gekauft hat, weil ihn mein Vater zum Gabelfrühstück gerne ißt. Ehe die Josefka uns wegen ihrer Verheiratung verlassen hat, hat sie der Marschenka, die seither bei uns angestellt ist, eingeschärft, diese Gewohnheit beizubehalten. Der Schinken, den man bei der Frau Hirsch bekommt, hat sie gesagt, ist der beste Schinken in der Stadt und mein Vater muß schließlich schwer arbeiten und verdient es, zum Gabelfrühstück den besten Schinken zu bekommen.

Die Marschenka befolgt diese Anweisung gewissenhaft, sie geht mit dem in Butterpapier eingewickelten Schinken dann auch noch hinüber zum Bäcker Plicha, bei dem sie eine frisch gebackene Semmel kauft.

Der Herr Plicha ist ein Deutscher, auch die kleine Frau Hirsch ist eine Deutsche, wenn sie auch Jüdin ist.

Auch meine andere beste Freundin ist jüdisch, sie geht aber in die neue Schule, die für die tschechischen Kinder gebaut worden ist, obwohl ihre Eltern eigentlich Deutsche sind. Ihr Vater will, daß sie ordentlich Tschechisch lernt, Deutsch, sagt er, lernt sie daheim sowieso.

Mit der Lilli verstehe ich mich genauso gut wie mit der Alenka. Leider darf sie Verschiedenes nicht, was die Alenka darf, weil ihre Eltern sehr auf sie aufpassen, aber ich darf ja auch nicht alles. Zum Beispiel soll ich zu Ostern nur bei den nahen Verwandten um Eier bitten und nicht wie andere Kinder von Haus zu Haus gehen, und die Lilli soll es schon gar nicht, weil das nicht in ihre Religion paßt. Heuer hat sie aber etwas mehr Freiheit gehabt, weil ihr Kinderfräulein, die Sletschno, über die Feiertage Urlaub genommen hat.

Wir haben ganz schön viele Eier zusammenbekommen, nachher sind wir auf einer Bank in der Bahnhofsallee gesessen und haben sie gezählt, die zerdrückten haben wir gleich aufgegessen. Lilli hat mir dazu etwas von ihren Mazzes geschenkt, die die Juden zu Ostern essen, und ich habe ihr dafür zwei Eier mehr gegeben. Die Geldstücke, die uns die Leute geschenkt haben, haben wir redlich geteilt.

Die Lilli hat dann leider Hausarrest bekommen, weil das Ostereiersammeln nicht in ihre Religion gehört, und ich habe drei Seiten aus meinem Heimatkundeheft abschreiben müssen, weil ich sie dazu verleitet habe, das hat uns aber nicht viel ausgemacht.

In der neuen tschechischen Schule, in welche die Lilli geht, gibt es eine Zentralheizung und lackierte Parkettfußböden und die Schulkinder sehen aus ihren Klassenzimmern durch große Fenster in die Felder hinaus. Ich gehe in die deutsche Schule, die in einem großen alten Kasten aus der Kaiserzeit untergebracht ist, der Fußboden in meinem Klassenzimmer ist mit Stauböl eingelassen und in der Ecke steht ein eiserner Ofen, der im Winter vom Herrn Vychodil, dem Schuldiener, täglich geheizt wird. Natürlich würden die deutschen Kinder auch gern in eine so schöne neue Schule gehen wie die Lilli, vor allem wegen des schönen Turnsaals, den sie dort haben, mein Vater meint aber, daß man in unserer alten Schule ebensogut lernen und in unserem Turnsaal ebensogut turnen kann.

Zum Beispiel, sagt meine Mutter, habt ihr dort einen Rundlauf, den haben die tschechischen Kinder nicht.

Der Rundlauf ist ein Turngerät, an dem man im Kreis durch die Luft fliegen kann, was angeblich sehr gut für den Rücken ist. Meine Mutter hält es für ausgeschlossen, ihn an der Turnsaaldecke der neuen tschechischen Schule anzubringen, weil die sicher nicht hoch und auch nicht fest genug, also dazu gar nicht geeignet ist.

Schon der Rundlauf, sagt meine Mutter, ist ein Grund, sich nicht unbedingt eine neue Schule und einen neuen Turnsaal zu wünschen.

Es wird sich sowieso nicht vermeiden lassen, daß auch für die deutschen Kinder eines Tages eine neue Schule gebaut wird, sagt mein Vater, schon wegen der Gleichberechtigung, die den Deutschen in der Tschechoslowakei ja versprochen worden ist, und weil es bei uns mehr deutsche als tschechische Kinder gibt. Dann aber werde ich wahrscheinlich schon erwachsen sein und längst in Amerika bei den Indianern leben.

Um meinen Vater nicht unnötig aufzuregen, sage ich das aber nicht laut, sondern denke es nur im Stillen.

Wir müssen nur Geduld haben, sagt der Vater, alles braucht seine Zeit. Er meint damit uns Deutsche, denen man bis jetzt zum Beispiel noch keine neuen Schulen gebaut hat und die, wie meine Tante Wetti sagt, überhaupt im ganzen Land nur die zweite Geige spielen. Ähnliches habe ich in letzter Zeit auch von anderen Leuten gehört.

Für das neue tschechische Gymnasium gibt es ohnedies zu wenige Schüler, deshalb gehen auch einige Kinder aus deutschen Familien dorthin, diese Kinder sind aber nicht aus Familien unserer Stadt.

Meine Freundin Alenka sitzt also in der alten deutschen Volksschule neben mir, obwohl bei ihr zu Hause meistens Tschechisch gesprochen wird, aber ihr Vater will, daß sie nicht nur Deutsch sprechen kann, sondern auch richtig schreiben lernt. Angeblich ist er eigentlich ein Deutscher, nur Alenkas Mutter soll eine Tschechin sein, obwohl sie genauso gut Deutsch kann wie die Leute, von denen man sicher weiß, daß sie Deutsche sind.

Ich frage aber nicht, ob die Lilli oder die Alenka deutsche oder tschechische Kinder sind, und sie fragen mich nicht, ob ich eine Tschechin oder eine Deutsche oder vielleicht eine Chinesin bin. Miteinander sprechen wir Deutsch.

Die Lilli spricht mit der Sletschno auch meistens nur Deutsch, obwohl sie mit ihr Tschechisch sprechen soll, damit sie es besser lernt und sich in ihrer Schule nicht so sehr anstrengen muß. Die Sletschno kann sehr gut Tschechisch, aber doch wieder nicht so perfekt, daß sie es ständig sprechen will.

Die Sletschno ist natürlich nicht für die Lilli angestellt worden, weil zehnjährige Mädchen ja kein Kinderfräulein brauchen. Aber die Lilli hat einen ganz kleinen Bruder, der täglich im Kinderwagen spazieren gefahren werden muß, damit er genug frische Luft bekommt. Die Lilli muß mitgehen, weil auch sie viel frische Luft atmen soll, obwohl sie die auch auf andere und viel lustigere Weise bekommen könnte.

Weil ihr bei diesen Spaziergängen sonst schrecklich langweilig sein würde, gehe ich manchmal mit.

Darmowy fragment się skończył.

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